Auch wenn Amazons Umsatz im Versandgeschäft in zwei der drei letzten Quartale rückläufig war: Der Onlineriese wird auf absehbare Zeit weiter wachsen. Dennoch: Die Gefahr, dass Amazon ein ähnliches Schicksal wie Karstadt erleidet, ist real, sagt Alexander Graf. In diesem Gastbeitrag erklärt der Spryker-CEO, warum Einkaufen bei Amazon keinen Spaß mehr macht, warum der Konzern trotz Cloud- und Werbesparte (noch) nicht auf sein Kerngeschäft verzichten kann und warum Amazon vom Disruptor zum Disruptierten werden könnte.
Was folgte, ist ein bis heute währendes Trauerspiel der deutschen Wirtschaftsgeschichte mit dem Anfang Oktober 2022 neuerlich abgesetzten, unrühmlichen Ruf nach staatlicher Unterstützung. Wer nun denkt, dass so ein Abstieg im Onlinehandel nicht möglich ist, halte sich fest: Wenn Amazon nicht aufpasst, droht dem Platzhirsch des E-Commerce ein ähnliches Schicksal.

Das Kerngeschäft-Problem
So wie einst bei Karstadt macht heute auch bei Amazon das Einkaufen keinen Spaß mehr. Amazon schwächelt im Kerngeschäft: Das Versandgeschäft schreibt rote Zahlen, der Umsatz dort ist in zwei der vergangenen drei Quartale rückläufig gewesen – und die Aussichten sind angesichts von Inflation, Krieg, gestiegenen Frachtkosten und Rezession alles andere als rosig.Klar: Wir werden auch künftig immer weniger stationär und immer mehr via Internet einkaufen. Nur wo und wie wir das tun – das steht noch nicht fest. Galt jahrelang als unausweichlich, dass Amazon sich eine Branche nach der anderen einverleiben wird, gibt es in einzelnen Segmenten längst spezialisierte Anbieter, die Amazon den Rang abgelaufen haben (in Deutschland, immerhin Amazons zweitgrößtem Absatzmarkt, etwa Sport Tiedtje, Rose Bikes, das Musikhaus Thomann und sogar Ikea mit seinem keinesfalls exzellenten E-Commerce-Einkaufserlebnis).
Wer heute auf Amazon nach einem Artikel sucht, erhält als Ergebnis eine Schwemme an Produkten, bevorzugt China-Ramsch, deren Sortierung genauso undurchsichtig ist wie die Identität und Vertrauenswürdigkeit ihrer Verkäufer. Und dass den Kundenbewertungen auf Amazon nicht zu trauen ist, weiß heute ohnehin jeder.
Das Software-Problem
Als Verkaufsplattform hinkt Amazon seit vielen Jahren hinter den Marktstandards her. Die Software scheint enorm eingerostet und basiert noch immer sehr stark auf der klassischen Desktop-Denkweise. Das Interface wirkt altbacken und ist in Sachen Trust und Performance weit weg vom State of the Art. Amazon ruht sich auf dem Selbstverständnis aus, dass der Kunde die Domain kennt und dort nach Produkten sucht, auf der vermeintlichen Gewissheit, den Funnel zu kontrollieren.Über das Versprechen "Wir verkaufen irgendwie alles" hinaus hat Amazon als Shopping-Plattform sich nie innoviert. Die Artikelsuche funktioniert nur leidlich, das können andere Anbieter mittlerweile deutlich besser, etwa Asos oder Zalando (Stichwort: facettierte Suche). Das auktionsbasierte Werbesystem hat der Usability der Plattform den Rest gegeben. Es ist in vielen Fällen für den Endkunden nicht mehr möglich, das für ihn beste Produkt zu finden – sondern er findet nur noch das für ihn meistoptimierte, meistbeworbene, meist(fake)bewertete Produkt.
Die Software und das dahinter liegende Datenmodell sind überholt und viel zu komplex geworden. Um im Vergleich mit Karstadt zu bleiben: Die Tech-Legacy von Amazon wiegt mittlerweile schwer wie Beton. Produktlisten und Kategorieübersichten werden so zunehmend unbrauchbar. Amazon schaffte es daher nicht, einen spezifischen Facettenfilterbaum anzulegen, obwohl doch für Batterien nunmal andere Kriterien gelten als für Abendkleider.
