
Personalisierung liegt im Trend. Aber ist das nicht manchmal einfach nur chic und fancy?
Jens Scholz: Eine Technik, die dem einzelnen Händler einen erheblichen Wettbewerbsvorteil und mindestens ein mittleres einstelliges Umsatzwachstum bringt, muss man schon als „must have“ einstufen.
Im Webshop ist Personalisierung noch leicht vorstellbar. Wie lässt sich das auf andere Touchpoints im Omnichannel übertragen?
Jens Scholz: Richtig, das hängt vom Touchpoint ab. Vorrangig spielen hier die mobilen Endgeräte, wie Smartphones, eine Rolle. Doch auch Kassensysteme und deren von Fachverkäufern genutzte dezentrale Tochtergeräte werden heute schon zum Teil für die Personalisierung eingesetzt. Standard ist aktuell wiederum die Personalisierung im Kanal Newsletter. Hier lassen sich problemlos personalisierte Produkt- und Content-Empfehlungen in Echtzeit einbinden.
Welche Elemente werden besonders wichtig?
Jens Scholz: Es gibt drei wichtige Punkte: Relevanz, Relevanz, Relevanz. Wie man diese erreicht, ist nebensächlich. Wichtig ist, was immer ich auch mit der Personalisierung steuere – ob Inhalt, Produkt, oder Preis – es muss für den Empfänger relevant sein. Da gibt es bisweilen einfache Mittel und manchmal muss man tief in die Trickkiste greifen, um alle Abhängigkeiten und Umwelteinflüsse zu einem sinnvollen Ergebnis zu kombinieren.
"Eine gute Personalisierung hätte den Kunden erst gar nicht von der eigenen Seite verloren"
Welche Daten sind dafür die beste Basis?
Jens Scholz: Aus unserer Sicht sind fast ausschließlich Bewegungsdaten von Bedeutung. Die Erfahrung hat gezeigt, dass Stammdaten wie Alter, Geschlecht oder Familienstand für die Echtzeit-Personalisierung weniger nützlich sind als die Bewegungs- oder Transaktionsdaten. Letztere ermöglichen eine wesentlich relevantere Form der Personalisierung. Wichtig sind also alle Klicks, jedes aktuell angesehene Produkt, deren Reihenfolge und der Faktor Zeit.
Personalisierung könnte manchen Kunden aber auch überfordern oder nervös machen. Wie sensibel muss Personalisierung sein?
Jens Scholz: Ein Beispiel für wenig sensible Personalisierung ist das klassische Retargeting. Dabei werden auf anderen Webseiten anhand von Werbebannern Produktangebote ausgespielt, die ich als Kunde davor in einem Shop gesehen oder in den Warenkorb gelegt habe. Das hat für viele Kunden einen Stalking-Effekt. Man fühlt sich von dem Angebot sozusagen verfolgt.
Relevanz erzeugt man unseres Erachtens nicht, indem man den sprichwörtlichen Holzhammer schwingt. Ich sage mal provokativ, eine gute Personalisierung hätte den Kunden erst gar nicht von der eigenen Seite verloren. Händlern steht mit der Prognose der Abbruch-Wahrscheinlichkeit von Warenkörben ein mächtiges Tool zur Verfügung, um Incentives zur Verhinderung von Kaufabbrüchen wirtschaftlich sehr positiv und personalisiert auszusteuern. Das ist sensible Kundenbindung.
Ist das dann noch Werbung oder eigentlich schon Service?
Jens Scholz: Service. Langfristig wird das Thema Personalisierung ohnehin nur erfolgreich sein und bleiben, wenn es sich mit dem Servicegedanken verbindet. Gerade die, aus Sicht des Kunden, nahezu beliebige Austauschbarkeit der Shops in Bezug auf Sortiment und Preis bietet kaum eine Möglichkeit der Kundenbindung. Wer als Händler nicht in Service investiert – und gute Personalisierung sollte immer auf dieses Ziel einzahlen – hat es schwer im Wettbewerb. Alles was vom Kunden nicht als Service empfunden wird, setzt sich langfristig auch nicht durch.
"Marketing Automation bedeutet nicht nur einen bunten Blumenstrauß neuer Möglichkeiten zu nutzen, sondern auch bestehende Prozesse zu verbessern"
Dabei muss alles in Echtzeit passieren. Ohne Automatisierung geht dabei nichts mehr?
Jens Scholz: Richtig, denn guter Service muss immer der Situation entsprechen. Da interessiert es weniger, was der Kunde vor einem Jahr gekauft hat. Wenn beispielsweise ein männlicher Kunde im Webshop nach einem Geburtstagsgeschenk für seine Frau sucht, dann helfen ihm in dem Moment keine Produktvorschläge zur Erweiterung seines Kamera-Equipments, das er vor Kurzem dort gekauft hat. Ein intelligente Recommendation Engine reagiert ab dem ersten Klick auf die aktuellen Bedürfnisse eines jeden Nutzers – und lernt in Echtzeit mit jedem weiteren Klick dazu.
