Unternehmen im E-Commerce müssen heute viel bieten, um gute Fachleute nicht an die Konkurrenz zu verlieren. Denn die Digitalisierung der Wirtschaft verlangt in allen Branchen Menschen, die sich damit auskennen. Es ist aber nicht damit getan, Programmierer oder Analytiker nur mit viel Geld zuzuschütten.

Als Nicole Heinrich neulich durch Hamburg zur Arbeit lief, musste erst einmal tief durchatmen. Ihr Blick war auf Plakate gefallen, auf denen Amazon um neue Mitarbeiter wirbt. Als der erste Schreck überwunden war, dürfte Nicole Heinrich sich gesagt haben: Okay, dann müssen wir uns eben noch mehr anstrengen. „Der Wettbewerb wird immer härter“, sagt die Leiterin Ausbildung und Personalmarketing bei Otto.de.

Wenn Amazon allein in Deutschland 2000 neue Mitarbeiter einstellen will, dann dürfte es in den Personalabteilungen der Konkurrenz eilig anberaumte Meetings geben. Der weltgrößte Onlinehändler sucht nämlich nicht nur Lagerarbeiter und Saisonkräfte, sondern Ingenieure, Softwareentwickler, Berufseinsteiger sowie Auszubildende.

Also: alles.

Es wirkt fast, als sei diese Jobmaschine der Impulsgeber auch für andere Unternehmen, denn Zalando will ebenfalls bis zum nächsten Jahr 2000 neue Stellen schaffen.

Der Mittelstand wird erst jetzt digital

Personalerlin Heinrich: Statussymbole sind keine Hebel
© Otto Group
Personalerlin Heinrich: Statussymbole sind keine Hebel
Das könnte in der Tat auf dem Arbeitsmarkt für Betriebsamkeit sorgen. Denn die Klagen über den Fachkräftemangel im E-Commerce sind nicht neu. So stellte der Handelsverband Deutschland Anfang 2016 fest, dass 40 Prozent der Onlinehändler entweder heute schon Probleme haben, geeignetes Personal zu finden – oder schwere Zeiten erwarten.

Der Bundesverband E-Commerce und Versandhandel (bevh) lieferte noch schlechtere Zahlen: Gar 92 Prozent der Firmen im E-Commerce stöhnen über einen Mangel an geeigneten Fach- und Führungskräften. Besser dürfte es nicht werden, „denn in den mittelständischen Unternehmen beginnt ja jetzt erst die Digitalisierung“, sagt Martin Groß-Albenhausen, als stellvertretender Hauptgeschäftsführer im Verband zuständig für das Thema Personal. Für Abhilfe könnte der neugeschaffene Ausbildungsberuf „Kaufmann im E-Commerce“ sorgen, schließlich werden künftig nicht nur Hochschulabsolventen benötigt. Der bevh will "alles daran setzen, dass die Ausbildungsverordnung im Januar 2018 ins Bundesgesetzblatt eingetragen wird". Ab nächstem Jahr wäre dann der Beruf „auf dem Markt“ sozusagen. „Wenn wir jährlich fünf- bis zehntausend Menschen ausbilden könnten, hätten wir viel erreicht“, formuliert Groß-Albenhausen sein Ziel.

Alle sind Konkurrenten, alle suchen alles

Gute Zeiten also für junge Menschen, die sich für Technik interessieren, wie Programmierer oder Softwareentwickler. Diese Leute können sich jetzt schon ihre Jobs aussuchen. Erst recht, wenn diese Berufserfahrung mitbringen. Schlechte Zeiten für Händler: Sämtliche Branchen arbeiten sich an der Digitalisierung ab. Automobil, Touristik, Dienstleistung – alle suchen Mitarbeiter. Die Handelsunternehmen, online wie offline, machen sich also nicht nur untereinander Konkurrenz, sondern müssen sich auch gegen die Anderen erwehren.

Also ist die Frage der Fragen: Wie lotse ich eine Fachkraft in mein Unternehmen, bevor es die Konkurrenz wegschnappt?

Mit Geld zuschütten?

