Denn wie Arvato-Chef Achim Berg betont, gehört der E-Commerce zu den wichtigsten Wachstumsfeldern des Bertelsmann-Konzerns. Und Arvato verfügt in diesem Bereich bereits über umfassende Erfahrungen. Für die weitere Expansion stehen ausreichend Finanzmittel zur Verfügung. Dazu kommt die breite Aufstellung von Arvato. Sie ermöglicht ganz andere Preiskalkulationen und Argumentationen bei der Kundenakquise. Zum Bespiel, indem Dienstleistungspakete geschnürt werden, die neben E-Commerce auch Services wie Dialogmarketing und Customer Care umfassen.
Zu optimistische Umsatzprognosen
Somit ist es äußerst unwahrscheinlich, dass der Dienstleistungsgigant, der 2012 einen Umsatz in Höhe von 4,45 Mrd. Euro erwirtschaftete, ähnlich schnell kalte Füße bekommt wie der bisherige Netrada-Eigner Apax. Dieser hatte im Oktober 2013 überraschend den Geldhahn zugedreht. Zugegeben: Das bereits vor der Insolvenz geschasste Netrada-Management hat sich mit der – vermutlich vom Investor eingeforderten – Expansion in die USA und nach China sowie dem Bau teurer Logistikzentren etwas übernommen. Auch basierten die Verträge mit den Modemarken meistens auf viel zu optimistischen Umsatzprognosen.
Dennoch handelt es sich bei Netrada immer noch um ein relativ gesundes Unternehmen, das über wertvolles Know-how in einem der größten Wachstumsmärkte des Handels verfügt. Laut Prognose von Forrester Research wird sich das Volumen im europäischen Online-Handel mit Mode und Kosmetik bis 2016 auf 50 Mrd. Euro erhöhen. 2012 waren es noch 28 Mrd. Euro gewesen. Keine Branche wächst online schneller.
Verträge neu verhandelt

Die Folgen kämen den Kunden deutlich teurer zu stehen, da eine Migration der IT zu einem anderen Anbieter viel Zeit, Geld und Ressourcen kostet. Außerdem können Vereinbarungen, die das Risiko nicht allein dem Dienstleister aufbürden, das Online-Geschäft auch antreiben.
Der Grund: Ein Online-Shop kann nur dann richtig erfolgreich sein, wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen. Das war bislang nur selten der Fall, da das Online-Geschäft für gewöhnlich komplett outgesourct wurde – mitsamt fast allen Risiken und nahezu jeder Verantwortung. Wenn es schief lief, musste der Dienstleister bluten, nicht aber der E-Commerce-Verantwortliche des Kunden. Ein Grund, warum dieser für gewöhnlich wenig Zeit und Geld in die Verknüpfung der Online- und Offline-Kanäle steckte. Das ist aber in
Zeiten von Multichannel essenziell wichtig, insbesondere beim Marketing.
Aufatmen in der Branche
Die Netrada-Übernahme könnte somit eine Trendwende im E-Commerce-Fulfillment einleiten. Denn wenn auch der neue Marktführer Arvato auf faire Verträge pocht, dann weicht bei den anderen E-Commerce-Dienstleistern der Druck, riskante Vereinbarungen zu unterschreiben. Und vielleicht überlegt sich der eine oder andere Anbieter künftig zweimal, ob er einen ungeduldigen Investor ins Boot holt, der zunächst kräftig aufs Tempo drückt, dann aber bei der ersten Leckage panikartig ins Wasser springt. Daher atmete die Online-Branche auch erleichtert auf, als klar wurde, dass Apax Netrada nicht an einen anderen Investor weiterreicht.
Ähnliches gilt für Alternative Nummer zwei, den Verkauf von Netrada an ein Kundenkonsortium. Dieses wäre vermutlich früher oder später an den unterschiedlichen Interessen der Vertragspartner und dem hohen Abstimmungsbedarf gescheitert. Somit kennt der Netrada-Deal fast nur Gewinner. Größter Verlierer ist Apax: Laut Insidern hat die Wagniskapitalgesellschaft bei ihrem norddeutschen E-Commerce-Abenteuer mehr als 700 Mill. Euro in den Sand gesetzt. Arvato wird das sicherlich nicht passieren.