Auch wenn die Wachstumsdynamik im E-Commerce nach Corona wieder abgenommen hat: Shoppingerlebnisse finden immer öfter digital statt. Zu wenige mittelständische Unternehmen sehen aber bisher die Chance, die ihnen die konsequente Verbindung von analoger und digitaler Welt bietet. Besonders kleine und mittlere Einzelhändler haben hier noch Nachholbedarf. Ihnen widmet sich die Initiative Knowledge4Retail, an der neben Handelsunternehmen und Wissenschaftlern IT-Anbieter wie Nagarro beteiligt sind. Etailment hat mit Matthias Krefeld, Executive Director Retail & Media, bei Nagarro, über das Projekt gesprochen.

Herr Krefeld, Sie betreuen große Handelsunternehmen wie Dm, Thalia und Hagebau bei der Digitalisierung. Was haben diese Kunden gemeinsam?

Tatsächlich sehen wir einige branchen- und unternehmensübergreifende Herausforderungen – vor allem in den Bereichen Social Commerce, Fulfillment und Nachhaltigkeit.

Beginnen wir mit dem Thema Social Commerce: Gerade Jugendliche nutzen für Onlinekäufe heute fast nur noch das Smartphone. Für Händler werden damit die Themen „mobile“ und „Multi-Channel-Präsenz“ immer wichtiger. Denn es reicht nicht mehr, nur einen mobilfähigen Shop anzubieten. Vielmehr sind gerade die Händler erfolgreich, die genau da zu finden sind, wo auch die Smartphone-Nutzer sind. Bei Instagram beispielsweise. Hinzu kommen gestiegene Erwartungshaltungen bei der Produktpräsentation. Fotos und Produktbeschreibung? Das war gestern. 360-Grad-Bilder und Produktvideos entwickeln sich immer mehr zum neuen Standard. Oft ergänzt um intelligente Chatbots, die auch Fragen zum Produkt beantworten können.
Die Zukunft des Handels ist - zumindest zum Teil - digital. Doch gerade kleinere Händler wissen oft nicht, wo sie bei der Digitalisierung ansetzen sollen.
© Knowledge4Retail
Die Zukunft des Handels ist - zumindest zum Teil - digital. Doch gerade kleinere Händler wissen oft nicht, wo sie bei der Digitalisierung ansetzen sollen.
Auch die Ansprüche an das Fulfillment steigen stetig. Wichtig ist vielen Verbrauchern vor allem die Planungssicherheit. Nichts wird nach unserer Erfahrung so kritisch gesehen wie ungenaue Angaben zu Lieferterminen. Oft sind Verbraucher zudem enttäuscht, wenn einmal angegebene Termine nicht eingehalten werden – insbesondere dann, wenn sie nicht frühzeitig über den Lieferverzug und seine Gründe informiert werden.

Nachhaltigkeitskriterien spielen ebenfalls bei vielen Verbrauchern eine immer größere Rolle. So wird beispielsweise verstärkt darauf geachtet, dass mehrere Produkte in nur einer Verpackung geliefert werden – ein schlechtes Gewissen wegen der Lieferungen möchte schließlich niemand.
Wie können Unternehmen mit diesen Herausforderungen am besten umgehen?


Die genannten Herausforderungen lassen sich nur durch moderne IT-Lösungen kombiniert mit agilen Projektmethoden bewältigen. Ein modernes ERP-Systeme wie SAP S/4HANA bleibt zwar der Ausgangspunkt für die IT-Landschaft – es allein bietet aber nicht mehr alle notwendigen Funktionalitäten. Ergänzend sind vorgelagerte E-Commerce-Systeme heute unverzichtbar.

Für welches System sich ein Unternehmen dabei entscheidet, ist eher zweitrangig. Wichtig bei der Auswahl ist vor allem, dass es einige zentrale Kriterien erfüllt. Etwa, dass das System flexibel an neue Anforderungen angepasst werden kann und ausreichend skalierbar ist. Denn tatsächlich ändern sich gängige Features im Onlinehandel sehr schnell. Unternehmen müssen darauf kurzfristig reagieren können. Zudem sollte das System eine kanalübergreifende Vernetzung ermöglichen, damit keine Insellösungen entstehen.

Sie sind Teil des Innovationsprojekts Knowledge4Retail, einer Plattform, die mithilfe von KI eine Verbindung zwischen digitaler und analoger Welt schafft. Welches Problem lösen Sie damit?

Nach unserer Erfahrung wissen gerade kleinere Händler häufig gar nicht, wie sie grundsätzlich bei der Digitalisierung vorgehen können. Zunächst möchten wir daher dieses Wissen unter Händlern verbreiten. Stellen Sie sich als Ausgangspunkt ein Unternehmen vor, für den der Onlinehandel noch keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielt. Nun möchte dieser Händler aber einem breiteren Publikum seine Produktpalette anbieten – etwa, um neue Zielgruppen anzusprechen. Was wäre der erste Schritt?

