E-Commerce-Experte Gerrit Heinemann, Leiter eWeb Research Center, kritisiert das Zahlenmaterial, das die Verbände zu den Umsätzen im deutschen Onlinehandel verbreiten. Ein Kommentar.
Dies gilt vor allem für auslegungsfähige Branchenzahlen, die von unterschiedlichen Quellen kommen und dabei in der Regel breit streuen. Beides trifft für E-Commerce-Umsätze zu, die entweder vor oder nach Retouren, mit oder ohne Umsatzsteuer, mit oder ohne Services sowie inklusive oder exklusive Cross-Border-Umsätze ausgewiesen sein können.
Eigentlich müsste davon ausgegangen werden können, dass Online-Umsätze grundsätzlich netto, also nach Retouren und ohne Umsatzsteuer sowie separat für B2C oder B2B veröffentlicht werden. Folglich dürften eigentlich nur noch geringe Streubreiten möglich sein, die auf Rundungsfehler oder Abgrenzungsgenauigkeiten zurückzuführen wären.
Der neutrale Betrachter reibt sich allerdings ratlos die Augen, wenn er durch die Medien schwirrenden Onlinezahlen des letzten Jahres verfolgt: Auf der einen Seite spricht der Handelsverband Deutschland (HDE) von 13 Prozent Wachstum für 2013, auf der anderen Seite veröffentlicht der Bundesverband des Versandhandels (BVH) ein Plus von 42 Prozent für den deutschen Onlinehandel auf mehr als 39 Milliarden Euro Umsatz.
Noch nie gab es bei Branchenzahlen eine derartige Streuung
Noch nie gab es bei Jahreszahlen für eine Branche eine derartige Streuung und zugleich so wenig Erklärungen dazu: Wie kann es sein, dass zwei Verbände, die in den nationalen Medien bis hin zur Tagesschau zitiert werden, dermaßen auseinanderliegen? Wie kann es sein, dass keiner von beiden Verbänden auch nur annähernd den tatsächlich realisierten - weil bereits überwiegend von den größten Vertretern der Branche publizierten - Umsatzzahlen auch nur annähernd nahe kommen?Folgt man diesen - mit Amazon und eBay immerhin von börsennotierten Aktiengesellschaften kommenden - Unternehmenszahlen und zieht die in den ersten Pressekonferenzen genannten Online-Umsätze von Zalando, Notebooksbilliger, Otto sowie den größeren Multi-Channel-Händlern wie MediaMarkt-Saturn, Douglas und Galeria Kaufhof dazu, errechnet sich daraus realiter ein Zuwachs des deutschen Online-Handels von rund 21 Prozent für 2013.
Während Amazon-Deutschland offiziell bei rund 21 Prozent - durch das ausgeweitete Marktplatzgeschäft wahrscheinlich eher bei 25 Prozent - Wachstum lag und damit deutlich über 10 Milliarden Euro Handelsvolumen ohne Mehrwertsteuer in 2013 gedreht haben dürfte, veröffentlicht jüngst das EHI Retail Institute für Amazon Deutschland eine Umsatzzahl, die nur gut halb so hoch ist.
Die größten Handelsplattformen werden ignoriert
Demgegenüber publizierte Amazon selbst 8,5 Milliarden Euro Umsatz, was rund 8 Milliarden Euro entspricht. Handelsumsatz und nach Hochrechnung des Marktplatzgeschäftes deutlich mehr als 10 Milliarden Handelsvolumen im Deutschlandgeschäft entsprechen dürfte. Und wieder einmal taucht eBay, ebenfalls rund 10 Milliarden Euro Handelsvolumen in der Bundesrepublik auf Augenhöhe mit Amazon, in keinem Ranking auf, obwohl mindestens 70 Prozent des Geschäftes mit Festpreisen im Marktplatzgeschäft gedreht wird.Wie kann es sein, dass die nach Handelsvolumen und Besucherzahlen wohl größte E-Commerce-Plattform völlig ignoriert wird? Wieso werden Zahlen veröffentlicht, die weder darauf hinweisen, dass sie Umsatzsteuer enthalten, noch dass sie wegen der falschen Vorjahresbasis mit Vorsicht zu betrachten sind? Der Leser weiß es nicht und kann nur spekulieren.
Die Vermutung liegt nahe, dass in den diversen Verbänden gewisse Interessenlagen vertreten werden, die jeweils auch die Zahlentendenz wiederspiegeln, oder aber Unkenntnis im Spiel ist. Auf der anderen Seite zeichnet sich ab, dass sich zumindest die absoluten Umsatzzahlen netto, also ohne Umsatzsteuer, bei rund 33 Milliarden Euro jetzt endlich auf einem auf allen Seiten ähnlichen Niveau einpendeln. Diesbezüglich bedarf es allerdings einer weiteren Spezifikation, ob es sich ausschließlich um Warenumsätze handelt oder aber Tickets und Downloads oder gar Reiseumsätze enthalten sind, die nicht als Einzelhandelsumsätze gelten. Insofern bedarf es einer dringenden Klärung des Zahlensalates.
Denn unreflektiert übernommene Zahlen führen schon jetzt zu Rechtfertigungsarien bei Banken, Analysten und Aktionären. Und immer noch gibt es zu viele "alteingesessene Händler", die den E-Commerce-Zahlen nicht trauen und ihre Widerstände gegen das Thema auch mit angeblich falschen Zahlen begründen.
Prof. Dr. Gerrit Heinemann, Leiter eWeb Research Center der Hochschule Niederrhein