Amazon hat bekannt gegeben, die kritische Schwelle für den sogenannten Lagerbestandsindex auf 500 Indexpunkte zu erhöhen. Für Seller, die Versand durch Amazon nutzen, wird der LBI damit zu einer immer wichtigeren Performance-Kennzahl, die darüber entscheidet, ob ein Versand durch Amazon überhaupt noch infrage kommt. Stephan Bruns, Geschäftsführer der Agentur REVOIC, erklärt in diesem Gastbeitrag, wie der LBI funktioniert und was Seller tun können, um ihn zu erhöhen.
Vorweggenommen: Der Lagerbestandsindex ist für Seller, die auf Amazon im Eigenversand verkaufen, nicht weiter problematisch. Hingegen spielt er für all diejenigen, die Produkte bei Amazon lagern und mit Versand durch Amazon (FBA) verkaufen, eine immer wichtigere Rolle.

Bevor wir die aktuelle Problematik betrachten, wollen wir einmal zurückschauen.
Warum wurde der Lagerbestandsindex überhaupt eingeführt?
Der Lagerbestandsindex (englisch "IPI" = "Inventory Performance Index") wurde in Deutschland 2019 eingeführt. Hintergrund: In Amazons Lagern häuft sich mehr und mehr Ware von Sellern, die sich nicht schnell genug verkauft, was für Amazon ein Problem darstellt.Obwohl Amazon immer mehr Lager baut, schaffen sie es nicht, der Nachfrage nach Lagerfläche gerecht zu werden. Mithilfe des Lagerbestandsindex will Amazon diesem Trend entgegensteuern und nur noch solche Ware einlagern, die sich schnell abverkaufen lässt.
Wie funktioniert der LBI?
In Seller-Central unter Lagerbestand > Lagerbestandsplanung > Verkäuferleistung finden Händler eine detaillierte Aufschlüsselung des LBI, der für ihren Account gilt. Der Lagerbestandsindex kann zwischen 0 und 1.000 Punkten liegen und wird wöchentlich neu berechnet. Amazon erwähnt vier wichtige Einflussfaktoren auf den Index:- Überbestand: Wie viele Einheiten werden absehbar weiterhin auf Lager bleiben?
- Durchverkauf: Wie schnell können Händler ihre FBA-Ware umschlagen?
- Lagerbestand ohne aktives Angebot: Wie viel Ware kann aufgrund von Problemen mit dem Listing nicht verkauft werden?
- Vorrätiger Lagerbestand: Wie häufig können Händler Bestellungen aufgrund von fehlendem Lagerbestand nicht erfüllen?
Amazon vergleicht zudem den LBI mit dem anderer Verkäufer unter Wichtigste Einflussfaktoren und stellt diesen in einer Skala von schlecht bis hervorragend dar. Hier wird in einem Histogramm der Verlauf der letzten vier Wochen angezeigt:


So ist es auch in unserem Beispiel: Hier beträgt der Überbestand 10,44%, bezogen auf den gesamten Lagerbestand. Doch auch die Abverkaufsrate der Artikel sollte höher sein und beträgt in unserem Beispiel 1,0.
Darüber hinaus waren auch nicht alle Artikel immer verfügbar. 96,61% beträgt die Rate der lagernden Artikel. 100% wären besser.
Historische Entwicklung des Schwellenwerts
Seit der Einführung hat sich der entscheidende Schwellenwert des Lagerbestandsindex immer wieder verändert. Dieser gibt vor, ob ein Verkäufer im roten (links) oder im grünen (rechts) Bereich der Skala liegt.Seller bekamen ab Sommer 2019 E-Mails mit Hinweisen zu ihrem LBI-Punktestand und der Mitteilung, dass dieser die Lagerbestandsmenge nun beeinträchtigt. Zu diesem Zeitpunkt war der Schwellenwert aber noch deutlich geringer. Hier ein Screenshot von 2019, als der Schwellenwert noch bei 300 Punkten lag.