Die Logistik innerhalb der Filialen ist der aufwändigste Teil der Supply-Chain: Auffüllen der Regale und Management des Filiallagers sind meist noch geprägt durch lange Laufwege und hohe Suchaufwände und werden bisher meist ohne digitale Unterstützung ausgeführt.
© Knowledge4Retail
Die Logistik innerhalb der Filialen ist der aufwändigste Teil der Supply-Chain: Auffüllen der Regale und Management des Filiallagers sind meist noch geprägt durch lange Laufwege und hohe Suchaufwände und werden bisher meist ohne digitale Unterstützung ausgeführt.
Zunächst muss die Filiale digitalisiert werden. Hierzu können auch intelligente Robotersysteme eingesetzt werden. Diese können nachts durch die Filiale fahren, Fotos von den Regalen schießen und sie mittels KI-Bilderkennung auswerten. Die Maschine vermerkt die Position der Regale, Preisschilder und Artikel und zählt die Bestände. Aus den Informationen erstellt sie einen digitalen Zwilling – ein virtuelles Abbild der Regale. Die dort hinterlegten Daten ermöglichen den Mitarbeitern einen schnellen Überblick über fehlende oder falsch platzierte Produkte. Dies sichert beispielsweise rechtzeitige Nachbestellungen. Sofern Händler von solchen Szenarien wissen, haben sie einen ersten Ansatzpunkt für ihre Digitalisierungsstrategie.

Inwieweit geht das Projekt über die Wissensvermittlung hinaus?

Wissensvermittlung ist ein zentraler Aspekt. Darüber hinaus wollen wir anhand gängiger Anwendungsfälle aber auch weitere Optimierungspotenziale aufzeigen.

Ein praktisches Beispiel dazu:
Eine Filiale vor Ort, sei es nun ein Baumarkt oder ein Buchgeschäft, muss nicht ausschließlich dem lokalen Einkauf dienen. Sie lässt sich gleichermaßen auch als „Micro-Warehouse“ verstehen. Damit meinen wir, dass sich die Filialen auch als ein Netz dezentraler Lager betrachten lassen. Im Vergleich zu einem Zentrallager lassen sich so Lieferzeiten häufig deutlich reduzieren – und die kürzeren Transportwege tragen zusätzlich zu mehr Nachhaltigkeit bei.

Auch in diesem Fall sind digitale Zwillinge hilfreiche Werkzeuge, da sich mit ihnen optimale Routen für die Kommissionierung der bestellten Produkte ermitteln lassen. Die Suche nach den Artikeln wird damit überflüssig. Kombinieren ließe sich das dann noch mit blinkenden Labels – „Picked by light“, wie das im klassischen Lager schon seit Jahren üblich ist.

Auf welche Trends im E-Commerce sollten sich Mittelständler in den kommenden Monaten unbedingt einstellen?

Eine zentrale Rolle wird das Thema Payment spielen. Die klassische Barzahlung verliert zunehmend an Bedeutung. Üblicher wird somit das Zahlen via Karte oder Smartphone. Verbraucher erwarten heute, dass ihnen eine Vielzahl an Zahlungsoptionen zur Verfügung stehen. Durch den starken Wettbewerbsdruck haben sie auch die Möglichkeit, diese Erwartung durchzusetzen.

Eine weitere, neuere Entwicklung lässt sich zudem gut am Beispiel eines Online-Möbelhauses verdeutlichen. Im Zweifel will ich als Verbraucher nicht nur das Produkt betrachten, sondern mir gleichzeitig einen Überblick darüber verschaffen, wie es sich mit seinen entsprechenden Abmessungen in mein Zimmer einfügen wird. Dazu können heute beispielsweise 3-D-Modelle genutzt werden. Je besser diese Modelle werden, desto selbstverständlicher wird ihr Einsatz.


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In welche der genannten Trends sollten Unternehmen als erstes investieren?


Um die Herausforderungen zu bewältigen, sind vor allem Investitionen in vernetzte IT-Landschaften nötig. Den Kern bildet dabei üblicherweise das ERP-System, das Unternehmen dann mit weiteren Bausteinen kombinieren können, beispielsweise einer E-Commerce-Lösung. Damit das Zusammenspiel mehrerer Systeme funktioniert, sollte das ERP daher entsprechende Schnittstellen besitzen beziehungsweise die Entwicklung neuer APIs unterstützen.

Zudem profitieren Unternehmen von Analysetools, die für die verschiedenen Systeme eine einheitliche Datenauswertung ermöglichen. Glücklicherweise erkennen immer mehr Softwarehersteller diesen Bedarf und bieten entsprechende Lösungen an. Unternehmen müssen dann nur doch die passende Lösung auswählen.

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