Digitalisierungsexperte Ömer Atiker über die geliebte deutsche Nabelschau, die Auslagerung von Kreativität ins Bällebad und andere Gründe, warum sich mittelständische Händler so schwer bei der digitalen Transformation tun. 

Herr Atiker, warum tun sich mittelständische Händler so schwer mit der Digitalisierung?
Weil es uns viel zu gut geht. Vor lauter Erfolg hat keiner Zeit, sich um etwas Neues zu kümmern. Wenn ich die Zeit, die ich habe, damit verbringen kann, Geld zu verdienen, tue ich das. Das ist ja naheliegender, als in irgendwelche Hurra-Technologien zu investieren, die irgendwann mal Geld bringen könnten. Wenn es mir so ginge, würde ich auch sagen, das mache ich morgen. Nur "Morgen" ist dann nächstes Jahr. 

Beim Lebensmittelhandel beispielsweise weinen alle über die Margen und sagen, sie können nicht investieren. Dabei ist ja Geld da, nur nicht für den unsichtbaren Hintergrund, der das Geschäft zukunftsfähig macht. Doch es ist ganz einfach: Wenn ich mich nicht drum kümmere, macht es ein anderer. Und wenn es dann ein Anderer gemacht hat, stehe ich dumm da. Will ich das riskieren?

Wie können Händler denn gegen Amazon & Co bestehen?
Wenn man auf das Beispiel auf das Musikhaus Thomann schaut sieht man, wie ein Händler in seinem Bereich Amazon keine Luft lässt. Sicher kann ich auch das ein oder andere Mikrophon billiger im Internet kaufen, aber wenn ein Musiker Rat braucht oder über den Klag sprechen möchte, ist Amazon weder in der Tiefe noch in der Breite in der Lage, Thomann das Wasser zu reichen.

Hinzu kommt, dass sie kompetent und freundlich sind. Und Thomann ist im Musikalienhandel kein hippes junges Unternehmen, das das Internet miterfunden hat, sondern hat sich als gestandener Händler in die Materie reingearbeitet. Sie haben lange Jahre daran gearbeitet, dass es so gut läuft, und vor allem haben sie gelernt. 

Lernen andere Unternehmen nicht so gerne?
Genau. Viele lassen es auch gar nicht zu, einmal darüber nachzudenken. Unrecht? Haben höchstens die anderen. Das ist ziemlich dumm, denn es blockiert die eigene Entwicklung. 

Haben Sie noch ein positives Beispiel aus dem Handel für eine erfolgreiche Transformation?
Hier bei mir um die Ecke in Freiburg gibt es den mehr als 100 Jahre alten Elektrogroßhändler Alexander Bürkle, der Produkte wie Steckdosen und Smart Home-Geräte an den Fachhandel verkauft. Der wusste: Wenn Amazon Business kommt, dann haben wir damit keine Chance. Aber dann hat sich Bürkle überlegt, was sie denn besser können. Das fing an mit der Lieferung zur Baustelle. Ein klassischer Kurier liefert bis zur Haustür, wenn er vor einem Bauloch steht, ist er überfordert. Der Elektriker auf der Baustelle will aber die 5 Steckdosen, die ihm noch fehlen, sofort abholen können oder bestenfalls sofort geliefert bekommen. Das ist für Amazon zu anspruchsvoll. 

Ömer Atiker
© Simone Scardovelli
Ömer Atiker
Wo ist Alexander Bürkle noch besser als Amazon?
Bei der Beratung ihrer Kunden, den Handwerkern. Der klassische Handwerksbetrieb hat das Know-how rund um das Thema Smart Home nicht. Also bietet Bürkle den Handwerksunternehmen an, für sie Showroom einzurichten, mit allem drum und dran. Der kostet eine Stange Geld, aber dafür funktioniert auch gleich alles. Der Handwerker kann so seien Kunden live zeigen, wie Smart Home funktioniert und was es für Produkte und Features gibt. So wurde aus dem Händler Bürkle ein Mitdenker und Lösungsanbieter. Das ist gut für alle Beteiligten. Und jetzt denkt Bürkle über eine Plattform nach.

