Die Bedeutung der Customer-Experience war wahrscheinlich nie größer als heute, denn die Struktur von allem was wir tun, wie wir einkaufen und wo und wie wir arbeiten hat sich in den letzten zwei Jahren fundamental verändert. Die Kundenbedürfnisse sind aber nicht nur individueller geworden, sondern aufgrund der erheblichen Veränderung unseres Tagesablaufes, z.B. durch Homeoffice, auch situationsabhängig immer unterschiedlicher, sagt Etailment-Experte und Accenture-Geschäftsführer Thomas Täuber.
Menschen vergleichen ihre Kundenerlebnisse über Industriesegmente hinweg und nehmen die positiven Erfahrungen aus einer Industrie als Erwartungshaltung in die nächste Industrie mit.
So wird die Erfahrung mit der CX der App einer serviceorientierten Fluggesellschaft wie z.B. der Lufthansa zur Benchmark für die CX-Erwartung an die App einer Versicherung oder einer Bank und das CX-Erlebnis der Fulfillment-Leistung eines Marktplatzes wie Amazon zur Erwartungshaltung an das Fulfillment im Baustoffhandel.

Händler können sich kaum noch positiv differenzieren
Je nach Branchensegment befinden wir uns bereits seit über 25 Jahren in einem digitalen Transformationsprozess, und über diesen Zeitraum wurden in fast allen Branchen große Anstrengungen unternommen, die Customer-Touchpoints – insbesondere die der neuen digitalen Customer-Journey – mittels komplexer Technologien zu optimieren. So sieht man heute, dass es eigentlich kaum noch eine positive Differenzierungsmöglichkeit über herkömmliche CX-Maßnahmen gibt, weil die positiven Erfahrungen über die Segmente austauschbar geworden sind.Man kann sich also höchstens noch negativ differenzieren, indem man im Bereich CX an den wichtigen Touchpoints nicht auf Standarderwartungsniveau operiert.
Und natürlich findet man solche Beispiele auch noch im Handel – am meisten dort, wo der Kunde mit seinen Bedürfnissen vor lauter Standardisierungs- und Skalierungsbemühungen auf der Suche nach Margenverbesserung völlig verlorengegangen ist, wie z.B. im vertikalisierten Textilhandel.
In der Corona-Krise den Kundenfokus vernachlässigt
Durch die Corona-Krise haben allerdings nicht nur Händler mit einer ohnehin schwachen CX-Orientierung, sondern sehr viele Handelsunternehmen den Kundenfokus vernachlässigt. Das zeigt auch eine wiederkehrende globale Befragung von Accenture, in der CX auf der Prioritätenliste der CEOs am Anfang der Pandemie um 33% gesunken war.Hierfür gibt es zwei Erklärungsansätze:
- Es gab eine Vielzahl von coronabedingten Maßnahmen mit höherer Priorität, wie z.B. die Aufrechthaltung des Betriebs durch neue Arbeitsprozesse (Homeoffice, Hygienekonzepte etc.), die Aufrechterhaltung der Warenversorgung, die Absicherung der Finanzierung des operativen Geschäftes etc..
- Viele Führungsetagen haben (auch schon vor der Corona-Krise) den ROI von traditionellen CX-Maßnahmen infrage- und damit zunächst zurückgestellt.
Dieselbe Befragung hat allerdings jetzt auch gezeigt, dass wir weltweit vor einer Neuorientierung zum Thema CX und Kundeninteraktion stehen. 77% der CEOs sagten, dass ihr Unternehmen die Art und Weise, wie es zukünftig mit den Kunden interagiert, völlig neu gestalten will. Für sie ist es offensichtlich, dass eine Neuorientierung im Bereich CX der Schlüssel für Wachstum, Beständigkeit und Marktrelevanz ist.
