Der ehemalige Aldi-Detektiv Wolfgang Paul erzählt im Interview über beißende Diebe, Überwachung in der Spionbox - und die schlechten Arbeitsbedingungen in der Detektivbranche.

Allerdings. Diese Boxen waren bis zur Einführung der Videokameras in Betrieb, die erfolgte so ab dem Jahr 2005.
Und darin saßen Sie den ganzen Tag und haben auf die Fläche gestarrt?
Ja, in einem Kasten, der zwei Meter hoch und halb so breit ist wie eine Europalette. Alle Wände sind mit Spiegeln versehen, durch die ich von innen durchsehen konnte. Ich hockte dann auf zwei übereinander gestapelten Brotkisten - von 8 bis 20 Uhr.
Am Stück?
Nein, nein, alle zwei Stunden musste ich Pause machen, sonste wäre ich fangblind geworden, wie ich es mal ausdrücken möchte. Es gab aber auch Detektive, die haben versucht, die ganze Zeit in der Box zu sitzen.
Wie erfolgreich war letztlich Ihre Überwachung?
Allein durch die Spionbox habe ich gut 1.500 Ladendiebe überführt, insgesamt werden es fast 3.000 gewesen sein.
Was wird bei Aldi eigentlich so geklaut?
Was das Sortiment hergibt, querbeet. Es beginnt damit, dass Kunden im Laden Verpackungen aufreißen und den Inhalt aufessen oder trinken. Dann wurde versucht, Mobiltelefone und PCs mitzunehmen. Aber am meisten geklaut wurden Zigaretten und Alkohol, vor allem in den städtischen Filialen. Es gab auch immer wieder Fälle von Bandenkriminalität, als etwa Diebe mit einem Transporter rückwärts vor die Ladentür fuhren. Von innen kamen ihre beiden Kollegen mit zwei Fernsehern im Einkaufswagen angestürmt. Die Geräte wurden in Windeseile ins Auto gehoben - und ab gings.
Ließ sich jeder Dieb widerstandslos festnehmen?
Es gab immer wieder Überraschungen in alle Richtungen. Ich habe erlebt, dass ein zwei Meter großer und enorm kräftiger Mann fast in Tränen ausgebrochen ist - und ein Teenager wiederum sich gewehrt hat wie der Teufel. Und dann gab es ja noch eine Bankangestellte, die mir in den Arm gebissen hat.
Bitte?
Ja, sie hatte bereits einen Teil der Ware bezahlt und war Richtung Ausgang unterwegs, als ich sie ansprach. Die Frau drehte sich sofort um und schnappte regelrecht zu. Das war ein Reflex, wie bei einem Kampfund. Glücklicherweise war Winter und ich trug Pulli und Lederjacke, mir ist also nichts passiert. Die Frau hatte sich gut zwanzig Sekunden in meinem Arm verbissen.
Und was hatte sie gestohlen?
Nichts Aufregendes, ein paar Süßigkeiten, Kajalstifte - es war ein Warenwert von vielleicht 30 Euro.
Stehlen nur Kunden, oder haben Sie auch unehrliches Personal aufgegriffen?
Und ob. Vor der Einführung der Pfandflaschenautomaten bei Aldi haben Mitarbeiter das alte Pfandrückgabesystem gnadenlos ausgenutzt, um sich Geld in die Taschen zu stecken. Die haben einfach in die Kassen eingegeben, wieviele Flaschen sie angeblich abgegeben haben - und sich dann das Pfandgeld genommen. Den Rekord hält ein ehemaliger Filialleiter, der es mit diesem System auf insgesamt 11.000 Euro brachte.
Klaut nur Aldi-Personal? Schließlich kennen Sie ja noch andere Lebensmittelhandelsbetriebe.
Da gibt es den Fall eines Filialleiters einer Supermarktkette, den Namen darf ich nicht nennen. Der Mann wollte sich mit einem eigenen Laden selbstständig machen - und hat dafür nach und nach aus der Filiale, in der er angestellt war, Ware mitgenommen. Kistenweise. Daheim hatte er den ganzen Keller voll, zusätzlich eine Doppelgarage. Dieses Lager sollte das Startkapital für seine neue Existenz als Unternehmer sein.
