Festival, Party oder Messe? Unterhaltung oder Hintergrund? Kreative Anstöße oder fader Werbesprech? Sicher ist eigentlich nur, dass die Online-Marketing-Rockstars am 7. und 8. Mai in Hamburg Grenzen und Rekorde sprengten. Für etailment hat sich Christian Hanke, Creative Director und Partner der Digitalagentur Edenspiekermann umgesehen und Gedanken zur Veranstaltung gemacht.
Hamburg Messehallen, 7. Mai um 9 Uhr. Eine Bühne so breit wie der gesamte Raum und vor ihr Platz für Tausende von Menschen. "Welcome to #OMR19 – I hate it." hatte ich gerade noch draußen auf einem gigantischen Grumpy-Cat-Poster gelesen und das stimmte mich etwas auf das Bevorstehende ein. 7500 Marketing-Profis waren mit mir gekommen, erwarteten Tiefgang und Anregung und mussten sich im Laufe der beiden Tage doch mit Scooter, den elektronischen Tanzmusikern aus Hannover, und mehr Musikern abgeben. Ob sie dies nun wollten oder nicht.

Hohe Ansprüche, viele Ideen – und ein fehlender Fokus
Mit der diesjährigen Erweiterung des Themenspektrums wurde der Einzugskreis enorm vergrößert. Einerseits. Andererseits litten die OMR 2019 gerade unter dieser Entgrenzung. Die bislang sehr spitze Zielgruppe hat sich im Vergleich zum Vorjahr um 12.000 Besucher erhöht und damit nicht nur das Festival auf ein neues Level gehoben, sondern selbstverständlich auch die damit einhergehenden Erwartungen an den Besuch. In den letzten Jahren galten die OMR hauptsächlich noch als eine kurze Auszeit vom Arbeitsalltag und den sonst eher langweiligen Kongressen und Messen, vordergründig dazu da, um den Kopf mit frischem Input zu versorgen. Doch nun hat ein nicht zu ignorierender Paradigmenwechsel stattgefunden. „Digitalmarketing ist so relevant geworden, dass es in die Mitte der Gesellschaft gerückt ist“, nennt Gründer und Veranstalter Philipp Westermeyer in einem Interview mit einer Hamburger Tageszeitung einen Grund für diese Entwicklung.
Diese sollte eigentlich für die Branche wünschenswert sein – vorbei die Zeiten von blinkenden Bannern, nervigen Emails und Pop-ups ohne Ende. Ein Anspruch, dem die OMR in diesem Jahr gerecht werden wollte und dafür weder Kosten noch Mühen gescheut haben: Die Veranstalter kauften ein Spargelfeld, gründeten eine Würstchenfabrik, fertigten noch extra Schwenkgrills, um ihren Gästen kulinarische Köstlichkeiten zu servieren. Nicht nur bei der Versorgung der Gäste wurden neue Maßstäbe gesetzt: Mehr Bühnentechnik als beim Open-Air-Festival in Wacken, Hubschrauber-Shuttles für Top-Acts des Marketings und der Digitalbranche, und jeder hatte sein persönlich gebrandetes E-Auto aus Ingolstadt. Grenzen schien es nur einmal, nämlich „beim Einfärben der Elbe“, gegeben zu haben, wie Organisator Jasper Ramm einer Zeitung verriet.
Werbung und anderes Geschrei
Fragt sich allerdings, wann ist der Peak einer solchen Veranstaltung erreicht? Wenn die Grenze zwischen ernst gemeintem Input und eingekauften Corporate Keynotes verschwimmt und man hinterher nicht mehr weiß, ob man nun ein Konzert, eine Messe oder eine Konferenz besucht hat? Oder wenn „Big Tobacco unter dem Deckmantel der Digitalisierung sein nächstes Suchtmittel hip inszenieren darf, inklusive offenem Konsum des Produktes“, wie der Managing Creative Director von Jung von Matt bei LinkedIn feststellte? Die gewünschte kreative Auszeit gab es in diesem Jahr jedenfalls leider nicht. Entscheider, die bei Firmen und Konzernen die Werbebudgets verantworten, kamen bislang eher wegen der Inhalte, des Tiefgangs der Vorträge und der Networking-Party am Abend. Sie suchten Antworten auf die Frage, wo, wie und wann sie die höchsten Reichweiten, das beste Engagement und die stärkste Wirkung für ihr Digital- Budget bekommen.

