Die technologischen Veränderungen im Handel walzen wie ein Tsunami über die Branche, das war beim diesjährigen Handelskongress zu spüren. Dabei verlieren die kleinen Unternehmen den Anschluss, was aber nicht schlimm sein muss - wenn sie sich auf ihre Stärken besinnen. Es gibt dafür gute Beispiele.

Es wäre ja mal interessant zu erfahren, ob jemand wie Nina Sträcker sich mit Künstlicher Intelligenz, Predictive Analytics oder Robotics beschäftigt. Möglicherweise wird sie entrüstet sagen: "Ich bin eine Modehändlerin und leite kein Softwareunternehmen."

Nina Sträcker ist Inhaberin von Modehaus Schumacher und Ankes Trachtengalerie, zwei Unternehmen in einem, Sitz ist Linau im Kreisherzogtum Lauenburg in Schleswig-Holstein, nicht einmal 1.300 Einwohner. Wer dort an einem Samstag vorbeischaut hat das Gefühl, der gesamte Ort geht zu Nina Sträcker einkaufen, freie Parkplätze sind dann so rar wie Regen in diesem Sommer. Halb Norddeutschland scheint sich hier allwöchentlich Trachtenjacken oder auch normale Tagesmode zu kaufen.

Der Anspruch? Wohlfühlen!

Warum ist das so? Am Digitalen liegt es nicht. Der Internetauftritt des Ladens ist, sagen wir mal vorsichtig, konventionell. Es gibt auch keinen Onlineshop, es steht dort nichts über Präsenzen in den üblichen Social-Media-Kanälen. Aber wer auf den Button "Service" klickt, liest:


"Unser Anspruch ist, dass Sie sich bei uns wohlfühlen. In unserer alten Schule gibt es gemütliche Sitzecken, an denen Sie sich bei Kaffee oder Tee von unseren fachkundigen Verkäufer/innen ehrlich beraten lassen können. Wir verfügen über eine hauseigene Änderungsschneiderei. Sollte ein Kleidungsstück nicht perfekt passen, erledigen unsere kompetenten Schneiderinnen zum Selbstkostenpreis die Feinarbeit. Sie benötigen keinen Termin zum Aussuchen Ihres Brautkleides oder Hochzeitsanzuges. Ihr gekauftes Kleidungsstück bewahren wir kostenlos bis zur Abholung bei uns auf. Direkt vor unserem Geschäft gibt es kostenlose Parkplätze."

Wow. 

Und der regelmäßige irre Kundenansturm ist die Bestätigung, dass Nina Sträcker ihre Versprechen auch einhält. 
Ein Preis für ein Lebenswerk: Evi Brandl (links) bekommt den Lifetime-Award des HDE, hält eine ergreifende Dankesrede, von der auch Moderatorin Dunja Hayali gerührt ist.
© HDE
Ein Preis für ein Lebenswerk: Evi Brandl (links) bekommt den Lifetime-Award des HDE, hält eine ergreifende Dankesrede, von der auch Moderatorin Dunja Hayali gerührt ist.
 So eine Händlerin hätte der Handelsverband Deutschland (HDE) auch mal einladen sollen zum Handelskongress in dieser Woche. Die norddeutsche Händlerin wäre ein netter Gegenentwurf zum Kongressprogramm gewesen, das Besucher mittlerweile an die alljährliche "Big Show" des US-Einzelhandelsverbandes NRF erinnert. Diese Messe in New York City ist formell ein Einzelhandelstermin, faktisch aber eine Technikausstellung.

"Künstliche Intelligenz ist keine höhere Lebensform"

Als sich die deutsche Branche Mittwoch und Donnerstag wieder in Berlin traf, ging es eigentlich auch nur noch um Technik, Technik, Technik. Begriffe wie Künstliche Intelligenz und Big Data waren allgegenwärtig, man redete über Voice Commerce, Datenmanagement und Instore Technology, als ob so etwas den Handel retten oder gar in neue Höhen führen würden.  Da war ein Satz von der deutschen Microsoft-Chefin Sabine Bendiek tröstlich, die in den Kongresssaal rief: "Künstliche Intelligenz ist keine höhere Lebensform." Aber so wird es mittlerweile gesehen - und das ist falsch. Wenn die Branche sich nur noch auf Daten verlässt, auf die maschinelle Analyse von weltweiten Trends, dann verliert sie ihre Kompetenz und Daseinsberechtigung als Handelsunternehmer und lässt sich von Kunden diktieren, was in die Geschäfte kommen soll.