Nun gab es in der vergangenen Woche eine neue Ankündigung zum LBI-Schwellenwert: "Ab dem 1. Juli 2021 ändert sich der LBI-Schwellenwert für Lagerbestandsmaxima von 450 auf 500. Liegt Ihr LBI in der Woche vom 17. Mai 2021 und in der Woche vom 21. Juni 2021 unter 500, treten in Q3 2021 Lagerbestandsmaxima in Kraft. Lagerbestandsmaxima werden weiterhin vierteljährlich bewertet."
Seller, die heute in ihren Account schauen, werden feststellen, dass der neue Schwellenwert auch bereits angezeigt wird:

Was droht bei Unterschreitung des Schwellenwertes?
Befindet sich der Schwellenwert eines Verkäufers am Stichtag (nächster Stichtag ist der 1.Juli 2021) unter 500 Punkten, droht ihm eine Beschränkung der eingeräumten Lagerfläche bei Amazon. Bei einem Schwellenwert unter 500 gelten folgende Einschränkungen:- Für neue Verkäufer bzw. wenn zu wenig Daten vorhanden sind gelten keine Einschränkungen
- Seller-Tarif Einzelanbieter, maximaler Lagerbestand: 0,28 m³
- Seller-Tarif Professionell, maximaler Lagerbestand: 0,71 m³
Laut der neuen Richtlinien droht also eine Beschränkung des Lagervolumens auf 0,71 m³, wenn der Wert unter 500 Punkte fällt. Diese Vorgaben gelten jedoch nicht in allen Lagergrößen in gleicher Weise.
Verkäufer können die Einschränkungen am unteren Ende der Seite Lagerbestandsplanung > Verkäuferleistung in Seller-Central einsehen. Hier wird ihnen von Amazon angezeigt, ob eine Einschränkung bei der Auffüllmenge oder dem Lagervolumen vorliegt:

Aktuell liegen wir bei 499 LBI-Punkten und befinden uns damit unter der Lieferschwelle im roten Bereich, weshalb Amazon das Lagerbestandsmaximum für den kommenden Zeitraum mit 2,89 m³ angibt.
Das Lagerbestandsmaximum im Blick behalten
Das sind aber noch deutlich mehr als die minimal angedrohten 0,71 m³. Für uns also ausreichend - zumal die Auffüllbeschränkung (siehe weiter unten) es uns aktuell sowieso nicht erlaubt weitere Artikel einzusenden.Verkäufer sollten ihr Lagerbestandsmaximum aber auf jeden Fall im Auge behalten, denn je nachdem, wie sich ihr LBI verändert, variiert zukünftig auch das Lagerbestandsmaximum, also welchen Bestand Amazon ihnen in der nächste Periode einräumt.

Auffüllbegrenzung für FBA-Lagerbestand
Wie schon erwähnt, gibt es auch noch eine sogenannte Auffüllbegrenzung. In unserem obigen Beispiel besteht eine Auffüllbegrenzung von 1.000 Einheiten. Wir nutzen bereits 1.119 Einheiten.Diese weitere Beschränkung wurde von Amazon in der Coronakrise eingeführt und ist seitdem nicht wieder verschwunden. Die Kennzahl ist nicht vom LBI abhängig.
Die Auffüllbeschränkungen werden laut Amazon, je nach Lagertyp, basierend auf den vergangenen und prognostizierten Verkäufen festgelegt. Weiter schreibt Amazon: "Ihre maximale Liefermenge entspricht Ihrer zulässigen maximalen Lagerbestandsmenge abzüglich der Auslastung."
Was tun, wenn mein LBI unter der Schwellengrenze liegt?
Hier wird von Amazon also nicht viel offenbart, und die Vorgaben wirken wenig nachvollziehbar. Bei der Kennzahl der Auffüllbegrenzung ist davon auszugehen, dass Schnelldrehern mehr Lagerbestand eingeräumt wird als Langsamdrehern.Verkäufer sollten die Auffüllbegrenzung am besten regelmäßig prüfen, bevor sie planen neue Ware einzusenden.
Ist ihr Lagerbestandsindex unter die kritische Schwelle gefallen, können Verkäufer verschiedene Maßnahmen ergreifen, um diesen wieder zu verbessern:
1. Identifikation der Produkte, die den niedrigen LBI verursachen
Erfahrungsgemäß gibt es einen oder mehrere Langsamdreher im Lager, die sich nicht schnell genug verkaufen. Das können bspw. Produkte aus der letzten Saison sein, die nicht rechtzeitig abverkauft wurden.Mit der Quote der Abverkaufsrate und Überbestand weist Amazon darauf hin. Wenn an der entsprechenden Anzeige auf Weitere Informationen anzeigen geklickt wird, erscheint folgende Grafik:


