"Im Handel der Zukunft geht es um Daten, Daten, Daten", sagt Günter Althaus, Vorstandschef der ANWR Group. Mit ihm sprachen wir über seine digitale Strategie, schwankende Schuhpreise wie an Tankstellen und seine neue Spielwiese Mücke.

Mücke war bereits Mitglied bei uns. Die Regelung der Nachfolge war offen. Aufgrund der Größe des Unternehmens mit rund 120 Millionen Euro Jahresumsatz ließ sich das Ganze nicht einfach im Kreis der Mitglieder regeln. Weil wir Mücke auf keinen Fall verlieren wollten, haben wir selbst zugegriffen. Zudem bot das Geschäftsmodell von Mücke aus unserer Sicht viel Potenzial für die Weiterentwicklung der gesamten Unternehmensgruppe.

Wir entwickeln ein Beteiligungsmodell in Form einer Aktiengesellschaft. In den ersten Monaten 2016 können sich die Mitglieder dazu erklären, ob sie Aktien der Mücke Beteiligungs AG kaufen wollen. Die neue Gesellschaft soll im Sommer 2016 entstehen, die Aktien werden Anfang 2017 ausgegeben.

Stellen Sie sich einen beliebigen Ort vor, in dem es zehn Schuhgeschäfte gibt. Davon gehören statistisch gesehen sieben zu uns. Wenn wir uns bei einem dieser Händler engagieren, wie jetzt bei Mücke, treten wir gleichzeitig in den Wettbewerb zu unseren anderen Mitgliedern.

Wie lässt sich dieser Konflikt lösen?
Durch das Beteiligungsmodell. Damit werden Händler zu direkten Miteigentümern von Mücke.

Mücke ist im bestverstandenen Sinne unsere Spielwiese, ein Testfeld für neue Prozesse. Wir können Neues ausprobieren, um es im Erfolgsfall unseren Mitgliedern zu empfehlen.

Ein Unternehmen als Spielwiese, was kann man sich darunter vorstellen?
Kürzlich haben wir in Scheßlitz bei Bamberg unser neues Logistikzentrum in Betrieb genommen, nachdem wir mit dem Fraunhofer Institut neue Logistikprozesse für den Schuhhandel entwickelt hatten. Das Ganze haben wir bereits bei Mücke umgesetzt.

Was ist denn das Besondere an diesem neuen Logistikzentrum?
In Kalifornien haben wir uns die Zentrallogistik der US-Schuhherstellers Skechers angesehen. Von dort kann binnen eines Tages ganz Amerika beliefert werden. Diesem Vorbild folgen wir hier.

Lässt sich das auf Ihr Geschäft übertragen?
Ja. Zunächst geht es um die Bestandsaufnahme der Ware in der Zentrale und in den Läden. Es passiert extrem selten, dass ein Paar Schuhe in gleicher Farbe und Größe am selben Tag verkauft wird. Warum also sollte eine Filiale fünf identische Paare vorrätig haben? Wenn nun der Schuh in der einen Filiale fehlt, wird er üblicherweise aus einer anderen bezogen und geht dann zunächst an die Zentrale. So kann es passieren, dass der Schuh bis zu 14 Tage aus dem Markt ist.

Und diesen Umweg sparen Sie sich?
Ja. Habe ich in jeder Filiale nur ein Stück und bin in der Lage, binnen eines Tages von der Zentrale aus nachzuliefern, spare ich den ganzen Umweg und habe immer rechtzeitig die richtige Ware auf der Fläche. Das ist das Grundmodell der neuen Logistik. Der Warenbestand wird zentral gesteuert.
Ist nicht auch dort viel neue Technik nötig?
Wir arbeiten intensiv daran, die Warenprozesse anders zu steuern. Dazu gehört ein verstärkter Einsatz der Radiowellen-Technik RFID.
Was muss der Händler tun, um mit diesen Systemen zu arbeiten?
Die Infrastruktur entsteht bei uns in der Zentrale. Der Händler muss nur seine Warenwirtschaft an unsere Infrastruktur anhängen, die Daten übermitteln und die Schnittstelle zu uns aufbauen.
Was haben die Händler davon?
Ziel ist die Vernetzung unserer mittelständischen Einzelhändler. Wir bieten den zentralen Marktplatz, über den das Kundengeschäft, aber auch das Geschäft der Händler untereinander und mit der Zentrale läuft. Über die zentrale Logistik kann zum Beispiel ein Händler aus Garmisch-Partenkirchen binnen eines Tages das fehlende Paar Schuhe von seinem Kollegen aus Hamburg erhalten.

