
Arbeitsbedingungen, Löhne, Steuern, Preisparität, der ruinöse Wettbewerb im Online-Handel, Ökobilanzen im Transport, bis hin zur sozialen Frage: Wer zahlt eigentlich wem wie viel entlang der Wertschöpfungskette im Versandhandel? Auf den Cent genau? Was bekommt der Leiharbeiter, was der Hermes-Unternehmer, was dessen Fahrer? Gäbe es einen Markt für "Social Delivery"? Wie fühlt sich dieser Job eigentlich an, wenn man ihn im Jahr 2013 als studentische Hilfskraft macht? Wie werden Händler unter Druck gesetzt, wenn sie woanders billiger verkaufen? Lesenswert.
10 Tage nach Ausstrahlung der ARD-Reportage werden auch erste Bilanzen gezogen: Wird es in 2013 wieder Rekordgewinne geben? Ist bei Amazon „der Lack ab“? Wie funktioniert das "System Amazon"? Hat sich das Thema „Leiharbeiter“ dank moderner Robotertechnik eh bald erledigt? Spannende Fragen. Tolle Artikel in Blogs und Tagespresse. Und in der E-Commerce-Fachwelt?
Rumgedruckse in vielen Online-Fachpublikationen
Da wird vielfach lieber rumgedruckst: Kennzahlen-Apologeten relativieren, indem sie Effizienz-Kriterien mit einer Selbstverständlichkeit zur reinen Lehre erklären, als ob das Zahlenwerk in aggregierten Pivottabellen gar eine gottgegebene Handlungsmaxime wäre. „So ist das halt. Der verdammte Preiskampf. Da kann man nix machen. Der Markt eben. Als solcher.“
Andernorts wird redundant der Vergleich zwischen Apple und Amazon rumgereicht: Europäische Leiharbeiter versus chinesische Wanderarbeiter. „Elend relativiert Not.“ Der "Edel-Joker" unter den "Argumenten". Würde in jedem Mittelstufen-Deutschaufsatz mit Rotstift-Markierung an den Verfasser retour gehen. Im E-Commerce reicht’s für eine Konsenshaltung?
Patchwork-Korrelationen zum Selberbasteln
Auch beliebt: „Die Kunden sind doch selbst schuld, die wollen doch davon gar nichts wissen. Die sind doch alle blind unterwegs, wenn es darum geht ein paar Euro zu sparen. Dann blenden sie ihre Bedenken aus und klicken sich bei Amazon den Warenkorb voll.“ Alternativ dazu: „Die Kunden wissen ganz genau, was sie tun. Mensch, die müssen das doch wohl wissen, dass nichts umsonst ist. Das weiß doch schließlich jeder...“ Also sind sie auch schuld. Und das Marktwachstum? "Ist einfach zu schnell. Amazon würde ja vielleicht besser können-wollen, aber man kommt da ja gar nicht gegen an, gegen das Marktwachstum...". Wer ist also letztlich wieder schuld? Der Kunde.
Man kann es sich zusammenstellen, wie man es möchte. Am Ende ist "der Kunde" oder "die Gesellschaft" schuld und damit hat man auf jeden Fall Recht. Und falls nicht? Widerspruch? Kann man ganz lässig mit dem Vorwurf der Larmoyanz kontern. Gefühlsduselei. Schon vergessen worum es hier geht? Hallo! Der Markt! Kapiert!? Soziale Frage im E-Commerce? Kunden diskutieren darüber, aber Fachleute? Eher nicht. Damit zeigte man doch nur Schwäche. Das macht angreifbar. Lieber nicht darauf eingehen. Will keiner wissen...
Weiteres "Expertentum": „Ach, die anderen Unternehmen der New Economy nehmen sich da doch auch nichts, in China ist es auch schlimm, und oftmals gibt es für Kunden ja auch gar keine Alternative zu Amazon, weil viele Güter gibt es woanders ja gar nicht." Und: "Die meisten Online-Händler sind im Amazon-Vergleich einfach schlecht.“
Der Amazon-Halo-Effekt: Die "goldenen Jahre" überstrahlen alles
Amazon? Mögen wir. Macht alles richtig. Treibt die Branche voran. Ist Role Model. Schon immer gewesen. Zeigt den behäbigen heimischen Versandhändlern mal, wo der Hammer hängt. Da ist man doch jahrelang drauf rumgeritten, und jetzt gibt es kein Zurück mehr. Einmal Branchenliebling, immer Branchenliebling? Man schmiegt sich immer noch gern an und damit das nicht so auffällt, werden einfach ein paar Brocken an Gesellschaftskritik eingestreut. Geheuchelte Distanz, die die brancheninterne Debatte lähmt. Schade.