Wie kann man sich das vorstellen? 
Dort kann ein Handwerker beispielsweise Monteure, die gerade Zeit haben, für eine gewisse Zeit dazubuchen. Und er kann eigene Leute bei einer Auftragsflaute dort listen. Auch hier wieder ein Vorteil für alle Beteiligten. Bürkle denkt sich also sehr in die Lebenswelt seiner Kunden und deren Endkunden, den Konsumenten ein. Gegen Amazon kann man sich auch mit Mehrwert behaupten.

Also ist das Preisthema endlich tot?
Das sollte es sein, wenn Händler überleben wollen. Denn wenn man nur eine Schachtel von A nach B bewegt, dann gewinnt der Große. Der nutzt die Skaleneffekte, die automatisch den Preis pressen. Das ist die Urform des Kapitalismus, was ja auch grundsätzlich nichts Schlimmes ist, weil der Konsument seinen Pulli ja schnell und preiswert haben will.

Was können Händler denn von Amazon noch lernen?
Amazon macht sich tatsächlich konsequent Gedanken über die Bedürfnisse des Kunden. Die Website sieht immer noch arg hässlich aus und nicht wesentlich anders als vor 20 Jahren, aber sie funktioniert, weil sie 1001 kleine Dinge machen und testen. Diese Bescheidenheit, zu wissen, dass man nichts weiß und die Bereitschaft, auch viele kleine Dinge zu lernen, ist beeindruckend.

Es reicht ja, wenn ich 70 Tage lang pro Tag ein Prozent besser werde, dann bin ich hinterher doppelt so gut. Amazon fängt jeden Morgen wieder so an, als ob es der erste Tag im Geschäft ist, da sollten wir Deutschen uns eine Scheibe von abschneiden. Wir neigen noch immer zu einer gewissen Arroganz und glauben, dass wir schon alles wissen.

Warum tun sich Deutsche so schwer damit, etwas auszuprobieren und besser zu werden?
Das liegt oft am internen Fokus. Gehen Sie auf eine Strategietagung eines beliebigen deutschen Unternehmens und sie diskutieren ausschließlich über internen Prozesse, "unsere" Warenwirtschaft, "unser" CRM, "unser" Urlaubsantrag. Jammer, Jammer, Jammer. Da wird kein einziger Aspekt diskutiert, der Mehrwert für den Kunden bringt. Der Kunde kommt gar nicht vor.

Dem Kunden wiederum ist es völlig egal, wie viel der Händler über "seine" Logistikkette debattiert, er will Mehrwert für sich selbst. Das ist ein grundsätzliches Problem bei der digitalen Transformation: Dass man immer nur auf den eigenen Bauchnabel schaut und nicht auf das, was wirklich etwas wert ist. Und was etwas wert ist, entscheidet der Kunde, der kauft. Das ist das einzige, was zählt. Auf das iPhone hatte auch niemand gewartet. Überlegen Sie mal, ein Telefon ohne Knöpfe! 

"Auf das iPhone hatte auch niemand gewartet"

Ömer Atiker
Haben Sie noch ein praktisches kundenfreundliches Beispiel aus der Amazon-Welt?
Die Idee mit dem Dash-Button ist erfreulich konsequent. Wenn ich auf der Toilette bemerke, dass das Papier bald alle ist, kann ich das automatisch nur per Knopfdruck neben dem Klopapierhalter nachbestellen. Das können Sie auch für Chips, Bier, Waschmittel oder Kondome machen. So was ist interessant, denn der Kunde will nicht shoppen: Er will nur, dass das, was wer will, da ist. 

Was mögen Sie von Unternehmern gar nicht mehr hören?
Diesen alten Salat wie "haben wir schon immer gemacht" über "haben wir probiert, ging eh nicht" und "keine Zeit" bis hin zu "würde das gehen, hätte es schon ein anderer gemacht". Das ist Blabla, so kommt man nicht weiter.

