Erinnern Sie sich noch an Tesco? Blöde Frage, natürlich erinnern Sie sich an Tesco, das ist die größte britische Supermarktkette und einer der größten Arbeitgeber Europas. Und wieso erinnern? Der Handelsriese hat 2013 immerhin 3,3 Milliarden Pfund Gewinn gemacht. Gut, dass waren sechs Prozent weniger als im Jahr davor, aber immerhin. Obwohl: Nach einem massiven Finanzskandal und den verstärkten Angriffen von Aldi und Lidl, schrumpfte der Gewinn im ersten Halbjahr des Fiskaljahres 2014 um satte 92 Prozent, hat das Handelsblatt errechnet.
Erinnern Sie sich noch an Tesco? Das war das Unternehmen mit den QR-Code-Plakaten in den Ubahn-Stationen von Seoul. Kein E-Commerce-Kongress, der ohne dieses fantastische Beispiel auskam. Überhaupt fand Tesco gerade im Bereich Cutting-Edge-Technologie in fast jedem Segment statt, zuletzt bei automatischer Gesichtserkennung und der Ausspielung geschlechtsspezifischer Werbung, wenn die Gesichtserkennung ein Geschlecht erkennen konnte. Tesco war über Jahre hinweg ein Musterbeispiel für die gelungene Transformation eines klassischen Händlers ins Digitalzeitalter. Auch US-Giganten wie Walmart nahmen sich daran ein Vorbild. Und was hat es gebracht …. nichts. Seit fast zwei Jahren fällt der Börsenwert kontinuierlich. Im Vergleich zum Januar 2013 ist das Unternehmen heute nicht mal mehr die Hälfte wert.

Was hat das mit E-Commerce zu tun, könnte man fragen. Jede Menge, meint Michael Schrage von der Harvard Business Review in einem lesenswerten Artikel. Tesco weiß nicht mehr, was Kunden wünschen und hat überhaupt keine kreativen Ideen mehr, wenn es um die Läden selbst oder das Sortiment geht. Alles ist digital, alles zahlen-getrieben und das meiste davon ist nerdischer Schnickschnack. Tatsächlich loben die US-Konsumenten bei Aldi und Lidl vor allem die Einfachheit und die klare Botschaft. „Das Tesco-Kundenbindungsprogramm dient doch nur Tesco aber nicht dem Kunden“, so Schrage. Wohlgemerkt: Tesco war absoluter Vorreiter in Sachen Kundenkarte.
Trend zur Automatisierung führt in vielen Bereichen zu Problemen
Sollte der Fall Tesco ein Warnsignal für die E-Commerce-Branche sein? Tatsächlich warnen nicht wenige Experten davor, dass der aktuelle Trend zur Automatisierung in vielen Bereichen des Onlineshops zu zwei Problemen führt. Zum einen werden sich die Shops immer ähnlicher und differenzieren sich kaum noch. Hier arbeitet Automatisierung signifikant gegen die Idee das Brandbuilding. Für was steht ein Shop, wenn alle gleich aussehen und ähnlich funktionieren? Clevere Startups wie Westwing verzichten bewusst darauf, die Startseite Daten-getrieben zu optimieren. „Wir betrachten unsere Seite eben nicht als Shop sondern als Magazin und wir machen die Produktauswahl auf der Seite nicht nach den Daten sondern nach dem, was spannend ist,“ sagt Mitgründer Stefan Smalla.
Das zweite Problem der zunehmenden Automatisierung ist die Abkoppelung der Unternehmen von der Business-Intelligence der jeweiligen Lösung. Start-ups wie Akanoo oder TRBO bieten Blackbox-Lösungen an, die durch gezielt eingesetzte Verkaufstrigger noch ein Quäntchen Mehrumsatz aus dem Shop holen. Das ist super, zumal beide mit Provisionsmodellen arbeiten, der Kunde also nur bezahlt, wenn er gewinnt.
Und hier lauert das süße Gift der Daten: Da es so verdammt mühselig ist, die Daten selbst auszuwerten und noch schwieriger darauf zu reagieren, lehnt man sich entspannt zurück und lässt die Maschine mal machen. „Die Unternehmen wollen grundsätzlich wissen, wie es funktioniert, mehr aber nicht“, erklärt Akanoo-Gründer Jan Paul Lüdtke. Er ist ganz froh darüber, denn er hätte gar nicht die Manpower, um das gesammelte Wissen aus der Software per Workshop an die Kunden weiter zu geben. Freilich können die sich selbst Reports ziehen, aber wer macht das schon, wenn die Bilanz stimmt?

Ähnliches dürfte für die dynamische Preisbildung gelten. Die Northeastern University hat in einem Feldtest mit 17 Onlineshops bzw. Buchungssystemen festgestellt, dass fast die Hälfte davon dynamische Preise nutzt, die nicht nur von der Tageszeit oder dem Wochentag abhängen sondern auch vom Device dass der User nutzt und vom Betriebssystem. Was macht das auf Dauer mit dem Kunden? Er wird – wenn er davon erfährt – keinem angezeigten Preis mehr vertrauen, sondern ihn prüfen. Eventuell mit einem anderen Rechner, wahrscheinlicher aber mit Hilfe von Preissuchmaschinen oder gleich bei der Konkurrenz. Will man das?
Geht der Shop noch einen Schritt weiter und setzt gar Neuro-psychologische Automatisierung wie die Persuasion Profiles von Maurits Kaptein ein, geht der Kontakt zum nächsten Kunden bald ganz verloren. Und wer die Bedürfnisse und Motivationslagen seiner Kunden nicht kennt, wird bei Veränderungen derselben nicht oder zu spät reagieren.
Merke: Shop-Automatisierung ist ein mächtiges Werkzeug für mehr Umsatz. Sie ist aber kein Autopilot für Ihr Geschäftsmodell. Nur wer die Kunden permanent direkt (Marktforschung/Beirat/Support) oder indirekt (Analytics/Monitoring/Tracking) befragt, kann flexibel reagieren, wenn sich die Umstände ändern. Und zur Differenzierung in ausreifenden Märkten gehört Innovation und Kreativität und das leisten die Zahlen – Gott sei Dank – bisher noch nicht.
Weiterführende Links
Automatisierte Neuro-Trigger
Das Risiko von Datenhörigkeit am Beispiel Tesco
Studie über dynamische Preise der Northeastern University
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