Das Thema Verfügbarkeitsprüfung haben wir schon über unsere Seite schuhe.de umgesetzt. Dort kann man sehen, welcher Händler welche Schuhe verfügbar hat.

Schon mehr als 1.200 Händler in Deutschland.

Beides, wenn auch längst nicht überall. In Zukunft soll es möglich sein, jeden gewünschten Schuh direkt online über unsere Seite zu kaufen. Derzeit nehmen daran schon 150 Unternehmen teil. Man hat damit jede Möglichkeit, vom Einkauf im Geschäft über Click & Collect bis zur klassischen Online-Bestellung.

Europaweit mehr als 4000, darunter neben den Schuhhändlern auch Sport- und Lederwarenhändler. Das heißt mit anderen Worten, wir bieten ein so umfangreiches Sortiment, an das selbst der größte Online-Händler nicht mehr herankommt. Und das in Zukunft online und stationär.

Idealerweise übergibt der Händler die Logistik vom Versand bis zur Retour an den zentralen Dienstleister. Schließlich macht es keinen Sinn, dass er die eigene Verkäuferin im Geschäft abzieht, um sie im Keller das Päckchen packen zu lassen und dann auch noch zur Post zu schicken.

Durch die virtuellen Schaufenster auf unserer Seite. Wenn ein Kunde ein Produkt sucht, landet er auf der Seite eines Händlers in seiner Nähe. Wir bieten jedoch verschiedene Möglichkeiten. Wenn der Kunde das preisgünstigste Produkt sehen will, kommt der Händler mit dem besten Preis zum Zug. Oder man kann wählen, wer am meisten vorrätig hat, und so weiter.

Wir können es uns nicht leisten, dem Kunden keinen Online-Einkauf anzubieten. Das heißt noch lange nicht, dass unser Geschäft zum E-Commerce mutiert. Langfristig wollen wir etwa 80 Prozent des Umsatzes in den Läden zu machen. Doch wenn sich ein Kunde entscheidet, lieber Online zu bestellen, soll er das nicht bei Zalando oder Amazon tun sondern bei uns.

Damit meine ich nicht, dass 20 Prozent nach Hause geschickt werden. Darin steckt auch das wichtige Reservierungsgeschäft. Wir müssen verstehen und akzeptieren, dass der Kunde künftig nahezu ausschließlich über das Netz geleitet wird. Dadurch, dass die Information übers Netz kommt, entscheidet auch die Art der Information, wo der Kunde wann und wie einkauft.
Wie meinen Sie das?
Die Geräte, vor allem Smartphones, sind immer leichter zu bedienen, und damit auch zunehmend akzeptabel für Ältere und weniger Technik-affine Kunden. Damit gewinnt die Information mit Hilfe der Geräte immer mehr Gewicht. Denn diese Information entscheidet, wo der Kunde letztlich einkauft. Noch vor einigen Jahren gab es nur drei wichtige Kriterien: Lage, Lage, Lage! Das wurde längst ersetzt durch Daten, Daten, Daten.

