Andreas Reiffen, Crealytics
Andreas Reiffen, Crealytics
Jahrelang haben Online-Versandhändler Google dankbar als Instrument zur gezielten Neukunden­akquise und als Wachstumsmotor genutzt. Doch unlängst hat der Technologie-Konzern damit begonnen, in das Revier seiner Partner vorzustoßen, um weitere Teile der Wertschöpfungskette in die eigenen Hände zu nehmen. Die Google-Akquisitionen und jüngsten Marktentwicklungen lassen erwarten, dass der Versandhandel und die Reisebranche es zukünftig mit einem mächtigen, ambivalenten Spieler zu tun haben werden: dem Googleversum. Andreas Reiffen, Gründer und CEO des SEA-Unternehmens Crealytics, schildert in einem Gastbeitrag für etailment einen Masterplan, der Onlinehändler zu reinen Logistikunternehmen degradieren könnte.



174 Google Akquisitionen, über 100 Services und dennoch 90 Prozent Werbeeinnahmen

Google hat seit 2002 eine phänomenale Entwicklung genommen und konnte im Jahr 2014 insgesamt Umsätze von 66 Milliarden Dollar für sich verbuchen. Rund 90 Prozent dieser Umsätze sind auf die Werbevermarktung zurückzuführen, die 2002 mit der Pay-per-Click-Plattform AdWords ihren Anfang nahm.

Trotz des Erfolges von AdWords hat Google bis einschließlich 2014 insgesamt 174 Unternehmen gekauft und im Laufe der Zeit ein Sammelsurium von über 100 Google-Produkten geschaffen. Vor diesem Hintergrund erscheint es fast erschreckend, dass Google dennoch nur rund 10 Prozent seiner Umsätze abseits der Werbevermarktung erzielt. Was ist der Zweck der Produkte, wenn sie kaum Geld abwerfen? Warum hat Google seit 2013 allein acht Unternehmen aus dem Bereich Robotik zugekauft? Sehen wir einen verspielten Konzern, der sich verzettelt, oder hat Google einen Masterplan?


Google ist mehr als nur die Summe der einzelnen Teile

Gmail, Andoid, Kalender, Drive oder YouTube: durch die zahlreichen Produkte und Services hat es Google geschafft, dass es – zumindest in der digitalen Welt – nur noch wenige Menschen gibt, die kein Google-Konto besitzen. Google ist damit bestens aufgestellt, um Cross-Device-Targeting und -Tracking, die als Schlüsselelemente von mobiler Werbung gelten, erfolgreich umzusetzen. Zudem kann Google über jeden einzelnen dieser Services wertvolle Daten sammeln, um Werbung noch zielgerichteter auszusteuern und letztlich den ROI der Werbepartner und damit deren Investitionsbereitschaft zu erhöhen.

Aber auch jenseits der Datensammlung machen die Services Sinn, weil sie untereinander vernetzt sind, Synergien erzeugen und hohe Markteintrittsbarrieren für potenzielle Wettbewerber schaffen. So verbindet Google+ wichtige Services wie Chat, Hangout, YouTube oder Picasa; Google Now nutzt Maps, Gmail, Kalender und Translate; Android ist eng mit fast allen Produkten verzahnt; und Google Shopping Express greift auf Maps zurück und bedient sich der Google-eigenen Payment-Lösung Wallet.

Mit einem derartigen Arsenal an Produkten kann Google schnell in neue Bereiche vorstoßen und den alten Platzhirschen den Markt streitig machen. Genau das passiert aktuell im Versandhandel.

Google Shopping, Wallet und Google Express verändern den Versandhandel

2012 wurde Google Shopping als Nachfolger von Froogle ins Leben gerufen und ist seitdem rasant gewachsen. Wie wir in unseren US-Kampagnen sehen, werden über Google Shopping bereits mehr (Non-Brand) Klicks erzielt als über Textanzeigen.

Mit Shopping schlägt Google gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe. Einerseits ist der zur Verwaltung und Optimierung erforderliche Arbeitsaufwand im Vergleich zu Textanzeigen deutlich geringer. Advertiser können sofort ihr gesamtes Produktsortiment bewerben, ohne sich mit Anzeigentexten oder Ziel-URLs beschäftigen zu müssen. Andererseits erzielen die Produktanzeigen einen deutlich höheren ROI, was automatisch zu einer höheren Investitionsbereitschaft seitens der Werbekunden führt.



Doch was zunächst einladend aussieht und vielen Versandhändlern kurzfristig sicherlich Rückenwind gegeben hat, birgt mittelfristig erhebliche Risiken. Google Shopping erhöht die Markttransparenz und schafft einen nahezu perfekten Markt, in dem Gewinne schnell durch den Wettbewerb aufgezehrt werden.

Erst kürzlich hat Google zudem angekündigt, seinen Nutzern mittels eines „Kaufen“-Buttons auch den Kaufabschluss auf Google zu ermöglichen. Der Button, der unterhalb der mobilen Google-Shopping-Ergebnisse erscheinen soll, erlaubt dem Nutzer seinen Einkauf weiter zu spezifizieren, z.B. Größe und Farbe festlegen, und die Transaktion auf Google abzuschließen. Während Google so den Großteil des wertvollen Traffics auf der eigenen Webseite halten würde, drohen Online-Versandhändler zu reinen Logistikunternehmen degradiert zu werden, die Ware auf eigenes Risiko einkaufen und diese am Ende über Google verkaufen.

