Über die Bedeutung von sozialen Netzwerken und E-Commerce für die Handelsbranche sprach die Redaktion von Der Handel mit dem renommierten Strategieberater Prof. Dr. Peter Kruse.

Ein Denken in Zielgruppen hilft hier nicht weiter. Das Internet ist kein virtuelles Jugendzentrum, sondern ein neuer Kulturraum, in den Menschen jeden Alters in großer Zahl hineinströmen. In den USA sind die Nutzer von sozialen Netzwerken im Schnitt 39 Jahre, also älter als der Bevölkerungsdurchschnitt. Wer hofft im Internet eine klar abgrenzbare Zielgruppe zu finden, ist auf dem Holzweg. Wir erleben eine Völkerwanderung und nicht das Entstehen einer neuen Zielgruppe. Im Netz spiegelt sich die gesamte Komplexität der normalen Handelslandschaft wieder.
Welche Herausforderungen bringt dieser neue Kulturraum für den Handel mit sich?
Das Internet funktioniert nach eigenen Regeln, etwa aufgrund der extrem erhöhten Transparenz oder der Tendenz zur Selbstaufschaukelung. Viel von dem, was im „Clue Train"-Manifest über die Veränderung der Kommunikationsmuster vorhergesagt wurde, bewahrheitet sich Stück für Stück: Die Macht wechselt zum Konsumenten. Märkte sind Gespräche, an denen die Hersteller oder Händler zwar teilhaben, die sie aber nicht mehr dominieren können.
Gibt es dafür konkrete Beispiele?
Die Zahl der Beispiele wächst täglich. Jack Wolfskin spürte etwa jüngst die Macht der sozialen Netzwerke. Der Markenhersteller war juristisch gegen Bastler vorgegangen, die Handarbeiten mit einer Tierpfote auf dem Portal Dawanda anboten. Der Sturm der Entrüstung schaukelte sich in den Communitys derart hoch, dass das Vorgehen von Jack Wolfskin für eine Zeit sogar Thema Nummer eins bei Twitter wurde. Das Unternehmen musste heftig zurückrudern, um den Schaden für seine Marke in Grenzen zu halten. Auch bei den Rückrufaktionen von Toyota oder bei der aktuellen Kritik am Geschäftsmodell der Discounter formiert sich die Kritik über das Internet.
Was müssen Händler angesichts dieser Umwälzungen tun? Gibt es eine Strategie für den Umgang mit Social Media?
Sichere Netzwerkstrategien für Unternehmen gibt es nicht. Das einzige, was zählt, ist Attraktivität. Netzwerke docken sehr schnell an und ab. Facebook hat in kürzester Zeit Vorgänger wie MySpace hinter sich gelassen. Die Faszination von gestern zählt nicht. Unternehmen können mit strategischer Kommunikation allenfalls kurzfristige Hypes erzeugen, mehr aber auch nicht. Die Händler sollten sich lieber fragen, welchen echten und nachhaltigen Mehrwert sie für den Kunden schaffen.
Worin könnte dieser Mehrwert bestehen?
Durch E-Commerce hat der stationäre Handel seine Schlüsselposition bei Preis und Warenzugang endgültig verloren. Präsentation und Distribution von Produkten werden immer unabhängiger von den Verkaufsflächen vor Ort. Die Branche muss sich auf den Kunden besinnen und Mehrwert über die Produkte hinaus schaffen - etwa durch die Inszenierung von Erlebniswelten, die Zusammenstellung bedürfnisgerechter Sortimente oder außergewöhnliche Beratungskompetenz. Die Kernfrage lautet: „Welchen resonanzfähigen, emotionalen Mehrwert erbringt der Handel, für den Kunden zu investieren bereit sind?" Das Internet findet seine Antworten wie eine riesige Casting-Show über Masse und Zufall. Der Handel kann nur die Intuition des einfühlsamen Experten dagegen setzen, er braucht eine radikale Markt- und Kundenorientierung.
Haben Hersteller in diesem Wettbewerb um den Kunden nicht die besseren Karten in der Hand?
Die Hersteller haben sicherlich durch das Internet eine gute Chance und angesichts des mit aller Härte geführten vertikalen Wettbewerbs auch eine starke Motivation, am Handel vorbei zu gehen. Da hilft es natürlich, dass in vielen Handelsunternehmen mit der Dominanz des Einkaufs auch Nähe zum Kunden verloren gegangen ist. Die alte Erfolgsgleichung „Preise senken + Werbedruck erhöhen = Umsatzsteigerung" stößt zunehmend an ihre Grenzen. Zeigt nicht schon ein Werbeslogan wie „Wir lieben Lebensmittel" von Edeka, wie sehr man den Kern des Handels aus dem Auge verloren hat? Eigentlich müsste es doch heißen: „Wir lieben Kunden."
Zur Person: Professor Dr. Peter Kruse ist Geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung nextpractice und lehrt als Honorarprofessor für Allgemeine und Organisationspsychologie an der Universität Bremen. Zu den Kunden von nextpractice gehören unter vielen anderen Unternehmen wie Bosch, BMW, Daimler, Die Bahn, Deutsche Bank, Metro Group, Otto Group, Tegut, Telekom, RWE, Vodafone und Volkswagen.
Interview: Hanno Bender
Dieses Interview erschien im Rahmen der Titelgeschichte in der April-Ausgabe des Wirtschaftsmagazins Der Handel. Lesen Sie hier den ersten Teil des Beitrags. Hier geht es zum kostenlosen Probeexemplar.