Gab es auch Diebe, die Ihnen leid taten, die Sie gar laufen ließen?
Grundsätzlich habe ich alle angesprochen. Strafe musste jeder zahlen. Nur lag es im Ermessen von mir und dem Filialleiter, ob wir auch die Polizei holen. Da haben wir gelegentlich Gnade vor Recht ergehen lassen. Ich erinnere mich da an eine ältere Frau, die ich in einer Filiale in München überführt habe. Sie trug einen zerschlissenen Mantel, hatte eine Wurst und Gurken im Glas mitgenommen. Als ich sie dann zur Rede stellte, hörte ich ihre Lebensgeschichte. Trümmerfrau, Mann im zweiten Weltkrieg verschollen, eine Rente, die vorne und hinten nicht reichte. Ich habe sie dann ermahnt - und laufen lassen.
Aber jeder aufgegriffene Dieb brachte Ihnen doch zusätzliches Geld?
Richtig, zuletzt bekam ich 25 Euro als sogenannte Fangprämie.
Und wie hoch fiel Ihr regulärer Lohn aus?
22 Euro die Stunde, und war damit überdurchschnittlich.
Aber trotzdem bescheiden.
Mein Steuerberater hatte mir immer gesagt, dass ich als Selbständiger mindestens 30 Euro Stundenlohn brauche, damit der Job sich lohnt. Ich hatte schließlich zuweilen über 200 Kilometer Anreise zu einer Filiale - einfacher Weg, wohlgemerkt. Diese Kosten musste ich immer selber tragen.
Welche Leute lassen sich auf eine Beschäftigung ein, bei der man so wenig verdient?
Gute Frage. Ich habe eine Detektivin in einem Baumarkt kennengelernt, der das Arbeitsamt geraten hatte, sich mit diesem Job selbstständig zu machen. Ihr wurden dann 800 Euro monatlich als Überbrückungsgeld gezahlt - ihr regulärer Stundenlohn betrug 12 Euro brutto. Wovon will die Frau leben, wenn sie kein Überbrückungsgeld mehr vom Amt bekommt? Das ist unmöglich.
Dann steigt der Druck, sich Fangprämien zu sichern.
Es gibt ja schon genug Detektive, die schlechter Deutsch lesen und schreiben können als meine siebenjährige Tochter, und die sich darauf spezialisiert haben, Aldi-Kunden zu überführen, die vergessen haben, ihre Brezel am Backautomaten zu bezahlen. Die Detektiv-Branche braucht dringend eine Gewerkschaft, die faire Löhne aushandelt und für allgemeingültige Ausbildungskriterien sorgt. Ich hatte doch auch nicht mehr als einen Vorbereitungskurs bei der Industrie- und Handelskammer. Das geht Tausenden so.
Wie erleben Sie die Detektivbranche heute?
Es gibt immer mehr unqualifiziertes Personal, das die Arbeit macht. Unqualifiziert und brutal. Da wird selbst bei geständigen Ladendieben der Polizeigriff angewandt, so dass den Leuten bald der Arm ausgekugelt wird. Die Verhältnismäßigkeit stimmt oft nicht mehr.
Interview: Steffen Gerth
Zur Person: Wolfgang Paul war rund 15 Jahre lang selbstständiger Detektiv, überwiegend für Aldi in Süddeutschland, zwischendurch auch für einen anderen Lebensmittelhändler. Heute arbeitet Paul in einer Firma, die Verdecke für Motorboote herstellt. Zusammen mit dem ehemaligen Aldi-Bezirksleiter Andreas Straub hat er ein Buch geschrieben mit dem Titel "Der Schatten - Im Visier des Privatermittlers" (Rororo), in dem er nicht nur seine Detektiv-Zeit bei Aldi aufarbeitet.