Er lebt seine Überzeugungen: Biolebensmittel, soziales Unternehmertum, Verantwortung als Mensch – und gehört zu den wichtigsten Produzenten und Händlern von Bio-Produkten. Alnatura-Gründer Götz Rehn erklärt seinen Erfolg.
Herr Rehn, wie kamen Sie 1984 darauf, nach ökologischen Gesichtspunkten Lebensmittel und Textilien zu produzieren?
Das hängt mit meiner Biografie zusammen. Ich bin 1950 in Freiburg im Breisgau geboren. Ich war sehr viel in der Natur und hatte zudem das Glück, auf eine Waldorfschule zu gehen – für mich waren das paradiesische Zustände. Mit 12 Jahren kam ich nach Bochum ins Ruhrgebiet, trotz der geschlossenen Zechen war noch viel Schmutz überall. Es gab eine hohe Arbeitslosigkeit, viele unglückliche Gesichter und eine starke NPD. Dieser radikale Wechsel zu meinem früheren Leben in Freiburg hat mich sehr bewegt und geprägt.
Inwiefern hat Sie die Waldorf-Pädagogik geprägt?
Die Waldorfschule in Bochum-Langendrea hat vieles anders gemacht. Ich habe zum Beispiel Praktika in einer Kokillengießerei und der Landwirtschaft gemacht und fast eine komplette Schreinerlehre absolviert. Philosophie-Unterricht hat ebenfalls eine große Rolle gespielt. Ich habe dort sehr viel kennengelernt und ausprobieren können.
Für welchen Weg haben Sie sich nach der Schule entschieden?
Ich hatte einen Medizin-Studienplatz in Freiburg, denn ich komme aus einer Chirurgen-Familie. Aber ich habe mich auch für Grafik interessiert, wollte jedoch keine Werbung für Produkte machen, die ich nicht unterstütze. Als ich die Hydraulikfabrik Rexroth in Lohr am Main kennenlernen durfte, die heute zu Bosch gehört, habe ich den Eindruck gewonnen, dass man Wirtschaft so gestalten kann, dass es den Menschen gut geht und das Umfeld bewahrt wird. Also wollte ich - etwas plakativ formuliert - „Arzt im Wirtschaftsleben“ werden.
Das bedeutet konkret?
Ich möchte mit denjenigen Menschen, mit denen ich mich in einer Art Sinngemeinschaft befinde, etwas in unserer Gesellschaft aufbauen. Ein Modell eines Unternehmens, das einerseits den Menschen in den Mittelpunkt stellt und anderseits Rücksicht auf die Erde nimmt.
Verträgt sich damit Ihr Berufseinstieg bei einem Konzern wie Nestlé?
Ich habe in Freiburg Volkswirtschaft studiert und über Organisationsentwicklung promoviert. Das war damals neu, Betriebswirtschaft mit Soziologie und Psychologie zu verknüpfen, also nicht nur darauf zu achten, wie man einen sozialen Organismus so gestaltet, dass er effizient ist und den größtmöglichen Ertrag abwirft, sondern wie er gestaltet sein sollte, dass Menschen dort gerne arbeiten, aus eigener Motivation tätig sind und eine Beziehung zum Inhalt der Arbeit entwickeln können. Daraus habe ich ein Modell entwickelt und Vorträge gehalten. Nach einem Vortrag beim Gottlieb-Duttweiler-Institut sprach mich ein Herr von Nestlé an und wies mich darauf hin, dass der damalige Nestlé-Deutschlandchef Helmut Maucher Trainees suche. Die fünf Jahre dort waren eine spannende und lehrreiche Zeit.
Wann kamen Sie auf die Idee zu dem etwas anderen Unternehmen Alnatura?
Ich beschäftige mich seit meinem 21. Lebensjahr mit der Anthroposophie. Aus diesem Impuls ist die Idee entstanden, ein Unternehmen anders zu gestalten und später den neuen Studiengang 'Wirtschaft neu denken' an der Alanus Hochschule sowie das Institut für Sozialorganik aufzubauen. Zunächst haben Sie Lebensmittel produziert, dann Geschäfte eröffnet. Wieso diese Reihenfolge?
