Mit wachsendem E-Commerce droht der Verkehrskollaps. Über neue Zustellkonzepte und die Rolle der Kommunen sprachen wir mit dem Fraunhofer-Experten Bernd Bienzeisler.
Herr Bienzeisler, droht mit dem wachsenden Volumen im E-Commerce und zunehmenden Paketlieferungen der Verkehrskollaps in den Innenstädten?
Bernd Bienzeisler: Ja, zumal die Innenstädte zunehmend auch wieder von der Wohnbevölkerung gesucht werden. So nimmt der Verkehr in der Innenstadt absehbar noch deutlich zu. Ein Verkehrskollaps entsteht nicht nur durch den Wirtschaftsverkehr. Aber dieser spielt eine wesentliche Rolle in den Diskussionen, wenn es darum geht, mehr Verkehr in der Stadt oder die Bereitstellung von mehr Parkraum zu verhindern.
Hat es vor diesem Hintergrund überhaupt noch Sinn, wenn Anbieter wie Amazon zusätzlich zu den bestehenden Lieferdiensten mit eigenen Flotten auf den Markt drängen?
Aus Sicht der Anbieter wie Amazon ergibt das erheblichen Sinn. Denn am Ende des Tages wollen alle die letzte Meile im Griff haben, schließlich wird hier der Wettbewerb ausgetragen.
Auf der letzten Meile kann sich ein Unternehmen auch durch überdurchschnittliche Servicekonzepte sowie durch neue Zustellkonzepte gegenüber dem Kunden differenzieren."
Aber zu welchem Preis?
Dort fallen zwar auch überproportional hohe Kosten an. Doch auf der letzten Meile kann sich ein Unternehmen auch durch überdurchschnittliche Servicekonzepte sowie durch neue Zustellkonzepte gegenüber dem Kunden differenzieren. Deshalb versuchen alle Unternehmen, diesen Kontakt auf der letzten Meile zu bedienen. Amazon zum Beispiel will die gesamte Wertschöpfungskette abdecken. Dazu gehört eben auch die Zustellung bis an die Haustür oder sogar dahinter – indem der Zusteller den Zutritt ins Haus oder die Wohnung erhält. Damit ist man natürlich schon extrem nah am Kunden. Wer da einmal drin ist, ist nicht mehr ohne weiteres austauschbar. Die Unternehmen haben dann höllische Angst davor, diesen Kontakt zu verlieren und dadurch wieder nur Zulieferer zu sein. Damit würde man in der Wertschöpfungskette eine Ebene tiefer rutschen.
Was geschieht denn aktuell auf der letzten Meile?
Es ist interessant zu beobachten, wie sich dieser Bereich angesichts solcher neuer Zustellkonzepte transformiert – was die Feinverteilung betrifft, die Mikrologistik oder Hubstrukturen. Die Frage ist auch, ob künftig noch jeder Zugang zur letzten Meile erhält?
Oder werden sich zum Beispiel Zwischenlager bilden und die Dienstleister wären dann genötigt, dort ihre Ware abzuliefern? Vielleicht übernehmen ab dort auch Dienstleister das Geschäft, die heute noch gar nicht präsent sind. Wohl auch deshalb drängen Anbieter wie Amazon derzeit so massiv in dieses Feld, um die Kette zu schließen, um nicht abhängig zu werden und vor allem, um bei Kunden nicht austauschbar zu werden.Wenn Sie von Zwischenlagern sprechen: Der Run auf die Innenstädte ist in vollem Gange. Wo könnten Sie sich denn noch geeignete Lagerflächen vorstellen, in früheren Warenhäusern, oder welche Möglichkeiten sehen Sie?
Im Grunde kann man sich die Flächen überall vorstellen, wo zumindest bestimmte Mindestanforderungen erfüllt sind mit Blick auf Lagerplatz, Sicherheit, Zugänglichkeit, Brandschutz und sicher nicht zuletzt den Lärm. Nächtlicher Lärm ist in Wohngebieten nur schwer vermittelbar. Damit sind die verfügbaren Flächen schon mal eingeschränkt.
Was bleibt dann überhaupt noch übrig?
Zum Beispiel Parkhäuser und Parkplätze. Oder auch freie Serviceräume im U-Bahn-Bereich.
"Die Städte selbst fungieren als Reallabore. Auch sie müssen ausprobieren, die Komfortzone verlassen und Fehler riskieren."
Sind die nicht viel zu klein?