„Damit kommen Sie nicht weiter. Gut bezahlt wird sowieso“, beschreibt Nicole Heinrich den Markt. Auch Dienstautos sind üblich, „aber Hebel sind solche Statussymbole nicht“, sagt Heinrich. Es geht heute um mehr, denn es geht um eine neue Generation von Berufstätigten.

Wer mit Jean-Jacques van Oosten spricht, merkt schnell, wie diese tickt. „Die Generation Y will nicht nur einfach Anweisungen ausführen. Diese jungen Leute kommen zu uns, um Geschichte zu schreiben“, sagt der Digitalchef der Rewe Group. Große Worte.
Rewe will das größte deutsche Unternehmen im Online-Lebensmittelhandel werden – und daran haben alle Spaß, die mitmachen. Arbeit als Abenteuer. Das dürfte jedoch dann richtig beginnen, wenn der Lebensmittelbringdienst Amazon fresh hierzulande online ist.

Kein Silodenken bei Rewe digital

Wenn der Belgier van Oosten über den Alltag bei Rewe Digital redet, dann hat das nicht mehr viel zu tun mit Beschäftigung in der analogen Welt eines Handelskonzerns. In traditionellen Unternehmen arbeiten Einkauf, Marketing, und Finanzen ordentlich ihre Agenden ab – häufig in Silos. Van Oosten will in seiner digitalen Welt jedoch kein Silodenken, wie er sagt. „Bei uns gibt es gemischte Teams, auch übergreifend bis in alle Geschäftseinheiten der gesamten Gruppe, mit sechs bis 12 Mitarbeitern. Sie bestehen aus Entwicklern, Webdesignern, Analytikern.“

Kreative arbeiten mit Technikern zusammen, alles ist intensiver, vernetzter, schneller – und die Berichtslinien zu den Vorgesetzten sind direkter. Das Internet ist eben nichts für Vierjahrespläne.

Was will der Bewerber? Nicht nur viel Geld.
© bevh
Was will der Bewerber? Nicht nur viel Geld.
Spaß, Abenteuer, Geschichte schreiben – ist das noch Arbeit?

Ja, nur anders.

Wer heute gute Mitarbeiter für sein Onlinegeschäft finden will, muss ihnen Gestaltungsfreiheit und flache Hierarchien bieten. „Das muss nicht immer die Mentalität eines Start-ups sein“, betont Groß-Albenhausen, „auch ein Familienunternehmen hat seinen Reiz“. Doch wenn hier der alte Patriarch sich wider besseres Wissen in die Java-Programmierung einmischen will, wird es problematisch.

Hauptsache ein Talent, der Job findet sich

Die Veränderungen in der Handelslandschaft sorgen auch für die Besonderheit, dass es noch nicht für jedes Bewerberprofil eine passende Position gibt. „Das ist egal. Hauptsache, man hat erstmal gute Leute gebunden, einen entsprechenden Arbeitsplatz kann man dann immer noch schaffen“, lautet das Motto von Groß-Albenhausen.

Dazu passt, dass Otto-Personalerin Heinrich davon spricht, dass man auch Mathematiker und Physiker sehr gut gebrauchen könne. Personalmanagement der Zukunft heißt, jede Art von Talent zu nutzen.

Zu dieser Zukunft gehören auch Angebote wie Betriebskindergarten, Gesundheitsmanagement, Angebote für Home office oder die Möglichkeit für ein dreimonatiges Sabbatical – oder auch nur eine gute Kantine mit gesundem Essen. „Ein Unternehmen muss bereit sein, ans Eingemachte zu gehen“, sagt Groß-Albenhausen. Arbeit neu strukturieren, neu definieren.

Treppendorf eine Provinz? Ach was!

Bestimmt gilt das für Betriebe jenseits der Ballungsräume noch mehr. Denn in München, Berlin oder Hamburg will ja jeder gerne arbeiten. Aber wer will schon nach Pirmasens, Delmenhorst oder Cottbus? In der Provinz hat vor allem der Mittelstand enorme Personalsorgen.