Während das Hamburger Marketing-Festival bisher Antworten lieferte, kämpften die Gehirne der Besucher in diesem Jahr vehement gegen die allzu offensichtlich platzierten Werbebotschaften der Vorträge, während die Körper Slalom zwischen Promoter und Messestände liefen, die sehr auf Instagram ausgelegt waren. Und zu allem Überfluss mussten sie sich alle in der – natürlich gesponserten – „Energy Break“ auch noch von Scooter-Sänger H.P. Baxxter anschreien lassen.
Drei Trends und viele spannende Fragen
Auch wenn die OMR in diesem Jahr hinter meinen Erwartungen zurückblieben, konnten die wenigen Glanzmomente wenigstens beeindrucken: Etwa dann, als der Bestseller-Autor Yuval Noah Harari dem Publikum prophezeite, dass „Algorithmen uns besser kennen werden, als wir uns selbst“ und es damit spürbar verdutzt und verunsichert zurückließ. Oder dann, als Headspace-Gründer Andy Puddicombe es schaffte, mit 7500 Menschen zu meditieren und nachhaltige Learnings für die Bewältigung ihres stressigen Arbeitsalltags hinterließ. Auch als Gimlet-Gründer und Podcast-Gott Matt Lieber begeistert „den Start des zweiten, goldenen Zeitalters des Hörens“ ausrief und mit seinen Erläuterungen in den folgenden 20 Minuten vermutlich mindestens 7500 Podcast-Fans warb. Und noch ein Highlight: Die Masterclass „Mobility Circus” präsentierte sich als herausstechendes Panel und forderte ihr Publikum heraus, auch mit der spontanen Forderung, ganz auf die Dienstwagen zu verzichten. Dabei ging es auf dem Podium gerade um die Mobilität und ihre Zukunft, auch wenn kein Vertreter klassischer Autohersteller mitdiskutierte. War das ein Zeichen aus der Zukunft?
Was ich aus den beiden Hamburger Tagen mitgenommen habe: mindestens drei wichtige Trends und viele Fragen, zu denen noch in diesem Jahr hoffentlich tiefgreifende Antworten folgen.
Trend 1: Intelligent Future
Digitale Technologien versprechen eine neue Welt – eine intelligente Zukunft, die wir nicht verhindern, aber entscheidend mitprägen können. “Das werden wir nicht mehr miterleben” – war vor 25 Jahren noch Ausdruck von vernünftigem Realismus während es heute eindeutig als pessimistisch gilt. Werden wir, die Menschen, also bald durch digitale Assistenzen und Roboter ersetzt und gleiten in die Nutzlosigkeit ab oder bereichern Tech-Trends lediglich menschliches Leben?

Trend 2: Deutschland Digital
Die großen technischen Innovationen und Treiber der digitalen Transformationen haben das Tempo der Veränderung auf ein neues Level gehoben. Wo steht das digitale Deutschland im Jahr 2019, strahlt “Made in Germany” wie seit jeher oder haben wir bereits den Anschluss verloren? Haben die deutschen Unternehmen bereits wirklich verstanden, dass die Digitalisierung Voraussetzung für ein funktionierendes Business ist oder müssen wir endlich experimentierfreudiger und schneller werden?
Trend 3: Brand-Building
Die größte Herausforderung von Firmen und Marken bleibt der Aufbau von nachhaltigen Beziehungen zum Kunden. Sie sollte von Emotion und Transparenz geprägt sein und die Marke zu einer echten Persönlichkeit weiterbilden. Eine, die Stimme, Gesicht und eine Meinung hat. Niemand will mehr fade Werbe-Versprechen und inhaltsleere Botschaften. Inzwischen funktionieren Markenbotschaften nicht mehr, ohne eine direkte Verbindung zur menschlichen Seite der Unternehmen. Authentizität ist gefragt. Ohne Menschen keine Message. Technologie allein macht Kunden nicht glücklich, also wird die Frage, wie beides in Zukunft verbunden wird, immer wichtiger.
Festival? Messe? (K)ein eindeutiges Fazit
Doch nun mal „Butter bei die Fische“ wie die Hamburger sagen: Schafften es die Glanzmomente den faden Beigeschmack der OMR 2019 zu verdrängen und Nutzen zu vermitteln? Ich lege mich fest und bediene mich erneut der Aussage von Hamburgern: „Jein“. Ich hoffe, dass sich die kreativen Köpfe der OMR im nächsten Jahre statt auf Quantität wieder auf Qualität konzentrieren: auf mehr Inhalte und weniger Werbung, auf mehr Persönlichkeiten, weniger Unternehmensbitschafter, auf weniger Expo und mehr Erfahrung, Praxis, Lernen. Sonst würden sich die OMR auf nur einen Sinn reduzieren, auf das Treffen und den Austausch mit spannenden Menschen vor Ort. Für 2019 bleibt für mich nur das leicht zu meinen Gunsten geänderte Resümee des H.P. Baxxter: „OMR hat heute keinen Tiefgang mehr“ – aber hoffentlich 2020 wieder.