Meine Idee war von Anfang an, mit Läden zu beginnen. Ein entsprechendes Ladenkonzept hatte ich bereits entwickelt. Als ich bei Nestlé gekündigt hatte, stellte ich jedoch fest, dass dies gar nicht so umgesetzt werden kann, weil es viel zu wenig biologische Sortimente gab. Die Produktauswahl war zu klein, die Qualität zu schlecht, die Preise zu hoch. Das wäre ein Flop geworden. So stand ich vor der Entscheidung, entweder meinen Plan zu verwerfen und wieder in irgendein Unternehmen zu gehen oder aber einen Umweg zu machen.
Warum wählten Sie den unsicheren Umweg?
Schicksalhaft war mein Austausch mit Götz Werner von dm Drogeriemarkt und Wolfgang Gutberlet von tegut. Sie fanden meine Idee interessant, ein Unternehmen sozialorganisch zu gestalten. Dass es um Bio-Produkte gehen würde, stand zu diesem Zeitpunkt noch nicht fest. Ich suchte einen Gegenstand, der Sinn ergibt und so kam ich auf biologisch erzeugte Lebensmittel. Ich durfte also meine Produkte bei dm Drogeriemarkt und tegut testweise ausprobieren, und so begann meine Idee Alnatura Gestalt anzunehmen, mit der Marke, der Verpackung und den ersten Produkten.
Würden Sie es wieder so machen?
Ja. Auch wenn aus heutiger Sicht nichts für den Erfolg sprach, spricht es für die beiden Unternehmer, dass sie diesen Weg mitgegangen sind. Und zwar mit viel Engagement: Kein Produkt von Alnatura kam damals in einen Laden, wenn nicht mindestens einer der dortigen Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter eine dreitägige Schulung mitgemacht hat.

Mir war schon vor 35 Jahren klar, dass nur beim Einkauf in unseren eigenen Läden die Alnatura Idee authentisch und für die Kundinnen und Kunden erlebbar werden kann. Sonst stünden unsere Produkte einfach nur bei einem Handelspartner im Laden.
Wie waren die Anfangszeiten als Händler?
Die Läden waren eine Riesenherausforderung. Vor allem finanziell, ich hatte keine Mittel, sondern habe mit persönlichen Bürgschaften und einer großzügigen Bank, der ich bis heute treu bin, nämlich der Sparkasse Fulda, diese Herausforderung gestemmt. Andere Banken hatten mir die finanzielle Unterstützung versagt, unter anderem mit der Begründung, Alnatura würde nie gelingen und sie würden mich vor solch einer schwierigen Lage schützen wollen.
Wieso wollten Sie sich dennoch in die schwierige Lage bringen?
Ich war überzeugt von meiner Idee und nahm 600.000 D-Mark ohne Sicherheiten auf für den ersten Laden. Das Konzept musste also von der ersten Stunde an funktionieren, ich konnte nicht erst mal zwei Jahre schauen, was passiert. Ich hatte viel Unterstützung von Freunden. Nachts haben wir die Regale aufgefüllt, tagsüber haben wir verkauft, das war sehr sparsam organisiert. Ich brauchte beim Umsatz ein gewisses Volumen und es gab zu wenig gute Produkte. Deshalb haben wir sehr viele unverpackte Lebensmittel verkauft und als einer der ersten Händler damals im großen Stil Obst und Gemüse mit kalten Wasserdämpfen besprüht, damit es sich länger hält. Alnatura war seiner Zeit weit voraus und haben dadurch das Interesse der Kunden geweckt, die bis zu 100 Kilometer weit gefahren sind, um bei Alnatura einzukaufen.
Im Osten Deutschlands waren Sie lange zögerlich, warum?
Als Händler sollte man immer dahin gehen, wo die Kunden sich die Geschäfte wünschen. Natürlich muss man auch darauf schauen, wo der größte Bedarf ist. Das hat außerdem noch den Vorteil, dass dort, wo die Nachfrage groß ist, es auch viele Biohöfe gibt, so dass wir viel mit regionaler Ware arbeiten können. Zudem muss man die logistischen Herausforderungen meistern. Wir brauchen aber keine Hektik, Alnatura hat Ende des Jahres rund 130 Märkte, das ist nicht viel im großen Deutschland.