Eine langanhaltende Inflation droht
Für diese Haltung gibt es seit Kurzem noch ein weiteres sehr gewichtiges Argument: Die Inflation ist zurück! Der uns alle in Atem haltende Ukraine-Krieg hat, neben dem unendlichen Leid, welches der Zivilbevölkerung in der Ukraine widerfährt und der geopolitischen Langzeitwirkungen, auch fatale Folgen für die ohnehin durch die Pandemie angeschlagene Weltwirtschaft.Wir müssen davon ausgehen, dass die zunächst durch die kurzfristigen Lieferkettenprobleme verursachten signifikanten Inflationstendenzen (7,5% in den USA, 5,1% im Euroraum und 5,3% in UK) durch den Krieg und dessen Folgen noch verstärkt werden. Die Preise für Energie, Lebensmittel und Non-Food-Produkte aller Art werden weiter in die Höhe getrieben, lösen möglicherweise eine Lohn-Preis-Spirale aus und führen damit zu langanhaltender Inflation.
Konsumenten müssen schon jetzt täglich Kaufentscheidungen bei sinkender Kaufkraft treffen. Dabei wird es keine homogene Antwort der Kunden auf den Umgang mit Budgetrestriktionen geben, sondern zu Verzicht auf das eine zugunsten von etwas anderem kommen.
Persönliche oder soziale Werte haben bei dieser Abwägung eine hohe Relevanz. Es wird also noch wichtiger, Kunden in ihren Bedürfnisstrukturen und ihrem Kaufentscheidungsdilemma zu verstehen und über einzigartige Kundenerlebnisse und eine zusätzliche, tiefere, für die Kunden relevante Triebfeder des Unternehmens (neudeutsch "purpose") einen Mehrwert zu liefern.
Wie sollte man das angehen?
Um auf die oben beschriebenen Rahmenbedingungen zu reagieren, sollten Händler sich vom klassischen CX-Ansatz, der sich im Wesentlichen an Kunden-Touchpoints im Zusammenhang mit Produkten oder Dienstleistungen orientiert, hin zu einem Business-of-Experience- (BX) Ansatz entwickeln und sich an ganzheitlich, über das gesamte Unternehmen gelebten Lösungen für die Kundenbedürfnisbefriedigung orientieren.
1. Kundenbedürfnisse konsequent in den Fokus stellen
Zu ergründen, wie man seine Kunden „glücklicher“ macht, sollte im Vordergrund stehen. Hierfür ist es wichtig, die Wünsche situativ zu erkennen und unvergleichliche Erlebnisse zu bieten – gleichgültig, ob bei der Arbeit, der Freizeit oder zu Hause. Herkömmliche Kundensegmentierung reicht daher nicht mehr aus, um die Customer-Experience am jeweiligen Touchpoint der Customer-Journey zielgruppengerecht auszugestalten.Es bedarf neben klassischer Kundensegmentierung einer kontextbezogenen Mindset-Forschung. Nur so ist es möglich, situationsbezogene Bedürfnisse zu befriedigen. Eine tief verwurzelte Unternehmenstriebfeder sollte darüber hinaus die grundsätzliche Richtung vorgeben. So können Unternehmen und Marken am besten einschätzen, welche Wünsche sie erfüllen sollten und welche unbefriedigten Bedürfnisse es noch geben könnte.
Das kanadische Unternehmen Lululemon ist hierfür ein ausgezeichnetes Beispiel. Nicht nur, weil es sich mit der Idee, nicht nur eine Einkaufsstätte für Sportbekleidung zu sein, sondern ein Community Hub für Fitnessbegeisterte als Basis für Gesundheit, Wohlbefinden und persönliche Entwicklung, einen echten Purpose gegeben hat.
