Der weltweite Ausbruch von Covid-19 und der Krieg in der Ukraine haben bewährte Beschaffungskonzepte an ihre Grenzen gebracht. Viele Handelsunternehmen konnten sich von einem Tag auf den anderen nicht mehr auf ihre integrierten Lieferketten verlassen und mussten mit hohem manuellen Aufwand ihre Versorgung aufrechterhalten. Doch die externen Schocks zeigen Probleme nur auf, die eigentlichen Ursachen liegen in der fehlenden Anpassungsfähigkeit von Lieferketten begründet, sagt Jakob Staake von der Managementberatung Ginkgo. Wie Händler ihre Lieferketten anpassungsfähiger und damit krisenresistenter machen, erklärt er in diesem Gastbeitrag. 

Ob im stationären Handel oder E-Commerce: Die sofortige Verfügbarkeit von Waren ist längst die Norm geworden. Verbraucher in der westlichen Hemisphäre haben sich über Jahrzehnte hinweg an immer gefüllte Regale, eine gefühlt unendliche Verfügbarkeit von Produkten und schnelle Lieferungen gewöhnt.

Die voraussehbare Nachfrage der Kunden sowie die Planbarkeit der Lieferketten führten zu faktisch sehr hoher Produktverfügbarkeit am Point of Sale. Erreicht wurde dies durch hohe Automatisierungsgrade, vor allem in Beschaffungs- und Logistikprozessen. So wurden Bestandshöhen automatisch ermittelt und daraus resultierende Bedarfe ebenfalls automatisiert an vorgelagerte Stufen gemeldet.
Herausfordernde Zeiten für das Beschaffungswesen: Schwarzer-Schwan-Ereignisse wie die Corona-Krise und der Krieg in der Ukraine haben die Anfälligkeit und Fragilität globaler Lieferketten offengelegt.
© Ginkgo
Herausfordernde Zeiten für das Beschaffungswesen: Schwarzer-Schwan-Ereignisse wie die Corona-Krise und der Krieg in der Ukraine haben die Anfälligkeit und Fragilität globaler Lieferketten offengelegt.
Verlässliche Beschaffungszeiten sorgten dafür, dass manuelle Eingriffe überwiegend überflüssig wurden. Auf der Suche nach weiteren Potenzialen wurde die Beschaffung globalisiert. Gute Planbarkeiten von Logistikprozessen haben in den letzten Jahren dafür gesorgt, dass beteiligte Unternehmen wie Lieferanten, Carrier und Großhandel sich immer tiefer gegenseitig integrieren, um weitere Effizienzpotenziale zu heben.

Gestörte Lieferketten durch Pandemie, Lockdowns und Krieg

Mit dem weltweiten Ausbruch von Covid-19 wurden diese Beschaffungskonzepte mit einem Schwarzer-Schwan-Ereignis konfrontiert: Weltweite Lockdowns ließen die bislang gut vorhersehbaren Lieferketten, Warenbestände und Wiederbeschaffungszeiten auf einen Schlag zusammenbrechen.

Viele Handelsunternehmen konnten sich von einem Tag auf den anderen nicht mehr auf ihre integrierten Lieferketten verlassen und mussten - und müssen - mit hohem manuellem Aufwand ihre Versorgungsseite aufrechterhalten.

Gleichzeitig wurde die Nachfrageseite durch große Unsicherheit über die Auswirkungen der Pandemie erschüttert und durch Bilder von leeren Mehl-, Nudel- und Toilettenpapier-Regalen – seit Ausbruch des Ukraine-Krieges auch von fehlendem Sonnenblumenöl usw. - noch weiter verunsichert. Von Handelskriegen ganz zu schweigen. 
Diese Entwicklungen zeigen: Einst als unvorstellbar geltende Ereignisse sind längst die neue Normalität. Dabei zeigen diese externen Schocks nur Probleme auf, die Ursachen liegen an anderer Stelle.

Fehlende Adaptivität, Anpassungsfähigkeit von Lieferketten lässt sich in der Regel auf starre Automatisierungen, isolierte und manuelle Prozesse sowie Systembrüche zurückführen, die die benötigte Transparenz schmerzhaft einschränken. Die Folge sind inflexible Lieferketten, die den Anforderungen bei sich rapide verändernden Rahmenbedingungen nicht genügen.

Zuverlässige Lieferketten müssen anpassungsfähig sein

Adaptivität ist die neue Maxime im Handel für übergeordnetes Supply-Chain-Management (SCM), um flexible, zuverlässige und zugleich performante Lieferketten zu erreichen.

Insbesondere in der Kombination und Analyse von bestehenden unternehmensinternen und unternehmensexternen Daten liegt der Schlüssel zu einem adaptiven Lieferkettenkonzept. Es ermöglicht durch kontinuierliches Monitoring und visuelle Aufbereitung von Lieferkettendaten aus bestehenden Systemen eine erhöhte Transparenz.