Nein. Nehmen wir zum Beispiel die Frankfurter Zeil. Dort sieht man zwar sehr viele Menschen, aber wie viele davon haben eine Einkaufstüte in der Hand? Die sogenannte Conversion Rate ist extrem gering. Die Leute sind da, gehen auch in die Geschäfte, aber sie kaufen nichts. Immer weniger Händler schaffen es, die Umsätze zu erzielen, mit denen die horrenden Mieten in Top-Lagen bezahlt werden können. Nur durch die individuell richtige Ansprache des Kunden wird es uns gelingen, ihn zum Kauf bei uns zu bewegen, egal ob on- oder offline.
Steigende Online-Verkäufe bedeuten auch steigende Retouren. Wie gehen Sie damit um?
Derzeit laufen Retouren noch dezentral über die Händler. Mit der Umstellung auf unsere zentrale Lösung kann künftig auch das Retourenmanagement zentral abgewickelt werden.

Nein, einer muss bezahlen, entweder der Kunde oder der Händler. Das ist keine Entscheidung der Zentrale sondern unserer Mitglieder.

Weil die Passformen bei Textilien etwas flexibler sind als bei Schuhen. Gestatten Sie mir den Scherz: Wenn mir das T-Shirt enger wird, kann ich abnehmen. Beim Schuh gibt es keine Wahl: wenn er drückt, geht er zurück. Letztlich gilt die Faustformel: Je weniger ein Produkt von der Passform abhängig ist, desto rentabler wird der Onlinehandel. Das sehen wir z. B. auch in unserer Division Fahrradhandel.