Für dezentrale Lager in den Innenstädten braucht man keine drei Hektar Lagerfläche, dafür reichen kleine Einheiten. Deshalb kann ich mir auch sehr gut neue Lagerflächen in bestehenden Gebäuden vorstellen, wenn diese entsprechende Räumlichkeiten haben. Das hängt auch von der internen Logistik ab, etwa von der Beschaffenheit der Aufzüge. Doch eigentlich ist schon der erste Stock schlecht, am besten wäre das Erdgeschoss. Das wird allerdings auch gerne für andere Zwecke genutzt. Es ist nicht einfach, die richtigen Flächen zu finden.
In den meisten Innenstädten herrscht akuter Parkplatzmangel. Und nun sollen noch Parkflächen in Logistikraum umgewandelt werden. Wie kriegt man das unter einen Hut?
Wir müssen uns an die Vorstellung gewöhnen, dass die Städte bestrebt sind, für Autos unattraktiver zu werden. Dazu gibt es bereits einen breiten gesellschaftlichen und politischen Konsens. Schon vor zwanzig Jahren haben Städte damit angefangen, sich für den individuellen Autoverkehr unattraktiv zu machen, etwa Düsseldorf mit besonders breiten Busspuren. Zudem kommt das Preisargument immer stärker ins Spiel. Angesichts hoher Immobilienpreise nehmen die Überlegungen zu, wie man Parkflächen auch rentabler nutzen kann. Eine Stadt wie München wird sich dreimal überlegen, ob in der Innenstadt neue Parkplätze entstehen oder wie sich hochwertige Flächen auch anders nutzen lassen.
Besteht dann nicht das Risiko, dass viele Kunden wegbleiben, wenn es tendenziell weniger Parkplätze gibt?
Parallel müssen die Kommunen natürlich dafür sorgen, dass es andere Möglichkeiten gibt, in die Stadt zu kommen. Zudem könnten auch freie Flächen am Rand der Stadt zu Parkflächen gewidmet werden. Dann fährt man halt mit seinem Auto nur bis zum Stadtrand und von dort mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder Shuttles in die City.
Also das klassische Park&Ride-System?
Vielleicht gibt es auch Alternativen, etwa elektrische Mikrobusse, die teilautonom fahren und die Parkhäuser direkt ansteuern. Das Ganze muss bequem sein, mit kleineren und flexibleren Einheiten. Im Vergleich dazu wird die direkte Fahrt mit dem Auto in die Innenstadt immer unattraktiver. Auch der Einzelhandel kann letztlich kein Interesse daran haben, dass der Verkehr in der Innenstadt kollabiert. Denn dadurch wird die Stadt richtig unattraktiv. Die Leute kommen ja nicht in die Stadt, um sich Autos anzugucken. Die kommen in die Stadt, um Urbanität zu erleben, sich wohl zu fühlen und dabei im besten Fall auch noch einzukaufen. Das wird man in der Regel weniger tun, wenn man keinen Parkplatz findet. Deshalb hat der Einzelhandel ein Interesse daran, dass der Verkehr fließt. Doch es steht außer Frage, dass Parkplätze teurer werden.
"Man sollte auch die Rolle des Fahrers nicht unterschätzen. Der Fahrer hat einen enormen Einfluss auf die Produktivität."
Hat es künftig noch Sinn, wenn zeitweise mehrere verschiedene Dienstleister gleichzeitig dieselbe Wohnstraße ansteuern, um mit ihren 3,5-Tonnern jeweils ein Päckchen so groß wie ein Schuhkarton auszuliefern? Lässt sich das bündeln, oder ruft das gleich die Kartellbehörden auf den Plan?
Ich kann mir eine Bündelung bei der Zustellung gut vorstellen. Das würde jedoch bedeuten, dass die Kommunen neue hoheitliche Aufgaben übernehmen müssten.
Wie soll das genau aussehen?
Indem sie sagen: Ihr liefert jetzt alle eure Pakete an eine bestimmte Adresse. Das dürfte den Paket-dienstleistern allerdings nicht gefallen. Doch solche Zentral-Hub-Konzepte existieren bereits, zum Beispiel in Paris und in Malaga. Angeblich soll das auch ganz gut funktionieren. Das Ganze ist ein hochpolitisches Thema, denn letztlich geht es um die Frage, wer das Recht zur Zustellung auf der letzten Meile hat. Wer übernimmt dann die Feinverteilung, Spediteure wie Dachser oder sogar die städtischen Bediensteten? Es wird Verteilungskämpfe geben, denn niemand wird sich freiwillig die letzte Meile nehmen lassen. Oder wird es Allianzen geben, ähnlich wie Star Alliance im Flugverkehr? Es bleibt weiterhin spannend. Im Moment kann ich allerdings noch nicht erkennen, dass Unternehmen wie DHL, Hermes oder UPS irgendein Interesse an der zentralen Anlieferung haben.
Also läuft nichts ohne öffentliche Einmischung?