Algorithmus versus Fingerspitzengefühl

Denn ein guter Händler stand ja bisher Sortimentskompetenz, ER war der Trendfuchs, ER hatte den Geschmack und das Fingerspitzengefühl, seine Kunden zu überraschen. Das Modehändlerpaar Monika und Günter Leesberg aus dem sauerländischen Arnsberg bemüht doch keine Algorithmen für ihr Sortiment. Beide stehen mit ihrem guten Namen dafür, dass die Menschen im Sauerland schick angezogen werden in einem Laden, der nach einem Umbau so schön geworden ist, dass er 2017 vom HDE zu einem der "Stores of the year" gewählt worden ist. 
Steffen Gerth, Redakteur bei Der Handel und Etailment
© Aki Röll
Steffen Gerth, Redakteur bei Der Handel und Etailment
Wenn der stationäre Handel überleben will, dann nur, wenn er diesen Dreisatz befolgt: er braucht ein erstklassiges, kuratiertes Sortiment mit Haltung und Handschrift. Er braucht Personal, das den Kunden Heimeligkeit gibt - und er braucht einen schönen Laden als Wohlfühlkulisse.

Technik bitte nur, wenn sie dem Kunden nützt

Und die Technik? Ja, aber nur dann, wenn sie den Kunden etwas nützt. Wenn sie deren Einkäufe erleichtert oder vielleicht erfolgreicher gestalten lässt. Ansonsten ist Technik hervorragend geeignet, rückwärtige Prozesse zu optimieren. Lagerhaltung und Warenbestellung können damit wunderbar optimiert werden, damit das Personal von solchen lästigen Aufgaben entbunden wird. Man kann auch prima Kundenströme im Laden messen, um zur richtigen Zeit die angemessene Anzahl der Kassen zu öffnen, um Warteschlangen zu vermeiden.

Doch welche Kunden wollen denn wirklich im Laden auf Touchscreens herumgrabschen? Wer will einem Roboter hinterherlaufen, der ihn zum Regal bringt? Gibt es Erkenntnisse darüber, dass Kunden massenhaft mit ihren Smartpones Barcodes an den Produkten einscannen, um mehr über die Hose über das Päckchen Kaffee zu erfahren? Es ist auch schwer vorzustellen, dass ein Kunde gerne mit einem Verkäufer spricht, der eine Datenbrille trägt. Virtual Reality? Ist gut in Möbelhäusern, wenn die Kunden sich ihre neuen Wohnstuben zusammenstellen wollen. Ansonsten ist das vielerorts nur eine Spielerei. Man macht es halt, weil man gehört hat, das brauche man jetzt.

Die Kraft des Persönlichen

Technik gehört heute zum Einzelhandel dazu, aber vieles können die Onliner eben besser, weil das deren Geschäftsmodell ist. Datenanalyse und so. Der stationäre Händler muss mit der Kraft des Persönlichen dagegenhalten, mit guter Stimmung im Laden. "Emotionalisierung der Flächen ist für uns wichtiger Wachstumsfaktor, nur mit Digitalisierung gehts nicht", sagt Georg Weber, Geschäftsführer der Gartencenter-Gruppe Dehner, das auf dem Handelskongress mit dem Handelspreis 2018 in der Kategorie "Mittelstand" ausgezeichnet worden ist.

Und wenn eine alte Dame wie Evi Brandl ein paar Minuten später sagt, dass für den Erfolg ihrer Münchner Metzgereikette Vinzenzmurr die "wundervollen Mitarbeiter" sind, dann gerät die Digitalisierung sowieso in den Hintergrund. Brandl hat in diesem Jahr den Lifetime-Award des HDE gewonnen, eine Art Oscar für eine Lebensleistung als Handelsunternehmer.

Heimat - das ist für Deutsche der klassische Einzelhandel

Der stationäre Handel hat im Prinzip seine Daseinsberechtigung längst verloren, das Internet hat doch heute alles und davon jederzeit. Sollte man meinen. Denn als das Allensbach-Institut in diesem Jahr die Deutschen zum Megathema "Heimat" befragte und vor was sie diesbezüglich am meisten Angst haben, antworteten 78 Prozent: "Dass viele alteingesessene Geschäfte schließen und dafür die immer gleichen Filialen großer Einkaufsketten aufmachen." Diese Angst steht in dieser Studie an erster Stelle, noch vor die Furcht auf die Zuwanderung aus dem Ausland (69 Prozent). 
Sie macht Douglas schöner: Tina Müller krempelt Deutschlands Parfümeriemarktführer kräftig um.
© HDE
Sie macht Douglas schöner: Tina Müller krempelt Deutschlands Parfümeriemarktführer kräftig um.
 Doch Tradition reicht nicht als Argument. Nur, weil ein Geschäft immer da war, hat es keine Überlebensgarantie. Der kleine, oft romantisierte Laden, muss schon für den Kunden auch etwas leisten, was er anderswo nicht bekommt. Der kleine Laden wird selbstverständlich nie mit der Warenmasse im Internet mithalten können - wer diesen Kampf aufnimmt, verliert ihn ganz schnell.