Was regt Sie noch auf?
Diese Denke, dass Innovation woanders stattfindet. Man macht ein "Inno-Lab" in Berlin, als ob Innovation was für ganz besondere Menschen ist und Kreativität nur im Bällebad stattfindet. Da sitzen ein paar Hipster auf Sitzsäcken rum kleben bunte Zettel an die Wand. Das ist doch albern. Für ein Unternehmen ist wichtig, was im Kern stattfindet. Ich habe doch lieber 1.000 Leute, die einen Schritt vorwärtsgehen, als 10 Leute, die rennen wie verrückt. 

Digital Circle
© Atiker
Digital Circle
Wie bringen Sie das einem mittelständischen Handelsunternehmer bei?
Das System der zwei Geschwindigkeiten ist nicht einfach umzusetzen, der Handel ist ja sehr auf Effizienz orientiert. Ich mag das Bild einer Art Zielscheibe mit drei konzentrischen Kreisen. In der Mitte steht das, was das Unternehmen heute schon macht, im ersten Kreis darum steht "Verbessern". Dort geht alles ein bisschen schneller, ein bisschen billiger. Das können wir ganz gut in Deutschland und im Handel. Bei der Digitalisierung gibt es dann noch den zweiten Kreis drumherum, dort steht "Erweitern". Ich kann ein Produkt und eine Dienstleistung kombinieren und habe einen Mehrwert.

Wie den Dash-Button?
Genau, der ist da ein gutes Beispiel.  Es will sich kein Konsument groß auf die Website einloggen, er will nur seine Sachen haben. Aber auch Alexa ist ein Beispiel. Kein deutscher Händler würde auf die Idee kommen, eine Spracherkennung zu konstruieren, die noch viele Macken hat und vor allem schlechte Witze erzählt.

Aber das ist clever von Amazon! Denn für die heranwachsende Konsumentengeneration wird es selbstverständlich, mit einem Computer zu sprechen, Alexa wird zum Teil der Familie. Da wird bei uns oft viel zu kurz gedacht. Oder können Sie ich ein deutsches Unternehmen vorstellen, das so etwas auf den Markt bringt? Wäre viel zu peinlich. 

Was steht in Ihrem Bild mit den drei konzentrischen Kreisen ganz außen?
Im dritten Kreis steht "Entdecken", die Frage, was denn noch so alles geht. Amazon-Manager überlegen sich beispielsweise, was sie denn noch so alles in petto haben, kommen auf die leistungsstarken Rechenzentren und vermieten sie, so dass der Konzern heute einer der größten Cloudanbieter der Welt ist.  Oder Netflix. Erst waren sie Logistiker und haben DVDs verschickt. Jetzt streamen Sie Filme. Für den Kunden ist das naheliegend, aber für das Unternehmen ein radikaler Wandel. Das wäre "Erweitern". Aber inzwischen produziert das Unternehmen selbst seine Serien, denn sie kennen ihre Zuschauer besser als jeder andere. Und so wird aus einem Logistiker ein Filmstudio, wie auch Comicverlage ihre Print-Helden selbst zu Filmstars machen. Der Mut, etwas weiterzudenken, fehlt uns leider oft. 

Was bedeutet das für den Einsatz neuer Technologien im Handel? 
Da denken viele nur an die VR-Brille, und das ist langweilig. Überall Fotos von Leuten mit so einem Ding auf dem Kopf. Ist das unser Bild von Zukunft? Oder Smart Home. Ein Thermostat, der die Temperatur aus der Ferne regulieren kann, ist nett. Aber nicht mehr. Der Wert, für den wir als Konsument zahlen, hängt hintendran, und nicht vorne.  Ich war im Urlaub im Guggenheim-Museum in Bilbao, bildschön und in dem ganzen Gebäude gibt es nirgends auch nur eine gerade Kante. Das ist für mich angewandte Digitalisierung, denn ohne Computer hätte es der Architekt Frank O. Gehry weder konstruieren noch bauen lassen können. Das ist wirklich neu und anders und revolutionär, so etwas finde ich spannend. 

