Der stationäre Handel ist tot! Lang lebe der stationäre Handel: Es gibt sie noch, die guten Einzelhandelskonzepte. Leider kommen sie nicht von den klassischen Händlern.

Lassen Sie uns über Handtaschen reden: Knapp 96 Prozent der Frauen hierzulande besitzen mindestens eine, jede zweite Frau hat bis zu fünf Modelle und jede fünfte sogar bis zu zehn, meldet der Teleshoppingsender QVC. Dass der Taschenkauf Herzenssache ist, versteht eine Frau sofort. Dass sie sich im Jahre 2018 sowohl beim Onlineshoppen wie auch beim Stadtbummel in das Accessoire verlieben kann und die (selbstredend superdringend benötigte) Tasche kauft, eigentlich auch: Bei rund 43 Prozent der Teilnehmerinnen macht es demnach inzwischen „klick“ im Netz und die Bestellung ist auf dem Weg. 

Sybille Wilhelm
© Aki Röll
Sybille Wilhelm
Gleichwohl ist der haptische Aspekt des Taschenkaufs natürlich nicht zu vernachlässigen, der Spaß, das Einkaufserlebnis. Und dann ist ja auch noch die Sicherheit vor Produktfälschungen bei stationär erworbenen Markenartikeln (da spreche ich für Deutschland, nicht irgendwelche Schubbischubbi-Läden in irgendwelchen Ferienorten). Doch Stopp, stimmt so auch nicht: Kürzlich wurde die Boutiquenbesitzerin des  Frankfurter Luxusgeschäfts "Boutique 1" Alten Rothofstraße/Ecke Goethestraße hops genommen, weil sie Kunden jahrelang mit gefälschten Handtaschen, Schuhe oder Kleidungsstücke, betrogen hat. Ausnahmslos alle verkauften Artikel waren Plagiate. Nun ist es im Inneren des ehemaligen Luxusgeschäfts dunkel, die Auslage ist leer, der Eingang vergittert: „Hinter dem Verkaufstresen stehen ungeöffnete Champagnerflaschen, in einer Sitzecke liegen durchgeblätterte Modezeitschriften“, packt Hessenschau.de den Katzenjammer der Highsociety zusammen. 
Wille zur Veränderung: Das täte auch den Händlern gut
© L & T
Wille zur Veränderung: Das täte auch den Händlern gut
 Das ist natürlich das tragische Ende des so oft beschworenen zielgruppengerechten Einkaufserlebnisses, wo die Kundinnen in Frankfurt ja sicher auch angenehme Stunden mit Ware in der Auslage, geöffneten Champagnerflaschen und druckfrischen Modezeitschriften hatten.

Bei L & T macht Sport Spaß

 Wie es richtig gehen kann zeigt unterdessen das neue Sporthaus des Traditionshauses Lengermann & Trieschmann in Osnabrück. Seit der 5.000 Quadratmeter große Anbau an das Stammhaus des Textilhändlers im vergangenen März eröffnet wurde, kommen die Menschen von weit her in die Stadt, um „Die Welle“ zu sehen, das eigene Übungsbecken für Surfer, oder das City Gym, wo sich mit einem angepassten Sauerstoffgemisch sogar Höhentraining für Ausdauersportler simulieren lässt.
Werbekampagne des Sporthauses L & T
© L & T
Werbekampagne des Sporthauses L & T
 Außerdem setzt der Intersport-Händler auf ein gutes gastronomisches Angebot im Haus und eine Marketingkampagne, die augenzwinkernd „normale“ Menschen in den Mittelpunkt stellt. Es gibt sie also noch, die erfolgreichen stationären Einzelhändler, die sich nicht von Amazon & Co. einschüchtern lassen, konsequent ihr eigenes Geschäftsmodell verfolgen und den überstrapazierten Begriff „Erlebnis“ mit Leben füllen. „Investieren Sie in die Innenstadt, machen Sie was Lustiges!“, rät daher auch Mark Rauschen, der in 4. Generation Geschäftsführer von L & T ist, seinen Branchenkollegen.  