Immer wieder zitiert wird in diesem Zusammenhang die Story der US-Supermarktkette Target, die dank der Daten von der Schwangerschaft eines Teenagers noch vor den Eltern `wusste`, die dann aber die Werbepost aufmachten - und entsprechend überrascht waren. Das ist zwar ein paar Jahren her, aber kann Automatisierung auch heute noch ein Fluch sein?
Jens Scholz: Der Fall aus den USA in 2012 hatte als Auslöser eine konkrete Kampagne, in deren Vorfeld von einer Supermarktkette 25 Produkte identifiziert wurden, deren Kauf auf eine Schwangerschaft der Kundinnen hinweisen. Diese Kundinnen wurden anschließend mit entsprechenden Coupons gezielt angeschrieben. Der Begriff Kollateralschaden sollte den Kollegen also schon einmal vorher durch den Kopf gegangen sein. Kampagnen, die ein solches Konfliktpotential bergen, werden auch durch Automatisierung nicht besser. Gute Personalisierung sollte so sensibel arbeiten, dass sie erst gar nicht als solche wahrgenommen wird.
Wie muss man sich das heute also vorstellen?
Jens Scholz: Weg von den Kampagnen beziehungsweise deren Reduzierung auf sinnvolle, meist saisonale Aspekte und hin zu einer weitreichenden Personalisierung der kontinuierlichen Kundenbeziehung. Dabei wird eine gute Personalisierung, die bestenfalls in Echtzeit stattfindet, immer mehr als nur einen Aspekt einfließen lassen und so eine sehr effektive Mischung finden.
Was muss der Händler mitbringen, wenn er Marketing Automation betreiben will?
Jens Scholz: Meist bringen Händler viel Erfolgsdruck und ein mittleres Budget mit. Der Rest geht dann sehr schnell. Vorrausetzung ist aber, dass sich der Händler traut, auch eingefahrene Prozesse auf den Prüfstand zu stellen. Marketing Automation bedeutet nicht nur einen bunten Blumenstrauß neuer Möglichkeiten zu nutzen, sondern auch bestehende Prozesse zu verbessern, zu unterstützen oder zu ersetzen. Eine klare Unterstützung durch die Geschäftsführung ist immer von Vorteil.
Wann lohnt sich der Aufwand und was darf man dann erwarten?
Jens Scholz: Alle Händler, die mehr als zehn Millionen Euro jährliches Umsatzvolumen bewegen, sollten sich mit dem Thema Echtzeit-Personalisierung auseinandersetzen. Ab 50 Millionen ist es aus Wettbewerbsgründen nahezu unumgänglich. Die Einsparungen auf der Prozess-Seite sind signifikant und auf der Ertragsseite sind Zuwachsraten im zwei- bis dreistelligen Prozentbereich die Praxis.
Ein Beispiel bitte?
Jens Scholz: Die Steigerung von Klickraten im Newsletter durch die Ausspielung personalisierter Produktempfehlungen im Vergleich zu redaktionellen Empfehlungen um bis zu 200 Prozent ist keine Seltenheit. Bei einigen Kunden waren wir sogar in der Lage, den Umsatz aus Empfehlungen durch den Einsatz unserer Recommendation Engine zu vervierfachen.
Es geht dabei ja nicht nur um Newsletter und Co: Welche Rolle können automatisierte Trigger im Webshop spielen?
Jens Scholz: Ein Beispiel hatten wir ja schon, die Steuerung von Incentives für potenzielle Warenkorbabbrecher. Wenn Sie sich vor Augen führen, dass in einigen Branchen über 50 Prozent der Onlinekäufe vorzeitig abgebrochen werden, dann ist das ein riesen Hebel. Solange Sie dadurch nur 10 Prozent der verloren geglaubten Warenkörbe retten, haben Sie schon viel gewonnen. Diese Zahl ist erfahrungsgemäß absolut realistisch.
"Wenn Sie nur 10 Prozent der verloren geglaubten Warenkörbe retten, haben Sie schon viel gewonnen. Diese Zahl ist erfahrungsgemäß absolut realistisch"
Ein weiteres Szenario ist die Erstellung und Steuerung von Produkt-Bundles. Der stationäre Handel setzt diese Prognoseverfahren zur wahrscheinlichen Warenakzeptanz aber auch zu Dispositionszwecken ein. Unsere Kunden haben sehr gute Erfahrungen mit Produkt-Bundles gemacht. Die Höhe der Warenkörbe mit Produkt-Bundles überstieg die der Warenkörbe ohne Bundles um das Doppelte.