Es wird besser. Anfangs hatten wir so wie Zalando Retourenquoten von 60 Prozent. Jetzt nähern wir uns schon der Marke von 40 Prozent.
Wie schaffen Sie das?
Indem wir lernen. Je mehr Kundendaten wir bekommen, desto mehr können wir uns darauf einstellen. So ist bei Schuhen nicht nur die Länge und Breite entscheidend, sondern auch die Firsthöhe, es ist also eine dreidimensionale Frage. Ein Onlinehändler kann aus den zurück geschickten Schuhen schließen, welcher Leisten nicht passt und umgekehrt. Also empfehle ich den Kunden künftig genau die Schuhe, bei denen der Leisten passt. Damit steigt die Trefferquote. Oder noch besser: Sie probieren den Schuh beim Händler vor Ort, da nehmen Sie immer einen passenden mit nach Hause.
Oft erhalten Kunden nervige Angebote für Produkte, die sie gerade gekauft haben. Wie lässt sich das verhindern?
Das sind alles Fehler aus der Anfangszeit. Daran arbeiten alle. Ein Beispiel, wie man es richtig macht: Mein Kaffeeautomat braucht regelmäßig spezielle Reinigungstabletten. Die habe ich seinerzeit bei Amazon bestellt. Entsprechend den vom Hersteller vorgegebenen Intervallen kann Amazon nun ausrechnen, wann ich die nächsten Tabletten brauche und schickt mir rechtzeitig den Vorschlag zur nächsten Bestellung. Das meine ich mit Daten, Daten, Daten.
Eine Datenflut als Geschäftsbasis?
Ja, Handel ist heute nicht mehr nur die Kenntnis von Produkten, und wie man sie bewegt. Der Handel der Zukunft ist Datenanalyse und -management. Wer die Daten hat, entscheidet darüber, wo der Kunde was kauft. Es geht darum, wie passgenau ich meine Kunden erreiche. Das ist der Kern unserer Digitalisierungsstrategie für die ANWR-Gruppe.
Wieweit beeinflusst die Digitalisierung die Preise?
Hier wird sich noch viel verändern. In Pilotprojekten wollen wir mit Hilfe von Algorithmen permanent mehrmals am Tag die ideale Preisfindung und die Preisstellung berechnen. Täglich wird also der Preis mehrfach nach oben oder unten angepasst – im Prinzip wie beim Benzinpreis an Tankstellen.
Preisschwankungen wie an Tankstellen, wie funktioniert das?
Sämtliche Abverkäufe, On- oder Offline, können in Zukunft in einen Algorithmus einfließen, der dann permanente Preisvorschläge macht. Die Maschine sagt aufgrund der lokalen und überregionalen Marktsituation, wo der beste Preis liegt.
Glauben Sie, dass es Akzeptanz bei ihren Händlern findet, wenn eine Maschine den Preis vorschlägt?
Nicht 2016, langfristig schon, auch weil es nur ein Vorschlag ist und letztlich der Händler selbst entscheidet. Er behält die Preishoheit. Aber der lokale Händler kann allein nur schwer ermessen, wo aktuell ein im Markt akzeptierter Preis liegt. Die Leistung des Rechners ist also eine große Hilfe.
Heißt das, dass der Händler ein paar Straßen weiter wegen einer anderen Frequenzanalyse eine andere Preisempfehlung erhält?
Das kann passieren. Doch der Preisvorschlag basiert nicht nur auf der gemessenen Kundenfrequenz sondern auch auf der Information, zu welchem Preis aktuell die meisten Verkäufe gemacht werden können. Dieser optimal berechnete Preis kann wiederum die Frequenz beeinflussen.
Also bestimmt die Nachfrage den Preis?
Genau so, da müssen wir umdenken. Bisher bestimmte immer die Unverbindliche Preisempfehlung die Marschrichtung. Das führt immer dazu, dass der Preis sinkt, je länger die Saison dauert – was eigentlich Blödsinn ist.
Warum Blödsinn?
Ein Beispiel: Warum soll ich Ende Dezember einen gefütterten Winterschuh nur deshalb um 30 Prozent billiger verkaufen, weil er zwei Wochen vorher während einer Wärmeperiode reduziert wurde? Heute setzt doch kein Händler mit Einbruch der Kälteperiode den Preis wieder hoch. Das ist viel zu aufwendig, zumal die Preisetikette dann schon wieder ausgetauscht werden muss.
Und mit neuen Technologien geht das?
Ja, wenn ein Schuh mit einem RFID-Chip ausgestattet ist, wird diesem lokalisierbaren Schuh ein Preis zugeordnet, der sich auch zwanzigmal am Tag verändern lässt. Die Darstellung des Preises gegenüber dem Kunden lässt sich bequem über digitale Preisschilder umsetzen. Das digitale Preisschild ist nichts anderes als Onlinehandel, der auf die Fläche übersetzt wird.
Wann ist das Ganze serienreif?
Bei uns in etwa zwei Jahren, andere Branchen sind schon so weit.
Die Voraussetzung dafür ist aber die komplette digitale Umrüstung des Händlers.
Ja, und es geht nicht nur darum, dass die Verkäufer mit iPads ausgestattet werden. Wenn wir heute über die Digitalisierung im Handel sprechen, betrifft das vor allem die Warenprozesse – also Preisauszeichnungen, Produktauffindung und vieles mehr.
Für mehr Umsätze brauchen Sie aber auch Informationen über die Kundenfrequenz.
In Pilotprojekten verschaffen wir uns derzeit ein detaillierteres Bild von den Kundenströmen, wie viele Leute am Geschäft vorbeilaufen, wie viele reingehen und wie viele auch etwas kaufen – Stichwort Conversion Rate. Dadurch lässt sich der Personaleinsatz besser anpassen. An diesem Beispiel wird klar: nahezu alle Prozesse im Unternehmen werden digitalisiert. Das verändert natürlich auch die Anforderungen an die Mitarbeiter, mit denen wir in Zukunft arbeiten werden.
Inwiefern verändern sich die Anforderungen an die Mitarbeiter?
Bisher haben wir den Verkäufern in aufwendigen Schulungen Warenkunde beigebracht, was heute keinen Sinn mehr macht. Denn heute findet man in jedem Online-Angebot mehr Produktinformationen als eine Verkäuferin oder ein Verkäufer einem im Geschäft geben kann.
Was zählt also in Zukunft?
Unsere Mitarbeiter auf der Fläche müssen mindestens über den gleichen Informationsstand verfügen, wie er im Netz geboten wird. Und das während des Verkaufsgesprächs mit dem Kunden. Darüber hinaus müssen wir dann Beratungsleistungen bieten, die online nicht abbildbar sind. Wie beispielsweise Farbwirkungen bei unterschiedlichen Kundentypen oder vor Ort Services, wie Reparatur und die Weitung von Schuhen.