Der Pionier des Entrepreneurship-Gedankens in Deutschland Günter Faltin spricht mit etailment über das Ende der Wachstumshörigkeit, neue Werte und warum den Davids die Zukunft gehört, und nicht den Goliaths.
Herr Professor Faltin, wieso entwickelt sich die Wirtschaft Ihrer Meinung nach in die falsche Richtung?
Die alte Ökonomie produzierte – und brauchte – immerwährendes Wachstum. Das ging lange gut, sehr gut sogar: Wir haben den Mangel besiegt, ohne es recht zu merken. Die historische Aufgabe der Ökonomie, den Mangel zu beheben, ist also in den entwickelten Ländern weitgehend erfüllt. Eine gigantische Leistung. Große Ökonomen des 20. Jahrhundert wie John Maynard Keynes haben für die Zeit nach Ende des Mangels gefordert, zu traditionellen Werten zurückzukehren, die im Kapitalismus verschüttet wurden.

Rechnet sich das für Unternehmer?
Ich glaube nicht an die Redeweise vom gnadenlosen Preiswettbewerb, von der "cut throat competition", bei der jemand aus dem Markt ausscheidet, wenn er verantwortungsbewusster, damit aber auch mit höheren Kosten antritt. Meine eigene Gründung, die Teekampagne, ist ein Beispiel dafür: Wir zahlen den Tee-Produzenten hohe Preise, wir wenden viel Geld für die Qualitäts- und Rückstandskontrollen auf, wir finanzieren ein Wiederaufforstungsprojekt und wir sind trotzdem zum Marktführer für Darjeeling-Tee geworden.Es gibt viel zu wenige Unternehmen und diese haben ein viel zu geringes Wettbewerbsbewusstsein, als dass in der Wirklichkeit einigermaßen vollständige Konkurrenz und gnadenloser Wettbewerb entstünde. Die Mehrzahl der Unternehmen versucht ganz im Gegenteil, sich dem Wettbewerb zu entziehen – unter anderem, indem sie ein austauschbares Produkt mit einem Marken-Image versehen, das Einzigartigkeit suggerieren soll. Dass Wirtschaftsvertreter gern über gnadenlosen Wettbewerb klagen, ist noch lange kein Beleg für den Wahrheitsgehalt der Aussage.
"Günter Faltin mit kleinem Geld zu großem Erfolg" DW TV
In den arbeitsteiligen digitalen Gesellschaften werden die ökonomischen Chancen neu verteilt. Wie wirkt sich das aus?
Der Zugang zu aktiver Teilhabe am Wirtschaftsgeschehen verändert sich in einem Ausmaß, wie es die Geschichte noch nie gesehen hat. Die Zugangsschwelle für Gründer ist dramatisch gesunken – im Grunde kann heute jeder als David gegen die Goliaths der Konzerne antreten und gewinnen. Wissen steht uns, dank Digitalisierung, mit kurzem Zugriff zur Verfügung.Was früher Geschäftsgeheimnisse waren, etwa der Zugang zu Rohstoffen oder die Kenntnis und Beurteilung von Lieferanten, wird täglich transparenter und auch für Newcomer zugänglich. Auch Kapital ist längst nicht mehr das größte Problem. Der entscheidende Engpass liegt heute in der Qualität der Unternehmenskonzepte. Guten Konzepten laufen Kapitalgeber hinterher.
Welche Risiken stehen dem gegenüber?
Für die Davids: keine. Sie können eigentlich nur profitieren, wenn sie auf die großen Themen der Zeit reagieren.Für die Goliaths: große. Sie können den Wettstreit um neue Inhalte und Werte verlieren.
Für den Planeten: keine. Eine Wirtschaft, die von werteorientierten Davids dominiert wird, wird für Mensch und Natur nachhaltiger und schonender sein.
Für die Gesellschaft: Hier wird ein Umbau nötig werden. Politische und soziale Systeme, die auf immerwährendem Wachstum basieren, sind nicht nachhaltig und nicht mehr zeitgemäß. Sie werden zusammenbrechen. Mit einer wertebasierten Ökonomie gibt es dagegen gute Chancen, die Wiederversöhnung mit der Natur und den Übergang zu einer menschlicheren Gesellschaft zu schaffen.
Welche Werte werden den Menschen im Jahr 2030 wichtig sein?
Vermutlich die gleichen wie immer: Wohlbefinden, Gesundheit, Lebensqualität, Glück. In Anlehnung an Erich Fromm nenne ich das den Seins-Modus – er steht traditionell im Mittelpunkt aller Weisheitslehren und Religionen dieser Welt. Die heutige Situation ist anders: Heute wird uns Glück und Lebensqualität als etwas verkauft, das wir darüber erlangen, dass wir etwas kaufen, etwas besitzen – wir sollen im Haben-Modus leben.Für viele mag das esoterisch klingen. Aber was uns stutzig machen sollte: Die Werbeindustrie verwendet fast ausschließlich Begriffe und Bilder aus dem Seins-Modus. Erinnern wir uns an den "Geschmack von Freiheit und Abenteuer", an Anmutungen wie Sehnsucht, Geborgenheit, Vertrauen. Und ganz besonders: Glück. Glück als zentrales Versprechen.
Glücksempfinden, das bis in die letzten Banalitäten hinein strapaziert wird: die glückliche Familie am Frühstückstisch, wo das Glück aus dem Brotaufstrich kommt, sei es als Margarine oder Marmelade. Die Wahl der richtigen Waschpulvermarke, mit der die Hausfrau den heimkehrenden Ehemann glücklich macht. Wir müssen nur wieder lernen, dass Glück nichts mit Margarine oder Waschpulver zu tun hat. Und das können wir schaffen."Glücksempfinden wird bis in die letzten Banalitäten hinein strapaziert"
Günter Faltin
Prof. Dr. Günter Faltin baute den Arbeitsbereich Entrepreneurship an der Freien Universität Berlin auf. Seit 2013 lehrt er als Gastprofessor an der Universität Chiang Mai. 1985 gründete er die Projektwerkstatt GmbH mit der Idee der "Teekampagne" als Modell für Entrepreneurship. Das Unternehmen wurde zum weltgrößten Importeur von Darjeeling Tee. 2009 erhielt die Teekampagne den Deutschen Gründerpreis.
Faltin initiierte das Labor für Entrepreneurship und ist Business Angel erfolgreicher Start-Ups, darunter eBuero und RatioDrink. Die Price-Babson-Foundation, Boston, verlieh ihm den Award "For Bringing Entrepreneurial Vitality to Academe". 2001 errichtete er die Stiftung Entrepreneurship mit dem Ziel, eine offenere Kultur des Unternehmerischen zu fördern. Als "Pionier des Entrepreneurship-Gedankens in Deutschland" zeichnete ihn 2010 der Bundespräsident mit dem Bundesverdienstorden aus.