Lässt du es jemand anders machen, wird es jemand anders machen, sagt unser Etailment-Experte Christian Kelm und fragt: Sind Amazons Eigenmarken nur Erfüllungsgehilfe, um die logistischen Prozesse auszulasten und Kunden zufriedenzustellen? Händlern rät er zu mehr Selbstreflexion.
Das Amazon Flywheel basiert auf zwei Zyklen: Gute Kundenerfahrung bringt mehr Kunden, das wiederum mehr Händler und dies führt zu mehr Angeboten. Schlussendlich für die Kunden wieder eine bessere Erfahrung mit mehr Auswahl, dadurch mehr Kunden und so weiter.
Warum das Flywheel oft falsch verstanden wird
Zyklus zwei läuft außerhalb dieses Systems, aber gleichzeitig - mehr Händler und mehr Artikel schaffen es, die Kostenstrukturen zu senken. Ausgelastete Hotels zu günstigen Zimmerpreisen sind nun mal besser als wenig ausgelastete Hotels mit teuren Übernachtungspreisen.Diese Prozesse stellt aber Amazon - heißt, auch die mutmaßlich niedrigeren Kosten sind vornehmlich im Hause Amazon anzutreffen und nicht beim Händler oder Kunden. Der Preisdruck auf Händlerseite entsteht durch mehr Wettbewerber. Das wird leider beim Flywheel oft falsch verstanden.
Die Auslastung muss stimmen
Sind also die Strukturen aufgebaut und die Warenhäuser und die eigene Logistikflotte, muss die Auslastung stimmen - sonst wird es teuer für Amazon! Schaffen es Händler und Hersteller nicht, dieses System auszulasten, was Kunden fordern, muss Amazon aktiv werden.
500 Gramm Nüsse sind nicht gleich 500 Gramm Nüsse
Der Kunde will Cashewkerne im 500g-Beutel und deine sind immer nach einem Tag alle, aber du hast doch noch 250g-Packungen - ist dem Kunden egal, er will nicht zwei bestellen. Also schiebt Amazon eigene Ware nach. Das System lässt sich in viele Bereiche überführen und führt zu einem Schluss: Amazon macht niemanden nach, sondern geht in die Schwächen der Marktbedienung rein, wenn es notwendig ist.Welcher Bereich kann davon besonders betroffen sein? Natürlich Fashion - hier ist es absolut schwer, ständig jedes Modell und jede Größe vorrätig zu halten. Nicht ohne Grund empfiehlt Amazon schon seit drei Jahren Vendoren endlich Seller zu werden, um die Trends und Katalogwechsel besser steuern zu können.
Lange Zeit glaubte man sowas nicht unbedingt, doch die neuesten Zahlen aus den Meldungen an den Kongress in den USA belegen doch deutlich, was Amazon und seine Eigenmarken sind.


Die eigentliche Idee hinter den Eigenmarken
Natürlich hat kein anderer Händler weltweit einen solch hohen Anteil am gesamten Markt im Bereich Umsatz oder stellt in Summe so viele Listings - aber betrachtet man es Stück für Stück, wird deutlich, was möglicherweise die eigentliche Idee hinter Amazons Eigenmarken ist.Wo die Nachfrage eher markengebunden ist wie bei Beauty oder Spielzeug, sieht Amazon kaum eine Eintrittschance, da trotz unbefriedigter Nachfrage kein Wechsel der Käufer auf eine andere Marke entsteht.
Anders ist es bei Fashion, dank der häufigen Trendwechsel oder geschmacklicher Vorlieben im Bereich Deko oder bei Consumer Electronics oder Küche und Haushalt mit der breiten Produktpalette. Überall kann Amazon Lücken füllen und sein System an der Auslastung halten, die Profite immer nur dann garantiert, wenn Kunden zufrieden ihr nachgefragtes Produkt erhalten.
Wie war das bei Rakuten?
Was passiert also am Ende, wenn die Händler und Hersteller auf Amazon ihrer Annahme treu bleiben, sie würden die Kunden doch kennen aus Jahren der Interaktion? Es wird jemand anders kommen und es anders machen - vielleicht daten- und nachfrageorientiert und immer nur dann, wenn Schwächen aufgedeckt werden? Ich sage definitiv JA!Lässt du es jemand anders machen, wird es jemand anders machen! Wann stellt endlich mal jemand die Königsfrage im Fall Rakuten? Ist der Marktplatzanbieter schuld oder die Händler? Wer ist zuständig für Kundenzulauf? Auf Amazon schimpfen doch alle wegen der Macht, dass Amazon den Kunden hat ... Wer hat jetzt bei Rakuten versagt?
Haben die Händler sinnvolle Artikel angeboten, die Kunden anlocken, oder doch nur das ominöse Copy-Paste-Multi-Omni-Channel-Gedöns gespielt?
Der Rennwagen Amazon hat noch keinen Bodenkontakt
Die einzige Hoffnung ruht nun darauf, dass Amazon nie Tag 2 ins Leben ruft. Sein Flywheel und seine Logistik und seine Zustellflotte und seine Marken könnten sich irgendwann emanzipieren.Der Hochleistungssportwagen Amazon fährt im vierten Gang - oder anders gesagt: Aufgebockt steht er auf der Stelle und drückt voll auf das Gaspedal. Tag 2 ist der Tag, wenn Bodenkontakt hergestellt wird - das System Amazon muss Geschwindigkeit aufnehmen. Noch arbeitet es geruhsam an der eigenen Auslastung. Sobald hier in der Nachfragedeckung die Lücken noch größer werden, wird das Problem relevant und man schaltet einen Gang höher.
Es ist nicht zu spät zu lernen
Jetzt gibt es immer noch die Chance daraus zu lernen. Denkt mal nach - über meine These, dass Amazon nicht kopiert, sondern selbst in den Markt stellt, wo ihr die Kundennachfrage nicht voll abbilden könnt - und geht endlich genau darauf ein. Was wollen Kunden? Was verkauft Amazon? Wo ist der echte Unterschied?Achtung: Zweimal 250 Gramm Cashewkerne sind zwar auch 500 Gramm, aber halt nicht 500 Gramm in einem Beutel!
Solltet ihr leider zu dem Schluss kommen, dass Amazon billiger ist, weil es von der Fabrik an den Kunden liefert und so Kosten spart, merkt ihr, wir sind im 21. Jahrhundert angekommen - der Zwischenhändler ist schon lange überflüssig! Solltet ihr denken, Amazon kopiert euch, müsst ihr euch fragen, ob ihr die gesamte Marktnachfrage dauerhaft befriedigen konntet.
Eigene Fehler erkennen statt über Amazon schimpfen
Solange ihr nicht in die Verantwortung steigen und endlich etwas ändern wollt, lasst ihr es immer andere machen! Also kommt damit klar, dass andere es auch anders machen! Über Amazon und die Kunden zu schimpfen, ist doch nur mangelnde Selbstreflexion, eigene Fehler und Ängste zu erkennen.Zuallererst müsst ihr loslassen. Händler von ihren vormalig profitablen Artikeln, die plötzlich keiner mehr will und der stationäre Handel von weltfremden Konstrukten, die keine Kunden mehr glücklich machen ...