Pop-up-Rewe im Staatstheater 

Lustig geht es derzeit in Wiesbaden zu: Im altehrwürdigen hessischen Staatstheater kann man noch bis zum 2. September Lebensmittel einkaufen gehen. Im Rahmen der Biennale hat Rewe eine Filiale im Theaterfoyer aufgebaut, bei der man zu den normalen Öffnungszeiten im prächtigen Neobarock-Ambiente zwischen Stuck und Marmor Leberwurst, Katzenstreu & Co. erstehen kann. Im Untergeschoss lädt zudem ein Porno-Kino zur Zerstreuung ein. Alles Kunst, sagt Kuratorin Maria-Magdalena Ludewig zu dieser „spannenden Melange“. Die diesjährige Biennale steht allerdings unter dem Motto "Bad News".

Dass die Innenstadt durchaus ein Ort für "Good News" sein kann, zeigen die als Onlinehändler gestarteten "Pure Player", die den stationären Handel seit einiger Zeit für sich entdecken. Zalando eröffnet kommende Woche einen weiteren Laden, dieses Mal in Hamburg. Inzwischen ist das Outlet des Berliner Internethändlers der vierte Laden. Amazon kaufte vor nicht allzu langer Zeit die Biosupermarktkette Whole Foods und ist schon länger mit Formaten wie Amazon Books oder Amazon Go unterwegs. Auch Apple war ja ganz früher mal ein reiner Hersteller, der in einer Art Franchise-System ausgewählte Händler belieferte, digitale Plattformen wie iTunes oder den App-Store entwickelte und sich trotzdem vor geraumer Zeit entschied, eigene stationäre Läden zu betreiben. Auch diese spannende Melange ist ein Erfolg: Apple ist gemessen am Börsenwert nicht nur das erste Billion-Dollar-Unternehmen der Welt, sondern setzt mit seinen stationären Filialen auch regelmäßig (innen-)architektonische Maßstäbe. 

 

Unbemannte Filiale bei JD.com und jetzt auch JD.id

Auch für das chinesische Internetunternehmen JD.com gehört der stationäre Laden schon zum Alltag: Der Hauptkonkurrent des Marktplatzbetreibers und Technologie-Anbieters Alibaba betreibt in seinem Heimatland bereits 20 „X-Marts“, kürzlich folgte der erste außerhalb seines Heimatmarkts in Jakarta. Konsequent spielen die Technologie-Profis dabei ihre IT-Karte aus, denn in den Filialen gibt es kein Verkaufspersonal – irgendwie lustig, dass Amazon sich als Pionier der unbemannten Supermärkte „Go“ feiern lässt, obwohl das chinesische Amazon-Pedant JD schon viel weiter ist. Die Kunden registrieren sich am Eingang, kaufen ein – neben Lebensmitteln gibt es auf den 270 Quadratmetern im indonesischen X-Mart auch  Kosmetika und Mode –  und bezahlen beim Verlassen automatisch über die in der App hinterlegte Kreditkarte. JD sieht seine Store-Technologie als Teil seiner „grenzenlosen Einzelhandelsvision“, wie der Händler und Marktplatzbetreiber es nennt: „Der Idee, dass Verbraucher kaufen können, was, wann und wo sie wollen – online oder offline.“ Und man ist geneigt, dem chinesischen Unternehmen zu glauben, dass das funktioniert. All das kann und soll ein klassischer Händler nicht nachmachen. Aber er kann an all diesen Beispielen sehen, dass es nicht wichtig ist, einem Trend hinterherzulaufen, sondern sich darauf zu besinnen, was er besonders gut kann: Orte für Menschen schaffen, die sich willkommen fühlen. Lokal, klein, mit Herz in den Stadtteilen funktioniert das auch im Internetzeitalter noch ganz gut. Aber irgendwie schaffen es viele Händler ab einer kritischen Größe schon länger nicht mehr, der Beliebigkeit zu entfliehen.
Und schenkt man dem Online-Evangelisten Jochen Krisch von Exciting Commerce Glauben, werden sie das auch nicht mehr: „Und immer, immer wieder dieselbe Frage: Was kann der Handel tun, um wieder mehr Kunden in die Läden zu locken? Meine Antwort (seit 10+ Jahren): Gar nix. Der Zug ist abgefahren. Das einzige, was der Handel tun kann, ist sich auf rückläufige Frequenzen einzustellen“, schrieb er dieser Tage auf Twitter und erfuhr bei den Antwortenden kaum Gegenwehr. Das ist das eigentlich traurige. 

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