Diese Daten liegen in Unternehmen zumeist in mehr als 20 unterschiedlichen IT-Systemen verstreut (Datensilos). Durch die Kombination dieser bereits im Unternehmen vorhandenen Daten kann schnell ein Beitrag zu schnelleren Reaktionszeiten auf externe Events geleistet werden, vor allem durch die gesteigerte Transparenz über den Zustand der Lieferkette.
Der Weg zu anpassungsfähigen Lieferketten kann in vier Schritte unterteilt werden: Am Anfang steht die Analyse der Ist-Situation, anschließend werden vorhandene Daten für ein Monitoring erschlossen und im dritten Schritt für Vorhersagen und Szenarienbildung genutzt. In der vierten und letzten Phase werden Monitoring und Vorhersagefähigkeit zusammengeführt, um die Adaptivität nachhaltig zu verankern.
© Ginkgo Management Consulting GmbH
Der Weg zu anpassungsfähigen Lieferketten kann in vier Schritte unterteilt werden: Am Anfang steht die Analyse der Ist-Situation, anschließend werden vorhandene Daten für ein Monitoring erschlossen und im dritten Schritt für Vorhersagen und Szenarienbildung genutzt. In der vierten und letzten Phase werden Monitoring und Vorhersagefähigkeit zusammengeführt, um die Adaptivität nachhaltig zu verankern.
Beispiel: Der Schweizer Einzelhandelsriese Migros ist durch die smarte Nutzung bereits im Unternehmen vorhandener Daten in der Lage, die Transparenz in der Transportlogistik stark zu steigern. Vom Überblick über alle weltweiten Transporte bis runter zu einzelnen Versänden wurde alles in einem Cockpit integriert und so eine "Quelle der Wahrheit" für Transporte in der Lieferkette geschaffen.

Fortgeschrittene Datenanalysen als Resilienzfaktor

Durch fortgeschrittene Datenanalysen können Mitarbeiter beim Treffen von richtigen Entscheidungen unterstützt werden. Dabei werden automatisch Szenarien durchgespielt, Auswirkungen und Wahrscheinlichkeiten dargestellt sowie kurzfristige Maßnahmen vorgeschlagen, um Auswirkungen auf die Lieferfähigkeit zu minimieren.

Durch die geschaffene Transparenz werden z. B. Verspätungen bei Lieferungen frühzeitig erkannt und Gegenmaßnahmen vorgeschlagen. Die letztendliche Entscheidung treffen dann Mitarbeiter, um die benötigte Flexibilität sicherzustellen. Fällt zum Beispiel eine Lieferung aus einem bestimmten Lager aus, werden schnell und automatisiert Vorschläge für alternative Liefermöglichkeiten erstellt - inkl. Einschätzung der veränderten Beschaffungskosten und -zeiten.

So wird die Auswirkung der Störung minimiert. Diese Transparenz und Entscheidungsunterstützung können durch die Nutzung von externen Daten weiter verbessert werden. So können Wetterdaten herangezogen werden, um Beschaffungsrouten abzusichern, Social-Media-Daten wiederum sind in der Lage, Hinweise auf politisch unruhiger werdende Situationen zu liefern.

Vier Schritte zur Adaptivität

  1. Um das SCM anpassungsfähiger aufzustellen, müssen sich Händler zunächst mit der Ist-Situation auseinandersetzen: Wie anfällig sind meine Transportrouten für externe Schocks? Welche Risiken stecken in meinem Lieferantenportfolio?
  2. Auf Basis dieser Analyse wird die Transparenz in den besonders wenig anpassungsfähigen Bereichen verstärkt. Die vorhandenen Daten werden für ein Monitoring erschlossen und reduzieren die Reaktionszeiten im SCM auf unerwartete Ereignisse.
  3. Sind bereits vorhandene Daten erschlossen, können diese im dritten Schritt für Vorhersagen und Szenarienbildung genutzt werden - zunächst noch losgelöst vom Monitoring, um schnellen Nutzen zu gewährleisten.
  4. Die Zusammenführung von Monitoring und Vorhersagefähigkeiten folgt im vierten Schritt, um die Adaptivität nachhaltig im SCM zu verankern.

Fazit

Durch die oben skizzierte Anpassungsfähigkeit können Maßnahmen automatisiert ausgeführt und deren Erfolg aktiv überwacht werden. Die Nutzung von fortgeschrittenen Datenanalysen sorgt zudem dafür, dass Automatisierung keinen starren, manuell definierten Regeln folgt, sondern dynamisch erfolgt und so zu einer nachhaltigen Anpassungsfähigkeit beiträgt.

Diese Adaptivität wird zukünftig ein wesentlicher Faktor für erfolgreiche, resiliente Lieferketten im gesamten Handel sein.