Wie läuft Ihr Onlineshop?
Wie bei vielen anderen läuft noch ein geringer Anteil des Umsatzes über das Internet. Ich bin überzeugt, dass die Art wie wir aktuell das Onlinegeschäft betreiben, nämlich Trockensortimente von einem Zentrallager in die Welt zu schicken, nicht das Ende, sondern der Anfang dessen ist, was wir brauchen um in Zukunft Kunden zu gewinnen.
Welche Rolle haben Sie als Chef der Arbeitsgemeinschaft Alnatura?
Ich versuche mitzuhelfen, dass Menschen eigenständig und eigenverantwortlich handeln und verstehe mich als jemanden, der in Krisenfällen präsent ist, aber die Steuerung des Unternehmens gerne auf allen Ebenen denjenigen überlässt, die das schon können und auch gerne machen. Unser Erfolg besteht darin, dass wir in vielen kleinen Einheiten beweglich und schnell neue Projekte umsetzen und neue Produkte auf den Markt bringen.
Sie haben mit der Produktion von Getreide angefangen. Wie sieht Ihre Produktstrategie heute aus?
Wir bringen jährlich zwischen 50 und 70 Neuprodukte auf den Markt. Auch die Edeka-Kaufleute loben immer wieder, dass diese den Nerv treffen und guten Umsatz machen. Obwohl sie sich manchmal wundern, warum wir Linsensnacks oder Dinkel-Kokos-Kekse produzieren. Wir haben viele Produkte, die man nur bei Alnatura bekommt, und dieses Alleinstellungsmerkmal ist wichtig als Marke, um attraktiv zu bleiben.
Wie hat sich der Konsum in Hinblick auf die Ökologie verändert?
Er ändert sich sehr langsam, da wir Menschen Weltmeister im Verdrängen sind. Wir kennen die Situation der Welt und wissen, dass unser Verhalten die Erde bald in einen Zustand gebracht haben wird, der das Leben nicht angenehm macht. Und trotzdem kommt die Bio-Bewegung kaum voran. Wir müssen den Verbrauchern klarmachen, dass mit dem Kauf von Bio-Lebensmitteln zum Beispiel das Grundwasser sauber bleibt, die Böden besser werden und die Luft in Ordnung ist. Und dass wir auf die Insektenvielfalt angewiesen sind. Wir haben in den vergangenen 40 Jahren im Schnitt 75 Prozent der Kleingetiere verloren, die für die Landwirtschaft überlebenswichtig sind. Es hat sich was verändert, das Interesse ist da, aber die Not wird noch nicht erkannt, weil es draußen noch grün ist und sich scheinbar nichts verändert hat.
Wie stellen Sie die Versorgung mit Bio-Produkten sicher?
Indem wir seit langem mit unseren Partnern zusammenarbeiten und viel in den Regionen beschaffen. Wenn bei Alnatura Kekse produziert werden, sind die Felder der Bio-Bauern idealerweise um diesen Betrieb herum. Bei den Molkereien sind die Bio-Höfe nah um diese Molkerei herum. Wir besprechen miteinander, welche Flächen in den kommenden Jahren umgestellt werden. Das ist ein organischer Prozess, das ist unsere Philosophie.
Und das reicht aus?
Hier und da nicht, daher haben wir vor dreieinhalb Jahren die Alnatura-Biobauern-Initiative, kurz ABBI, ins Leben gerufen und zusammen mit dem Naturschutzbund Nabu immerhin erreicht, dass bereits rund 10.000 Hektar Fläche umgestellt sind oder werden. Es gibt immer mal einen Engpass, das hängt mit den Ernten zusammen, aber im Prinzip ist das bei uns kein Thema. Wir kaufen nicht am Spotmarkt ein, sondern haben langjährige Beziehungen und kennen viele Partner.