Es wird sogar von Amazon empfohlen, den gesamten Lagerbestand zurückzusenden. Dabei ist auch ersichtlich, dass in den vergangenen 30 Tagen zehn Einheiten in Deutschland verkauft wurden.
2. Remittieren, Liquidieren oder Vernichten von Ware
Mit dieser Maßnahme wird der Bestand direkt reduziert, was einen sofortigen positiven Einfluss auf die Kennzahlen hat. Der LBI wird allerdings nur einmal pro Woche gebildet, Verkäufer müssen also etwas Geduld haben, bis der Wert sinkt.Die Summe an Artikeln, die Verkäufer zurücksenden (Remission) oder auf eine andere Art aus dem Lagerbestand nehmen lassen (liquidieren oder vernichten), sollte an zwei Faktoren abgewogen werden: Sie können zum einen der Empfehlung in der obigen Grafik folgen. Schlussendlich sollten Händler jedoch selbst entscheiden, wie viel Ware zurückgesendet werden soll.
Ware darf nicht länger als 365 Tage bei Amazon lagern
Würde sich in unserem Beispiel die Ware im gleichen Tempo weiterverkaufen, wäre der Bestand in drei Monaten aufgebraucht. Der Verkäufer könnte also auch erst einmal abwarten, bis sich die Situation des Überstandes normalisiert hat. Die Zeit bis zum Stichtag wird allerdings nicht ausreichen, um den LBI über den Schwellenwert zu heben.Der zweite Faktor, der abgewogen werden muss, ist das Alter des Lagerbestands. Ware darf nämlich nicht länger als 365 Tage im Lager bei Amazon liegen, da sonst zum Überbestand eine Langzeitlagergebühr in Höhe von 170 Euro pro m³ anfällt.
Unter dem Menüpunkt Alter des Lagerbestands können Verkäufer einsehen, wie lange ihre Produkte bereits bei Amazon lagern.

Wir müssen hier also keine Sorgen haben, dass zusätzliche Kosten entstehen werden. Würde das Produkt jedoch deutlich länger lagern, wäre dies ein Indikator dafür, die Ware schnell zurückzuholen.
3. Werbung schalten, Preismaßnahmen nutzen
Um ihren Bestand loszuwerden, sollten Händler auch andere Möglichkeiten in Betracht ziehen. Sie könnten für das Produkt (mehr) Werbung schalten oder auch Preismaßnahmen wie Coupons einsetzen, um es für die Kunden attraktiver zu machen und den Abverkauf so zu erhöhen.4. Richtige Ware im richtigen Umfang einsenden
Vor der nächsten Lieferung sollten Verkäufer genau überprüfen, wie viel Ware sie an Amazon senden wollen. Dabei können sie sich z.B. am Abverkauf der letzten 30 Tage orientieren.Amazon stellt ihnen sogar eine Empfehlung aus, wie viel Ware sie einsenden sollten. Händler können aber natürlich auch eigene Voraussagen treffen, um einen realistischen Bestand zu ermitteln.