Viele Versandhändler haben längst damit angefangen, nach Auswegen zu suchen. Dies sind die gängigsten Strategien:

  • Tiefere Wertschöpfung durch eigene Marken: Händler werden mehr und mehr zu Markenherstellern, indem sie eigene Marken aufbauen und diese direkt und exklusiv vertreiben. Auf diese Weise können höhere Margen, stärkere Kundenbindung und bessere Differenzierungsmerkmale erzielt werden. ASOS ist hier einer der Vorreiter und fährt mit dieser Strategie sehr gut. Zalando hingegen wollte gleich über ein Dutzend eigener Marken etablieren, erzielt aber bis heute nur rund 25 Prozent seiner Umsätze mit Eigenmarken.
  • Vermittlung von Käufern über einen Marktplatz: Eigentlich eine effektive Strategie, um mit niedriger Kapitalbindung zu agieren, höhere Margen zu erzielen und unliebsame Aufgaben an Dritte abzutreten. Allerdings besteht das Risiko, dass Google die Rolle der Marktplätze übernimmt und versuchen wird, direkte Beziehungen zu den Marktplatzpartnern zu etablieren. Marktführer mit großer Reichweite, die heute bereits Marktplätze betreiben (Alibaba, Amazon und ggf. auch Zalando), werden versuchen, dieses Geschäft weiter auszubauen. Für neue Herausforderer wird kaum Platz sein.
  • Monetarisierung des eigenen Traffics über Werbung: Alibaba soll rund die Hälfte seiner Umsätze bereits durch die Vermarktung von Werbung auf seinen eigenen Seiten erzielen. Amazon dreht seine Advertising Services auf und Zalando springt ebenso auf den Zug auf und kündigt seine Media und Advertising Platform an. Für die reichweitenstarken, technologieorientierten Unternehmen ist Werbung auf der eigenen Plattform ein vielversprechender Weg, um zu wachsen und gleichzeitig höhere Margen zu erzielen. Diese Strategie geht allerdings nur solange auf, wie Google als reiner Traffic-Vermittler agiert. Sollte Google versuchen, seine Nutzer verstärkt auf den eigenen Seiten zu halten, und vielleicht sogar einen Kauf-Button einführen, würde der Nutzerzufluss abreißen. Ohne Reichweite ließe sich auch kein Geld mehr mit Werbung verdienen.

Ironischerweise könnten Online Pure Player in Zukunft aber auch Konkurrenz von den einst totgeglaubten stationären Händlern bekommen. In den USA bindet Google bereits heute Produkte lokaler Händler ein, die sich schnell und bequem direkt über Google Wallet kaufen lassen und innerhalb weniger Stunden bis nach Hause geliefert werden. Während man heute noch einen Fahrer von Google Express an seiner Haustür treffen wird, erfolgt die Lieferung der Ware morgen womöglich mithilfe des ‚Self-driving Car’. Ein Roboter, der das Paket zuvor bei einem lokalen Händler abgeholt hat, bringt dieses dann direkt an die Haustür. So machen dann auch die acht Zukäufe von Robotik-Unternehmen in nur zwei Jahren plötzlich Sinn.

Führende stationäre Händler wie Zara oder H&M, die sich online bislang sehr schwer getan haben, könnten durch die Nähe zum Kunden so doch wieder einen Vorteil erlangen und ein ernsthaftes Wort im Online-Geschäft mitreden. Jedenfalls würde Google auf diese Weise die Markttransparenz auf den stationären Handel ausweiten, was reinen Onlinern zusätzliche Konkurrenz bescheren würde. Wer weiß, wie viele Ladenhüter in irgendwelchen kleinen Läden zu finden sind, die dann auf Google Shopping landen und günstig verscherbelt werden?

Fazit

Hätte der (Versand-)Handel bereits alle Probleme gelöst, gäbe es weniger Angriffsfläche für die führenden Internetkonzerne. Ich glaube allerdings, dass noch jede Menge Raum für Innovationen vorhanden ist: So fände ich es als Kunde nicht verkehrt, wenn ich mich schon eine Stunde nach der Bestellung über mein Paket freuen könnte. Auch hätte ich nichts gegen mehr Transparenz und günstigere Preise oder neue Shops, die mir ein maßgeschneidertes, kuratiertes Angebot zur Verfügung stellen.

Google oder auch Facebook werden es sich nicht nehmen lassen, Innovations- und Umsatzpotenziale in angrenzenden Branchen zu nutzen – auch wenn sie damit in Wettbewerb mit ihren Partnern treten. Viele der kleinen Online-Versender, die sich heute noch über Wasser halten können, werden auf längere Sicht schlechte Karten haben. Einigen Wenigen wird es gelingen, echte Marken aufzubauen, Kunden emotional zu binden und von den mächtigen Traffic-Lieferanten unabhängig zu bleiben.  Das ein oder andere dieser Unternehmen wird sich vermutlich daran versuchen, ein eigenes Öko-System bestehend aus Marktplatz, Werbeplattform und weiteren Services zu etablieren – ganz nach dem Vorbild von Google, Amazon oder Alibaba.