Dynamic Pricing gilt vielen als logisch nächster Schritt. Interne Absatzzahlen, Wetter, Tageszeit und Wettbewerbspreise – was nutzen Sie denn alles?
Jens Scholz: Im wesentlichen Preis und Nachfrage. Wenn einschließlich der Modellberechnung alles in Echtzeit geschieht, sind aktuelle Einflüsse wie Wetter, Wettbewerbspreise oder Werbung implizit im aktuellen Preis enthalten. Die Berechnung über historische Daten, inklusive Wetter oder Wettbewerb, gestaltet sich oft schwierig. Woher bekomme ich zum Beispiel die historischen Daten des Wettbewerbs? Habe ich auch immer alle Wettbewerber unter Beobachtung? Die Herangehensweise über historische Daten ist außerdem sehr Fehleranfällig: Folgte der Absatz damals dem Preis oder folgte der Preis der Nachfrage?
Was kann denn die automatisierte Preisfindung jenseits der Vereinfachung leisten?
Jens Scholz: Sie kann Produktpreise zielgerichtet, viel kontinuierlicher und auf Einzelproduktebene anpassen und so in vielen Szenarien den Rohertrag deutlich steigern. Beispiele sind Produkte oder Produktgruppen mit einem zeitlichen Verfall wie Fashion, Consumer Electronic oder Kalender. Dies trifft auch auf Produkte zu, die starken saisonalen oder anders zu begründenden und teilweise unvorhersehbaren Nachfrageschwankungen unterliegen.
Wie steht es da denn um die „Staubfänger“ im Sortiment? Gibt es da überhaupt genügend Daten oder lohnt sich die `Rechnerei` ohnehin nur für starke Artikel?
Jens Scholz: Genügend Einzeldaten über solche „Staubfänger“ selbst gibt es in der Regel nicht, aber diese werden von den Verfahren oft so gut zu Gruppen geordnet, dass sich sogar für diese Artikel stabile Aussagen ergeben. Im Grunde ist für den Händler aber meist das Pricing auf den stärkeren Artikel von Belang. Insbesondere interessiert ihn oft, bei welchen Artikeln er zu preiswert unterwegs ist und eine Preisanpassung keinen Absatzrückgang zur Folge hat.
Die Northeastern University hat einmal bei einem Feldtest mit Onlineshops bzw. Buchungssystemen festgestellt, dass fast die Hälfte davon dynamische Preise nutzt, die nicht nur von der Tageszeit oder dem Wochentag abhängen, sondern auch vom Device, dass der User nutzt und vom Betriebssystem. Sind kundenindividuelle Preise nicht riskant? Er wird doch – wenn er einen Verdacht hat – keinem angezeigten Preis mehr vertrauen?
Jens Scholz: 98 Prozent der Anwendungen zum dynamischen Pricing, die unsere Händler einsetzen, erzeugen keine individuellen Endkundenpreise. Oder anders gesagt: Die Preise sind zwar dynamisch aber bewusst nicht kundenindividuell (wie Browser- oder Device-abhängige Preise). Die restlichen 2 Prozent der Anwendungen gehen den Weg über Coupons. Am Produktgrundpreis ändert sich demzufolge nichts, jedoch erhalten unterschiedliche Kunden unterschiedliche Couponangebote – und zwar auf Produkte, die sie jeweils auch wirklich interessieren. Anders gesagt: Was hat ein Vegetarier von einem Preisvorteil auf Wurstwaren? Diese Coupons sind allerdings auch übertragbar. Im Grunde gehen also alle Händler, die wir kennen, sehr bewusst und mit Augenmaß mit diesem Thema um. Neue Aspekte, wie wild personalisierte Preise, gibt es bei seriösen Händlern durch das dynamische Pricing nicht. Wenn Endverbraucher in Shops eine Preisgestaltung beispielsweise nach Browser-, Device- oder Schuhgröße bemerken, habe ich vollstes Verständnis, wenn sie einen solchen Shop meiden. Hoffen wir mal, dass die Endverbraucher nicht den gesamten Handel dafür in Haft nehmen und dann gern auf die seriösen Anbieter ausweichen.
Automatisierung ist also ein mächtiges Werkzeug für mehr Umsatz. Ist es auch ein Autopilot?
Jens Scholz: Ein Selbstläufer? Bedingt. Aber wenn man als Händler weiß, wo man hin will und eine vage Ahnung davon hat, welche Services die eigenen Kunden honorieren, spricht alles für einen sofortigen Start in die Marketing Automatisierung und Personalisierung.