Die Einführung neuer Kategorien wie etwa "Refurbished" scheitert an technischen Hürden, die Shop-Logik lässt sich nicht mal eben umbauen. Auch im B2B-Umfeld trifft Amazon nicht mehr den Nerv der Zeit: Partner, die Daten einsehen wollen, werden mit Excel-Tabellen abgespeist. Partner, die Daten hochladen wollen, müssen das ebenfalls über Backends machen, die in den frühen 2000ern stehen geblieben sind.Das Werbe-Problem
Auch wenn das Handelsgeschäft nicht mehr so gut funktioniert und die Softwarestruktur Weiterentwicklungen erschwert: Amazon ist darauf angewiesen, dass diese Geschäftssparte stark bleibt. Denn damit eng verbunden ist das noch immer gut wachsende Werbegeschäft – und das ist mit knapp neun Milliarden Dollar Umsatz eine zentrale Erlösquelle geworden.Werbung auf Amazon ergibt für Händler aber nur Sinn, wenn Amazon als Verkaufsplattform dominant bleibt. Wenn es sich rechnet, die Kunden dort auf das eigene Produkt zu lenken. Die Annahme, dass Advertising eine verlässliche Stärke von Amazon ist, führt übrigens in die Irre. Während es sich auf Google oder Facebook lohnt, für alles Mögliche zu werben, ist Werbung auf Amazon nur für Unternehmen interessant, die eben auch auf Amazon ihre Produkte verkaufen.
Wenn, etwa durch Inflation, die Konsumlust nachlässt und weniger Kunden auf Amazon einkaufen, werden auch Werbebudgets in andere Kanäle fließen. Die am Kapitalmarkt aufgestellte Gleichung, dass Amazon sich durch das Werbegeschäft in seinem Modell diversifiziert hat, ist so nicht wahr. Am Ende ist es eine Art Werbekostenzuschuss-Modell, nur smarter für Amazon bzw. teurer für die Anbieter.
Das Legacy-Problem
Nach Jahren der Steuerung durch den Innovator Jeff Bezos entwickelt sich Amazon immer mehr zu einem Konzern der Manager. Es gibt zu viele Stakeholder, zu viele Units, die miteinander konkurrieren und um die Gunst der Unternehmensführung buhlen. Auch das erinnert an die Taschenspielereien in der Management-Etage von Karstadt. Amazon ist längst ein Gemischtwarenladen, dem auch im Management der Fokus aufs Wesentliche fehlt. Entscheidungen werden nicht mehr zentral nach dem Paradigma "Bester Preis und Alles für den Kunden" getroffen.Amazon war immer sehr Bezos-orientiert. Durch seinen Abgang fehlt das bisherige Führungsvorbild. Unter seinem Nachfolger Andy Jassy, der Mitte vergangenen Jahres CEO wurde, haben laut Bloomberg 50 von mehreren Hundert Vice-Presidents gekündigt. Beide Zahlen – die der Vice-Presidents wie die der Kündigungen – sprechen für eine aufgeblähte, zunehmend in unterschiedliche Richtungen diffundierende Struktur.
Das Transformationsproblem
Wer Amazons Gesamtentwicklung betrachtet, kommt nicht um die Frage herum: Will Amazon überhaupt noch Händler sein? Werttreiber ist längst die Cloud-Sparte AWS, statt Onlinekaufhaus ist Amazon zunehmend ein globales Logistiknetz.In Warehouses und Logistiksystem hat Amazon während der Pandemie auch massiv investiert (in den USA etwa wurden Kapazitäten verdoppelt). Möglicherweise zu massiv. Auch das erinnert an Karstadt-Kaufhof, die eines Tages feststellten, dass sie viele zu viele Betonklötze in deutschen Innenstädten besaßen bzw. langfristig gemietet hatten. Schon jetzt werden Amazons Lagerhallen und Logistikzentren zum Teil (noch) nicht gebraucht – dabei sind die Folgen von Inflation und Rezession für das künftige Konsumverhalten noch gar nicht richtig absehbar. Für die Grundauslastung der eigenen Infrastruktur ist Amazon aber zwingend auf das schon jetzt schwächelnde Retail-Geschäft angewiesen.
Fazit
Um es ganz klar zu sagen: Amazon geht es gut. Der Jahresumsatz nähert sich der halben Billion US-Dollar, der Gewinn liegt bei mehr als 30 Milliarden Dollar. Amazon wird auch die nächsten zehn Jahre weiter wachsen. Im Retail-Bereich sind aber keine Innovationen mehr sichtbar. Dabei war dieser Bereich bei Amazon immer der Innovationstreiber für die anderen Geschäftsbereiche.Und genau hier liegt die langfristige Gefahr. Um die Transformation erfolgreich zu schaffen und eben nicht das Karstadt-Schicksal zu teilen, braucht Amazon noch einige gute Jahre im traditionellen Kern-Business. Ob diese Kalkulation aufgeht, ist heute nicht sicher.
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