Stichwort Personalisierung: Wie weit sind da die Bemühungen deutscher Händler Ihrer Meinung nach gediehen?
Wenn ich auf Facebook gehe, sieht meine Seite ganz anders aus als ihre. Wenn ich einen Webshop besuche, tut sich da seit Jahren nichts, und ich werde ständig als Mann zur Damenmode geleitet. Alles was recht ist, ich brauche keine Damenmode! Die Händler sollen sich merken, wer ich bin und was ich will.  

So schlimm?
Meistens ja. Es gibt erste vorsichtige Ansätze der Customization. Zum Beispiel, dass Modehändler nach der Figur schauen und beraten. Dazu muss man aber erst einmal viele Dinge vereinheitlichen, die Größe zum Beispiel. Größe 38 ist für jeden etwas Anderes, und manch einer braucht 38, will da aber 36 draufstehen haben, damit er sich schlanker fühlt. Da sollte man sich also einigen. Das macht den Handel ja auch aus, dass man das passende Produkt für den Kunden hat und ihm das angenehmste Kauferlebnis bietet. Das ist bislang oft noch grottenschlecht. 

Was halten Sie vom Empfehlungsmarketing? Ist das schon so gut, wie es sein könnte?
Die Empfehlungen "Andere Kunden haben auch gekauft" von Amazon mag manchmal helfen. Doch das ist noch immer ein bisschen primitiv. Aber es gibt auch die Anekdote, dass das amerikanische Kaufhaus Target herausgefunden hatte, dass sie an Hand der gesuchten und gekauften Produkte erraten können, ob eine Kundin schwanger ist. Also schickte der Händler an die wahrscheinlich werdenden Mütter entsprechende Angebote und Coupons. Der Vater einer 16jährigen Tochter war darüber sehr erbost und beschwerte sich bei Target –  nur um später zu erfahren, dass seine Tochter tatsächlich schwanger war. Das ist natürlich etwas unheimlich, aber grundsätzlich sind so zielgerichtete Empfehlungen sinn- und wertvoll, in vielen Branchen.

Wo sehen Sie da interessante Lösungen?
Interessant finde ich beispielsweise Outfittery im Modebereich. Dort macht sich ein Verkäufer online mit mir Gedanken was ich will. Er bekommt Bilder von mir und meiner Kleidung, legt ein Profil an und schickt mir dann eine entsprechende Box mit einer kompletten Ausstattung. Das finde ich einen guten neuen Gedanken, das ist Shopping mal anders.

 Alle anderen Modeshops sehen verdammt noch mal völlig identisch aus. 3 bis 4 Kacheln nebeneinander, ein bisschen was unten am Bildschirm. Das ist langweilig und ich vermisse als Kunde den Mehrwert. Der Handel lebt wirtschaftlich gesehen davon, dass an etwas Mangel herrscht und er mir eine Effizienzalternative bietet. Über den Handel ist die Beschaffung für mich leichter und effizienter als es selbst zu machen oder irgendwo beim Hersteller zu besorgen. Das ist die Marge, von der Händler leben. Wenn aber die Effizienz ausgepresst ist, weil alle das gleiche machen, muss ich woanders den Wert schaffen.

"Modeshops sehen verdammt noch mal völlig identisch aus"

Ömer Atiker
Welche falschen Ideen spuken bei Unternehmern noch zu oft im Kopf herum?
Zu denken, dass Digitalisierung mit IT zu tun hat. Wenn ich als Unternehmer das Thema in die IT gebe sage, kümmert Euch mal um die Digitalisierung, ist es tot. Die Automatisierung hat die IT gut gemacht, das ist auch ihr Job, dass der Laden läuft. Aber das Ideal der meisten IT-Abteilung ist es, im Keller bei den Servern zu sitzen und in Ruhe gelassen zu werden. So jemanden kann ich doch keine neuen Produkte oder Servicekonzept entwickeln lassen!

Digitalisierung ist ein Querschnittsthema, das von keiner Abteilung allein behandelt werden kann. Diese Silos sehe ich noch viel zu oft. Aber nur wenn a) alle zusammenarbeiten, b) aus Kundensicht denken und dann c) gemeinsam mehr Wert schaffen, dann kommt ein Unternehmen voran. 

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