
Wie erleben Sie die Digitale Transformation mit Blick auf das Kundenverhalten?
Gerrit Heinemann: In einer Studie mit KaufDa haben wir festgestellt, dass es in Deutschland 55 Millionen regelmäßige Internetnutzer über 14 Jahren gibt, es gibt 45 Millionen Internetkunden und - das ist das Entscheidende – knapp 50 Millionen Smartphone-Nutzer. Bewaffnet mit dem Smartphone gehen sie in die Geschäfte. Doch das haben viele Händler gar nicht auf Schirm. Da baut sich bei den Nutzern eine hohe Erwartung an die Nutzbarkeit auf, doch die erfüllt sich in der Regel nicht, weil die Digitalisierung vor der Ladentür aufhört.
Was erhofft sich der Kunde?
Gerrit Heinemann: Erstens. Das Gerät – Stichwort Netzabdeckung und WLAN - auch im Laden nutzen zu können. Das ist Mindeststandard. Und: Nicht wegen der Smartphone-Nutzung des Ladens verwiesen zu werden, wie es erschreckend häufig (noch) vorkommt.
Zweitens: Händler müssen der Erwartung der Kunden Rechnung tragen, dass Kunden ihren stationären Einkauf auf dem mobilen Gerät vorbereiten können. Über 52 Prozent der Smartphone-Nutzer erwarten einen mobilen Onlineshop, gleichgültig wie klein oder groß der Händler ist. Der Kunde will Preise checken, die Produktverfügbarkeit prüfen und lokale Informationen abrufen können. Obendrein hätte der Kunde gerne ein echten, funktionierenden „Click & Collect“-Service.
Den gibt es doch schon reichlich.
Gerrit Heinemann: „Click & Collect“ ist doch hierzulande ein Etikettenschwindel hinter dem sich lediglich „Ship to Store“ verbirgt, also im Online-Shop gekauft und nach Tagen in die Filiale geliefert!
"„Click & Collect“ ist doch hierzulande ein Etikettenschwindel"
Wie groß ist der Nachholbedarf?
Gerrit Heinemann: Maximal 25 Prozent der Händler in Deutschland haben einen Onlineshop 30 Prozent haben einen Webshop oder einen Online-Auftritt. Davon hat gerade einmal die Hälfte einen mobil optimierten Auftritt. Also sind 85 Prozent der Händler nicht dort, wo der Kunde ist. Als hätten diese Händler eine digitale Allergie. Wer kundenorientiert auftreten will, muss aber digital präsent sein.
Und dann fangen die Herausforderungen erst so richtig an?
Gerrit Heinemann: Richtig. Wir sehen doch vielfach Händler, die nur mit einem Mini-Sortiment online sind. Der Kunden muss da das Gefühl haben, in verschiedenen Welten unterwegs zu sein. Multichannel muss aber widerspruchsfrei und nahtlos dargeboten werden. Da hinkt Deutschland im internationalen Vergleich mächtig hinterher. Vor allem beim Sortiment und dessen Dimensionierung.
Manch einer tröstet sich damit, dass er Marktanteile kleinredet, seine Zielgruppe woanders sieht oder auf einen niedrigen Anteil am mobilen Traffic verweist.
Gerrit Heinemann: Die Einkaufs-Recherche des Kunden beginnt mehrheitlich – Ausnahme Lebensmittel – auf dem mobilen Endgerät. Das sagen nun wirklich alle Studien. In welchen Kanälen er dann unterwegs ist, hängt auch von der Qualität des Auftritts ab. Mobile ist aber der Zubringer Nummer 1. Präsenz ist also Pflicht. Man muss ja nicht gleich den besten Shop der Welt bauen. Aber man muss loslegen. Wenn der Händler aber nur sieht, dass ein Kunde in den Laden kommt, ist ihm auch nicht zu helfen. Wer sich der Digitalisierung nicht stellt, darf sich nicht wundern, wenn er den Laden eines Tages dicht machen kann.
Gibt es ein Heilmittel gegen die digitale Allergie?
Gerrit Heinemann: Manche Händler wollen einfach nicht. Die wollen wahrscheinlich sterben. Das muss man akzeptieren. Wozu noch Sterbehilfe leisten?
"Wer die Digitalisierung mit Vollgas vorantreiben will, muss auch Komfortzonen abbauen"
Manche Händler wollen vielleicht, können aber nicht so schnell oder so agil. Wo können die sich etwas abgucken? Bei den Startups?
Gerrit Heinemann: Diese Händler können gerne mal bei Joachim Stoll vorbeischauen. Der hat ein Lederwarengeschäft in Frankfurt und hat schon vor Jahren mit Koffer24.de ein Online-Startup gegründet, hält auch im Laden mit der Digitalisierung Schritt. Das ist also auch für mittelständische Händler machbar, wenn sie den inneren Schweinehund überwinden und sich von den gängigen Vorurteilen lösen wie z.B.: „E-Commerce-lohnt sich nicht!“.