Viele Kundinnen und Kunden haben sich sehr positiv geäußert, aber es gibt natürlich auch einige, die das Flugblatt vermisst haben. Für diese können wir es in den Filialen dann auf Wunsch ausdrucken oder Ihnen zeigen, wo sie die aktuellen Angebote finden. Wir haben von Anfang an nie Plakate in den Filialen aufgehängt, sondern alles auf Kreidetafeln geschrieben. Es ist unverantwortlich wie viele Wälder abgeholzt werden müssen, damit Händler Prospekte in die Briefkästen stecken können, die viele Konsumenten gar nicht lesen. Unsere Preise sind relativ stabil und der Kunde fühlt sich fair behandelt. Die Menschen essen ja nicht mehr, weil es Aktionspreise gibt. Das ist ein Mechanismus, dass der eine Händler den anderen beim Preis unterbietet, aber in Summe wird er dadurch nicht so viel mehr verkaufen.
Wie finden Sie die richtigen Mitarbeiter?
Auf unterschiedlichen Wegen, zum Beispiel auch durch Mundpropaganda. Wir haben zunehmend mehr Initiativbewerbungen. Es gibt immer mehr Menschen, die auf der Suche nach einer sinnvollen Beschäftigung sind. Gerade viele jüngere Menschen, für die Idealismus eine große Rolle spielt, kommen zu uns. Man kommt sich hier manchmal ein bisschen vor wie auf der Uni.
Gibt es Regionen, wo sich die Personalsuche schwieriger gestaltet?
In München ist es aktuell nicht einfach, aber im Großen und Ganzen ist es kein Problem.

Sie haben Alnatura erfolgreich umstrukturiert und die Auslistung bei ihrem größten Handelspartner dm Drogeriemarkt wirtschaftlich „verdaut“ und wachsen weiter. Aber was hat das mit Ihnen vor drei Jahren als Unternehmer gemacht, der für so viele Menschen verantwortlich ist?
Zunächst konnten wir es nicht glauben, deshalb haben viele Gespräche stattgefunden. Viele Menschen haben sich bemüht, die Situation aufzuklären und in Ordnung zu bringen. Dann trat die Erkenntnis ein, dass es keine Chance gibt. Als Unternehmer musste ich dann gründlich überlegen, wie es weitergehen kann und wo die Chancen liegen, die es in jeder Situation gibt, und wie wir diese möglichst schnell erreichen können. Es war eine große Hilfe, dass wir schnell mit Handelsunternehmen ins Gespräch gekommen sind, die uns geholfen haben, diese sehr herausfordernde Situation in den Griff zu bekommen. Ebenso wie unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, mit denen wir gemeinsam durch diesen Veränderungsprozess gegangen sind.
Wo waren die Veränderungen am heikelsten?
Vor allem in den rückwärtigen Diensten. Es ging ja nicht nur darum, einen großen Teil des Umsatzes neu zu finden, sondern auch die gesamte Logistik auf diese Absatzstruktur einzustellen, die ganzen Abteilungen neu zu organisieren und das in flotter Fahrt. Und dabei alle Investitionen im Auge zu behalten. Wir hatten uns gerade entschieden, unseren neuen Firmensitz in Darmstadt, den Alnatura Campus in Gang zu setzen und das Grundstück gesichert. Das war eine Situation wo man sich als Verantwortlicher schon überlegt, wie weit man „volle Kraft voraus“ sagen kann und sich auch zutraut, die existenzielle Gefahr zu bewältigen, oder wie weit man auf die Bremse drückt und was das für Konsequenzen hätte.
Inwiefern hat sich mit einem Handelspartner Edeka das Alnatura-Geschäft verändert?
Wir haben durch die Öffnung zum Lebensmittelhandel die Möglichkeit gehabt unser Sortiment in eine neue Richtung zu entwickeln und unsere Kompetenzen zu erweitern. Wir haben inzwischen ein großes Tiefkühl-Sortiment, zum Beispiel wunderbares Eis oder Shrimps, und im Molkereibereich viele neue Produkte, die wir bisher mit der Konzentration auf Drogeriemärkte so nicht verkaufen konnten. Die Ernte dieser Erweiterung können wir in den kommenden Jahren einfahren.
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