2. Eine Erlebnisinnovationskultur schaffen
Außerdem ist es wichtig, die Lücke zwischen Kundenversprechen und dem tatsächlichen Erlebnis zu schließen. Hierbei geht immer Handeln vor Kommunizieren! Grundvoraussetzung hierfür ist, dass alle Mitarbeiter und Lieferanten des Unternehmens verstehen, dass die Grundlage von Innovation nicht in der Technologie (weil wir es können) oder in der Orientierung auf die Marge (weil wir es brauchen) liegt, sondern in den situativen Bedürfnissen der Kunden.So kann eine Erlebnisinnovationskultur entstehen, die aus Versprechen durch die richtigen Innovationen unvergessliche Erlebnisse macht. In diesem Zusammenhang ist sicher Amazon eines der herausragenden Beispiele. Bei Amazon ist Innovation nicht Aufgabe einer Geschäftseinheit, sondern jedes einzelnen Mitarbeiters – und zwar jeden Tag.
Am Anfang jedes Innovationsvorhabens müssen die verantwortlichen Teams eine Pressemitteilung schreiben, in der die darlegen, wie dieses Vorhaben das Leben des Kunden vereinfacht. Außerdem wird eine Liste aller Fragen angefertigt, die ein Kunde stellen könnte. Beides ist dann Richtschnur und Entscheidungshilfe im tatsächlichen Entwicklungsprozess.
3. Das Kundenerlebnis als übergreifende Aufgabe verstehen
Die Silos zwischen Front- und Backoffice müssen abgebaut werden, indem das Frontoffice mit Vertrieb, Marketing, Service und Produktfunktionen als Einheit auftritt und sich mit dem Backoffice (HR, Supply-Chain usw.) verbindet. Dabei haben wir es mit einem Wandel des Betriebsmodells zu tun, der den Fokus von der Kundenansprache an den Touchpoints auf die gesamte Customer-Journey verlagert. Hier ist vielleicht der Lebensmittellieferdienst Picnic ein gutes Beispiel, um den E2E-Gedanken besser zu verstehen. Das Geschäftsmodell ist über alle Bereiche von der Kundenakquisition, Kundenbestellung bis zur Kundenbelieferung und Kundeneinbindung aufeinander abgestimmt.Userfreundlicher Bestellvorgang in der App mit allen relevanten Features, Nachhaltigkeit (eigenentwickelte E-Fahrzeuge, Recycling und Mehrwegverpackung, Minimierung von Warenverlusten durch Verderb), ansprechende Qualität (strenge Wareneingangskontrolle) zu fairen Preisen (Einkaufskooperation mit EDEKA) sowie Kunden in kurzen Lieferfenstern pünktlich und freundlich zu beliefern, sind bei Picnic nicht nur ein Versprechen, sondern Unternehmenscredo der ganzen Organisation.
4. Experience-Ziele aufeinander abstimmen
Ein weiteres wichtiges Element für ein erfolgreiches Business-of-Experience ist das abgestimmte Zusammenspiel von Daten, Technologie und Menschen.Ohne Daten ist es unmöglich, situative Kundenbedürfnisse zu erkennen und zu befriedigen. Ohne die richtigen Technologien können weder die Daten zu vertretbaren Kosten ausgewertet noch situative Kundenerlebnisse entlang der Customer-Journey bereitgestellt werden. Und ohne die Menschen als, insbesondere im Handel, nicht wegzudenkender Faktor des Kundenerlebnisses, sind unvergessliche Momente überhaupt nicht denkbar.
Beispiel DM
Der Drogeriemarkt DM gehört zu den Unternehmen, die diesen Dreiklang sehr gut hinbekommen. Dass DM mit dem Slogan „Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein“ schon lange den Faktor Mitarbeiter in den Mittelpunkt stellt, wird mit der hohen Investitionsbereitschaft in digitale Ausbildung und Ausstattung aller Mitarbeiter – auch in den Filialen – unterstrichen.Bei DM hat seit einigen Jahren jeder Mitarbeiter ein Smartphone und die Enterprise Social Network Software Yammer installiert. Diese Ausstattung dient als Kommunikations- und Arbeitsplattform in der Zusammenarbeit zwischen Filiale und Zentrale. Dabei helfen die Smartphones dem Filialpersonal auch zur besseren Beratung der Kunden (z.B. Produktdatenbereitstellung) und zur Optimierung der Store-Prozesse (z.B. Out-of-Stock-Situationen übermitteln).