Es sei denn, er handelt mit interessanten Produkten. Wie beispielsweise das Musikhaus Thomann. Sitz ist Treppendorf bei Bamberg, nicht gerade eine Hipster-Hochburg, möchte man meinen. Gut, die Altstadt von Bamberg zählt zum Weltkulturerbe, und die vielen Brauereien der Stadt sind gute Gründe, sich dort aufzuhalten.

Musik, Musik, Musik

Aber reizt das auf Dauer?

Muss wohl. Denn Thomann zählt seit Jahren zu den herausragenden deutschen Onlinehändlern, ohne gute Mitarbeiter und einem speziellen Unternehmensgeist würde das nicht funktionieren. Allein in den zurückliegenden 12 Monaten wurden 240 neue Leute eingestellt, aktuell sucht der Versender 20 zusätzliche Kräfte.Die Argumente dafür sind in der Tat nicht der flotten Start-up-Welt entnommen, denn geworben wird klassisch mit „angenehmes Betriebsklima, denn die meisten Kollegen sind Musiker“. „Geregelte Arbeitszeiten, die auch noch Freiraum für Familie und Musik lassen“.
„Spaß an der Arbeit, denn uns verbindet die Leidenschaft zur Musik.“ Selbstverständlich wird auch auf faire Bezahlung sowie dreizehntes Monatsgehalt hingewiesen – doch immer wieder heißt es: Musik, Musik, Musik.

Einfach wohlfühlen. Manchmal reicht das.

Das ist bemerkenswert. Eine private Leidenschaft als Basis für Harmonie im Job. Und das einfache Versprechen: Bei uns haben Sie es gut. Keine Geschichte, kein Abenteuer – nur Wohlfühlen in einem vom Inhaber geführten Betrieb. Thomann verspricht etwas Konkretes und triff damit den Nerv einer Zielgruppe - das macht den Unterschied zu vielen anderen Mittelständlern.

Media-Saturn ist zwar kein Mittelständler, aber man verspricht neuerdings auch etwas. Oder versucht es zumindest: Man möchte als cooler Arbeitgeber auftreten. Dafür hat man gleich den Unternehmensnamen geändert und kommt jetzt als MediaMarktSaturn Retail Group daher. Ob dieser Wortbandwurm sich bei den Menschen besser als einprägt als Media-Saturn-Holding wird sich zeigen.

Media-Saturn umwirbt IT-Fachkräfte
© Media-Saturn
Media-Saturn umwirbt IT-Fachkräfte

Wenn Arbeit nicht mehr Arbeit heißt

Der Ingolstädter Elektronikhändler will Multichannel-Spezialist sein. Dafür braucht es Fachleute. Damit diese zu Media-Markt kommen, will man auch die Zielgruppen ansprechen, die nicht aus Handelsexperten bestehen, „etwa in der Digital-, Nachhaltigkeits- oder IT-Branche“, wie es heißt. Hauptsache, wir haben das Talent und nicht die Konkurrenz. Eine Verwendung findet sich schon. Klingt vernünftig. Zudem hat das Unternehmen den Zeitgeist verstanden: „MediaMarktSaturn. Alles andere ist nur Arbeit“, lautet der Claim für die neue Rekrutierungskampagne. Da sind wir wieder bei den Themen Spaß, Abenteuer, Geschichte schreiben.

IT-Karriere bei MediaMarktSaturn

Wenn "echte" Menschen überzeugen

Geschichte kann man schreiben, aber auch davon erzählen. Personalmarketing in den Sozialen Medien gehört zwar längst zum Standard bei den großen Unternehmen. „Doch der persönliche Kontakt ist nicht zu unterschätzen“, sagt Otto-Personalerin Nicole Heinrich. Es wirkt eben glaubhafter, wenn ein „echter“ Mitarbeiter auf einer Bewerbermesse einem Interessenten von seinem Arbeitsalltag berichtet.

Rewe schafft es, weit über 20 Prozent der Stellen allein über Empfehlung bisheriger Mitarbeiter zu besetzen. Wer zufrieden ist, der teilt das eben gerne mit, und der möchte sich auch weiterhin mit angenehmen Kollegen umgeben. In einem harten Wettbewerb zählen eben weiterhin auch die weichen Faktoren.



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