
Neckermann hat es nicht geschafft. Nach Quelle hat damit nun der zweite große deutsche Universalversender seine Pforten geschlossen. Ein letztes Mal werden die eigenen Errungenschaften hervorgehoben, aber künftig wird Otto als einziger Verbliebener dieses "Universalversender-Dreigestirn" für sich in Anspruch nehmen können, als treibende Kraft im Versandhandel den Wiederaufbau in Nachkriegsdeutschland begleitet zu haben.
Werden ehemalige Neckermann-Kunden nun zu Otto-Fans werden, so wie bereits nach der Quelle-Pleite geschehen? Die Chancen stehen gut: Das Unternehmen befindet sich im Wandel und die Marktforschung bescheinigt der Marke Otto, selbst keine Image-Blessuren aus der Pleite des Wettbewerbers davongetragen zu haben: Laut YouGov BrandIndex genießt Otto, trotz der Berichterstattung zur Insolvenz des Wettbewerbers, bei Verbrauchern weiterhin einen konstant guten Ruf.
Alles in Ordung? Die Marktforschung lässt dies glauben. Die Kunden aber befürchten offenbar, "dass - nach Quelle und Neckermann - Otto dann doch bestimmt als nächstes dran ist?" Dem ist natürlich nicht so, dennoch wird danach gesucht...
Paradigmeneffekt - Kunden werden durch Medienberichte negativ geprimed. Gerät Otto in die Google-Falle?

Für die Medien gilt, dass "schlechte Nachrichten gute Nachrichten sind" und wann immer ein bekanntes Unternehmen aufgeben muss, folgt die Wirtschaftspresse den Gesetzen ihres Marktes und setzt einfache Erkenntnisse der Medienpsychologie um: Gelesen wird, was Emotionen weckt. Neckermann wurde "abgehängt", "ist pleite", "ein gefallener Einzelhandelsriese", "hat sich selbst in sie Insolvenz manövriert" oder aber "wurde disrupted, weil man zu spät Anschluss gefunden hat."
Diese Form des negativen Primings der Leser bleibt nicht folgenlos: Sie googlen ihre Assoziation zur Berichterstattung der Neckermann-Insolvenz und wollen wissen, ob Otto das gleiche Schicksal erleiden wird.
Quelle=Neckermann=Otto=Insolvenz - Halo-Effekt dank mangelnder Markendifferenzierung

Wer über die Suchmaschine (hier im Inkognito-Modus des Chrome-Browsers) nach "Otto Versand I..." sucht, um zum Beispiel den "Internet Shop" oder dessen "Impressum" zu finden, bekommt "Otto Versand Insolvenz" als ersten Vorschlag präsentiert sowie entsprechende Artikel, in denen diese Schlagworte in Kombination auftreten. Als einen der ersten Treffer erhält man die Meldung, dass "Otto kein Interesse an Neckermann" hatte, wodurch sich für Laien weitere Fragen ergeben: "Ist Neckermann nichts wert?", oder "Otto geht es wohl selbst nicht gut, sonst würden die Neckermann doch retten, so wie damals Quelle."
Also wird weiter gesucht, denn in der Vorstellung vieler Kunden sind die Marken Quelle, Neckermann und Otto schließlich so eng miteinander verknüpft, dass sie nur als eine Marke wahrgenommen werden: "Traditionsreicher Universalversender der Nachkriegszeit". Auch hier liefert Google Trends ein Indiz für mangelnde Trennschärfe: Wer nach Neckermann sucht, sucht vielfach auch nach Otto und umgekehrt. Und wer nach Quelle sucht, sucht auch nach Neckermann, sucht nach Otto...
So färbt die Neckermann-Pleite letztlich doch ab. Die Vorstellung, dass es denn Universalversendern "schlecht geht" manifestiert sich durch Neckermann, weil jetzt " ja schon zwei von dreien nicht mehr da sind". Die Assoziationen zu "Pleite" und "Insolvenz" überstrahlen also Neckermann und werden auf Otto übertragen, "denn letztlich machen die doch eh alle das Gleiche".
Kunden suchen nicht nach Ursache und Wirkung und unterscheiden nicht zwischen Korrelation und Kausalität
Natürlich sind derlei aus dem Bauch getroffene Annahmen falsch: Neckermann ist etwas wert und Otto hat auch damals nicht Quelle gerettet, sondern sich lediglich später die Filetstücke gesichert. Und Otto hat auch nur deshalb im Juli 2012 kein Interesse an Neckermann gezeigt, weil man wahrscheinlich wieder darauf wartet das Tafelsilber günstig bekommen zu können.