Je größer das Unternehmen, desto größer der innere Schweinehund?
Gerrit Heinemann: Ich höre aus vielen Unternehmen, dass die Mitarbeiter im mittleren Management viel weiter sind als die Führungsriege. Die machen sich zum Teil sogar Sorgen, weil das Top-Management den Zug der Zeit nicht erkennt. Es fehlt zuweilen nicht nur am Bewusstsein für die Notwendigkeit der Transformation, sondern auch an der Risikobereitschaft. Ein Konzern muss ja nicht nur viel Geld in die Hand nehmen, wenn das Management beschließt, die Digitalisierung mit Vollgas voranzutreiben, er muss auch Komfortzonen abbauen – bei den Mitarbeitern, bei den Führungskräften.
Was tun?
Gerrit Heinemann: Ein Weg ist sicherlich, sich in der Frühphase an Startups zu beteiligen und so ein intelligentes digitales Portfolio aufzubauen. Davon kann man lernen. Aber da ist auch viel Naivität im Spiel. Denn gleichzeitig muss man intern die Prozesse verschlanken und die Organisation so aufbauen, dass man die Impulse aus dem digitalen Portfolio auch umsetzen kann. Da hakt es dann häufig wieder, weil die Komfortzone in Gefahr ist.
"In Deutschland steht die Investitionsbereitschaft für die Transformation unter dem Motto: ´Wasch mir den Pelz, aber macht mich nicht nass`. Das funktioniert nicht."
Wenn`s ums Geld geht, kommt es zum Schwur. Wie groß muss ein Investment denn sein?
Gerrit Heinemann: Eine echte, konsequente digitale Transformation gleicht einem umfassenden Sanierungsprojekt. Also nicht kleckern, sondern klotzen und ganz tief schneiden, um die notwendigen Mittel zu mobilisieren. In Deutschland steht die Investitionsbereitschaft für die Transformation aber unter dem Motto: ´Wasch mir den Pelz, aber macht mich nicht nass`. Das funktioniert nicht. Wer ständig übervorsichtig in zu kleine Systeme investiert, läuft am Ende in eine Wachstumsfalle – von visionären Investments gar nicht zu reden. Unternehmen müssten alle Anstrengungen unternehmen, den Laden und Handel der Zukunft zu erfinden.
In wie weit helfen da digitale Berater weiter?
Gerrit Heinemann: Es genügt sicherlich nicht, sich einmal einen sogenannten „Digital Native“ ins Haus zu holen. Wie jede Sanierung muss auch die digitale Transformation von externen Experten begleitet werden. Dafür braucht es Spezialisten. Mit diesen muss das Unternehmen zunächst eine tabulose Bestandsaufnahme erstellen. Erst dann kann man eine digitale Strategie entwickeln. Man muss auch erst einmal sehen, wie viel Digitalisierung man in seiner Branche braucht. Es macht doch keinen Sinn, pauschal loszurennen und erst einmal – salopp gesagt - eine App zu entwickeln. Die Verantwortung muss zudem im Vorstand verortet werden. Ein CDO (Chief Digital Officer) könnte da ein Anfang sein, allerdings nicht als zahnloser Tiger. Aber dazu braucht es auch eine digital ausgerichtete Führungsorganisation. Es klappt nicht mit der althergebrachten funktional orientierten Organisation.
Wer wird denn in den kommenden Jahren die digitale Transformation geschafft haben?
Gerrit Heinemann: Vermutlich werden das erschreckend wenige Händler sein. Viele werden die Kurve nicht kriegen, weil sie das Thema und die Dringlichkeit unterschätzen.
Jeder im Handel muss sich klar sein, dass der Online-Anteil steigen wird, ohne dass der Kuchen größer wird. Klar muss auch sei, dass das statistische Bild durch die hybriden Handelsformen schon jetzt verfälscht ist. Wenn der Kunde ein Produkt online entdeckt oder bestellt, die Ware aber im Laden abholt und bezahlt, wird das als Flächenumsatz ausgewiesen, ist aber im Grunde hybrider Umsatz. Zudem fließen immer mehr Anteile des Einzelhandelsumsatzes über Cross-Border-Geschäfte ins Ausland ab.
Womöglich werden die großen internationalen Player, die schon einen Vorsprung haben und in Deutschland Chancen sehen, jene deutschen Händler kaufen, die noch Potenzial haben und ihnen einhauchen, was „digital“ heißt. Der Kauf von Kaufhof durch Hudson's Bay ist dafür ein Paradebeispiel.
In einer neuen Serie beleuchtet etailment die digitale Transformation und die digitale Disruption in den kommenden Wochen aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit Interviews, Analysen, Best Cases und Tipps.