Wenn sich die Kunden am gemeinsamen Händler erkennen

Aber der Händler kann sich durch sein kuratiertes Sortiment eben als Marke positionieren, als Laden, der seinen Kunden die Qual der Wahl abnimmt. Modehändler Günter Leesberg erzählt gerne eine Geschichte von zwei Männern aus dem Sauerland, die sich im Urlaub zufällig an der Hotelbar kennenlernen, einander anschauen und sich dann gegenseitig fragen: "Kaufen Sie auch bei GL-Moden ein?" 
 Die beiden haben sich als Kunden von Leesberg nicht an den Modenmarken identifiziert, sondern daran, dass deren Zusammenstellung eine Handschrift trägt - eben die vom Händler aus Arnsberg. Wer dort einkauft, schmückt sich mit einem guten, prägnanten Stil.

Technik ist Sache der Großen

Ob Händler Leesberg beim Wareneinkauf Predictive Analytics kennt oder gar nutzt, ist stark zu bezweifeln. Es ist noch mehr zu bezweifeln, dass bei dem technischen Tsunami, der gerade über den Handel rollt, die Kleinen mithalten können. Für die entsprechenden Investitionen ist deren Eigenkapitaldecke zu dünn, und die Banken werden kichern, wenn sie mit Fragen nach Krediten für so etwas behelligt werden. Die Technik von heute begeistert vor allem die großen Unternehmen, das hat man auf dem Handelskongress deutlich gespürt, ein kleiner Mittelständler kann sich von so einer Veranstaltung eigentlich nicht mehr angesprochen fühlen - und daran muss der HDE arbeiten. Der kleine und stets hochgelobte Mittelstand muss andere Strategien gezeigt bekommen. Denn beim Handelskongress sitzen die einflussreichen Beratungsfirmen auf der Bühne und bringen ihre Kunden mit, wie Rewe  oder Tom Tailor - und dann wird das große Rad gedreht.

Popstar Tina Müller

Selbstverständlich muss sich Douglas auch mit Künstlicher Intelligenz beschäftigen, denn es geht ja auch um Kundenprogramme und Onlinehandel. Doch bei der Kompletterneuerung Deutschlands wichtigstem Parfümeriehändler hat die nun nicht mehr ganz so neue Chefin Tina Müller eben auch das Erlebnis Laden im Blick. Ein sechsstöckiger Flagshipstore auf der Frankfurter Zeil mit enorm viel Service, ein neues Premium-Ladenkonzept namens Pro Store, eröffnet im September in Hamburg. Und es gibt mehr Eigenmarken, auch im Premiumsegment. 

Douglas feilt an seiner Ur-Kompetenz als Kosmetikhändler - durch Produkte, Ladenbau, Service. Glaubt man Tina Müller, dann mit Erfolg: "Unser Marktanteil im Kernland Deutschland steigt wieder", sagt sie - und wird beim Handelskongress von den Besuchern wie ein Popstar gefeiert. Schlangestehen für eine kurze Kontaktaufnahme, heißt es.

Parkplatznot ist das beste Zeichen für einen guten Händler

Eine Händlerin wie Nina Sträcker spielt in einer anderen Handelsliga, in jeder Hinsicht. Aber sie ist bärenstark in ihrer Nische - andere sind das nicht. Und diese Unternehmen haben kaum noch eine Chance auf Fortbestand, irgendwelche technischen Spielereien helfen ihnen dann auch nicht weiter, zumal sie sich das alles gar nicht mehr leisten können, und weswegen das Tempo des Sterbens des kleinen stationären Handels sich weiter erhöhen werden dürfte. Norddeutsche werden bestimmt auf absehbare Zeit weiter bei "Ankes Trachtenmoden" einkaufen, obwohl sie bestimmt auch fluchen, dass sie dort samstags wieder keinen Parkplatz finden. Aber wenn das das einzige Problem ist, dann hat Nina Sträcker alles richtig gemacht.

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