Das wird nicht ohne Regulierung gehen, und dagegen dürfte es mit Sicherheit Widerstände geben. Dennoch ist eine Bündelung der Verkehrsströme sinnvoll. Demgegenüber widerspricht eine Bündelung jedoch der Tendenz zur Individualisierung, zur genauen und vorhersagbaren Zustellung, wenn jemand zu Hause ist. So baut sich zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung ein Spannungsfeld auf. Ebenso beim Thema Zwischenlager im urbanen Raum, wenn der eine sein Paket um 19 Uhr zu Hause haben möchte und der andere nach 21.30 Uhr. Da lässt sich der Verkehr dann nicht mehr bündeln, sondern die Ware muss individuell zugestellt werden.
Das klingt nach einer extremen Herausforderung…
Einfache Lösungen für diese Fragen wird es nicht geben, vielmehr unterschiedliche. Man wird viel ausprobieren müssen. Die Städte selbst fungieren dabei als Reallabore. Auch sie müssen ausprobieren, die Komfortzone verlassen und Fehler riskieren. Fehler müssen erlaubt sein. Nach meiner Beobachtung wächst dafür in den Kommunen das Bewusstsein.
Auch die Art der Zustellung verändert sich. Heute liefert ein 3,5-Tonner ein Paar Schuhe aus. Wie sieht die Zustellung von morgen aus?
Sehr unterschiedlich: Wir unterscheiden den urbanen, den suburbanen und den ländlichen Bereich. Alle drei Bereiche haben völlig andere Anforderungen an die Zustellung. Im urbanen Bereich, der Innenstadt, hat man viele Stopps, viele Kontakte auf engem Raum. Das ist gut für Logistiker, denn es fordert wenig Fahrzeit. Ganz anders sieht es schon im suburbanen Bereich aus, wo man am besten sogar noch mit dem Diesel vorfährt. Ein Minusgeschäft ist vor allem die Zustellung im ländlichen Raum.
Wie stellt man sich künftig Lieferfahrzeuge vor?
Es wird mehr alternative Fahrzeuge geben. Ob die dann drei oder vier Räder haben, weiß ich noch nicht. Da passiert täglich etwas Neues. Erst kürzlich habe ich ein Fahrzeug gesehen, das wie eine Vespa mit Aufbau aussieht. So etwas Ähnliches gab es schon mal in den fünfziger Jahren. Allerdings werden die Fahrzeuge der Zukunft wohl meist elektrisch angetrieben.
Sind dafür nicht viel mehr Ladestationen erforderlich als bisher?
Sicher, doch die tendenziell kleineren Fahrzeuge benötigen auch weniger Ladeleistung. In der Innenstadt wird es absehbar viel schneller elektrisch als etwa im suburbanen Raum. Noch länger wird es auf dem Land dauern, bis sich dort Fahrzeuge mit Elektroantrieb durchsetzen. Die Zusteller müssen mehr Fahrzeuge für unterschiedliche Anforderungen bereithalten. Auf jeden Fall wird das Ganze komplexer.
Wie steht es mit mehr führerlosen und selbst fahrenden Fahrzeugen?
Im Lkw-Bereich gibt es dazu ja schon erfolgreiche Pilotmodelle. Der Einsatz autonomer Fahrzeuge ist auf der Langstrecke eher denkbar als im Innenstadtbereich. Auch an Robotic-Zustellungsmodellen wird gearbeitet. Etwa die Firma Starship Robotics ist hier schon sehr weit. Die arbeiten eng mit Daimler zusammen. Dazu gibt es Pilotprojekte.
Wie sehen solche Pilotprojekte aus?
Ein kleiner Transporter bringt bis zu acht Roboter zum Einsatzort. Diese schwärmen dann aus, um die Ware zu liefern. Anschließend werden die Roboter wieder eingesammelt, um dann zum nächsten Einsatzort zu fahren.
Warum hört man davon bisher nur wenig?
Weil es auch rechtliche Probleme gibt. In Deutschland geht das zurzeit noch gar nicht. Solche Konzepte werden ihre Zeit brauchen, ebenso wie das autonome Fahren. Man sollte auch die Rolle des Fahrers nicht unterschätzen.
Welche Rolle spielt denn künftig der Fahrer?
Der Fahrer hat einen enormen Einfluss auf die Produktivität. Zumal er die Ware nicht nur vor der Tür abstellt, sondern sie ins Haus bringt oder bei den Nachbarn abgibt und mit den Menschen redet. Die Fahrer sind enorm wichtig.
Also noch mehr Komplexität?
Ja, und damit nehmen auch die Datenmengen weiter zu. So wird es immer wichtiger, die Informationen über Kundenbedürfnisse mit den Prozessdaten zu verknüpfen, etwa um eine zeitlich genaue Zustellung nach Wunsch zu erreichen.