Fazit
Die Kennzahl Lagerbestandsindex ist noch relativ neu. Dennoch hat Amazon sie genau zur richtigen Zeit eingeführt - war sie doch während der ersten Corona-Welle ein bewährtes Mittel, die Prioritäten auf die wesentlichen Produkte zu legen, die auch von Kunden nachgefragt werden.Dass der Index nun aber darüber hinaus dafür sorgt, Sellern das Leben mit dem Versand durch Amazon zu erschweren, war beiden Seiten vorher vielleicht nicht ganz so klar. Es zeigt sich aber immer mehr (auch in den USA), dass diese Einschränkungen bestehen bleiben oder in Zukunft sogar verschärft werden dürften.
Widerspruch zu anderen Kennzahlen
Der LBI steht auch in einem Widerspruch zu vielen anderen Kennzahlen. Viele Seller, wie auch ich, werden das Gefühl nicht los, dass der LBI noch nicht ausgereift ist. Denn das System blockiert sich hier nicht selten selbst und sorgt dafür, dass der Index immer weiter abrutscht, egal was man tut.So fordert das System auf der einen Seite, mehr Ware an Amazon einzusenden, beschränkt dies aber gleichzeitig wieder massiv.
Schwer zu durchschauen
Die Verschärfung des Schwellenwertes kann gravierende Folgen für Seller mit sich bringen: Da der LBI das zukünftige Lagervolumen immer gleich für drei Monate neu bestimmt, kann eine Unterschreitung von 500 Punkten am Stichtag zukünftig einen massiv begrenzten Lagerbestand bedeuten.Zudem ist der Index nicht so durchsichtig abgebildet, dass es für Seller nachvollziehbar erkennbar wäre, wie sie diesen nun mit wenigen Handgriffen erhöhen.
Zwei dramatische Folgen
- Sellern ist es nur noch möglich, 0,71 m³ Ware einzulagern. Wer mehr anliefern möchte oder auf Lager hält, kann für drei Monate keine Artikel mehr über die Grenze hinweg einsenden, bis der Index wieder steigt.
- Überbestand wird direkt berechnet. Wenn Verkäufer bis zum Stichtag unter die 500 Punkte rutschen und Überbestand halten, muss eine Strafgebühr von 320 Euro pro m³ monatlich bezahlt werden. Also pro Tag um die 11 Euro. Dies scheint für kleine Produktmengen und Abmessungen zunächst wenig zu sein, kann Händler von Großgeräten aber vor enorme Probleme stellen.
15.000 Euro Überbestandsgebühren
Aus einem Kundenprojekt kann ich berichten, dass ein Händler am Ende rund 15.000 Euro Überbestandsgebühren an Amazon zahlen musste, weil der LBI im kritischen Zeitraum deutlich abgesunken war. Der gesamte Überbestand (immerhin an die 100 m³) musste schnellstens remittiert werden, da mit jedem Tag die Überbestandsgebühr um 1.000 Euro anwuchs.Die Remission solcher Warenmengen, insbesondere bei großen und schweren Artikeln, kann Monate dauern und bindet zusätzliches Kapital.
Versand durch Amazon kann also zu einem sehr teuren Unterfangen werden, wenn die Kennzahlen nicht berücksichtigt werden. Die Zeiten, in denen Seller Artikel in jeglicher Menge und Umfang einsenden konnten, sind vorbei.
Mit einem kleinen Sortiment an Schnelldrehern starten
Verkäufer, die überlegen jetzt mit FBA zu starten, sollten genau abwägen, welche Artikel sie bei Amazon einlagern wollen. Es empfiehlt sich, langsam und mit einem kleinen Kernsegment an Produkten, die sich schnell abverkaufen, zu starten.Natürlich spielt hier auch das Produktvolumen eine wichtige Rolle bei der Auslastung des Lagers. Gerade vor dem Prime Day sollten Seller die Amazon-Lager nicht überfrachten, um dann später auf hohen Kosten sitzen zu bleiben.
Hybrid-Versand wird an Bedeutung gewinnen
Zukünftig wird der Mischversand aus FBA und FBM immer mehr an Attraktivität gewinnen. So haben Verkäufer die Möglichkeit, Langsamdreher flexibel im Eigenversand anzubieten und nur ihre Topprodukte bei Amazon einzulagern.Dieser Lösungsweg könnte jedoch für so manchen FBA-only-Anbieter zum Problem werden, wenn die Waren direkt vom asiatischen Hersteller an Amazon gelieferrt werden und der Verkäufer selbst gar keine Lagerflächen mehr besitzt bzw. besitzen will. Die Komplexität beim Verkauf auf Amazon nimmt weiter zu.