Nur wissen das viele Kunden nicht.
Die wissen vielfach auch nicht, dass Otto nicht einfach nur ein deutscher Universalversender ist, sondern ein global aufgestellter Konzern, der nicht nur unter der Marke Otto in Erscheinung tritt, sondern ein ganzes Marken-Portfolio pflegt. Letztlich haben viele lediglich nur den Katalog oder den Web Shop vor Augen. Und sie wissen oftmals auch nicht, dass Google keinesfalls "neutral" ist, sondern auch ein manipulativer Meinungsverstärker sein kann. So werden interessierte Kunden, sofern sie ihren Browser-Cache nicht löschen oder diesen im privaten Modus nutzen, auch noch längere Zeit vom Insolvenz-Begriff begleitet werden. Nicht nur in der Suche selbst, sondern auch über Googles Werbeformate, die ihnen auf anderen Webseiten präsentiert werden. Dank Behavioral Targeting "folgt" ihnen der Insolvenz-Begriff im Internet, dem Medium, dass ihnen rund um die Marke Otto gleichermaßen als Informationsquelle wie auch als "Trägermedium" für dessen Web Shop dient...
So entstehen letztlich aus Assoziationen und Befindlichkeiten, Meinungen, die das Markenvertrauen mit prägen können.
Fazit: Das "gefühlte Markenvertrauen" ist schlechter als das "gemessene Markenvertrauen"
Befragungen in der Marktforschung werden von Kaufleuten für Kaufleute erdacht und erfassen die Kundenmeinungen lediglich in einem Momentum, in dem sich Teilnehmer der Befragung und des Befragungsgegenstandes bewusst sind, und sie fußen zudem auf "willkürlich" gewählten Skalen. Dadurch ist jede Form von Befragung per se mit systematischen Fehlern behaftet. Dennoch sind sie natürlich aussagekräftig, denn es soll ja nicht die "Wahrheit" erfasst werden, sondern lediglich die künftige Veränderung von einem Basiswert aus. Sofern also im weiteren Verlauf immer dieselben systematischen Fehler mit "durchgeschleift" werden, sind derlei Umfragen zum Markenvertrauen also auch reliabel, da es nur im die Relationen geht.
Es ist geht also nicht darum, die Aussagekraft von Erhebungsverfahren- und Methoden im Allgemeinen zu kritisieren, sondern die Frage zu stellen, ob ein Tool wie der Brand Index überhaupt das richtige Messinstrument ist, um das Kundenvertrauen in diesem speziellen Fall noch adäquat erfassen zu können.
Natürlich ist eine Argumentation auf Basis von Metriken wie Google Trends angreifbar. Genauso wenig wie man aber diesem Tool blind vertrauen sollte, sollte man sich aber auch in diesem Fall auf einen Brand Index verlassen: Das Markenvertrauen in Otto sei konstant hoch. Sagt die Marktforschung. Allzu gern begnügt sich der Fachmann dann damit und klickt sich zur nächsten Meldung weiter. Der Laie jedoch, der Kunde, nimmt die Situation vielleicht ganz anders wahr und pflegt negative Befindlichkeiten, die eine simple Befragung gar nicht erfassen kann.
Die genannten Fragestellungen und Meinungsbilder sind mir in den vergangenen Tagen in meinem privaten Umfeld begegnet. Das hat mich anfangs überrascht und einen Perspektivwechsel angeregt. "Dass Otto bestimmt ja auch bald dran ist" war dabei kein Ausreisser, sondern eine Konsensmeinung. Ich musste erklären, wie der Konzern aufgestellt ist, warum Otto Quelle nicht "gerettet" hat, es mit Neckermann auch nicht getan hat und wie und warum Neckermann "etwas wert" ist. Die Marke, die Kundendaten, das Reiseportal. Dass Otto hier bestimmt noch einmal seine Finger ausstrecken wird. Eine Restskepsis blieb jedoch, die ich letztlich nur durch einen Vergleich aus der Welt schaffen konnte:
"Erinnert ihr euch noch an den Trend vor ein paar Jahren, als im Radio neben der Temperatur auch immer eine gefühlte Temperatur angesagt wurde? So verhält es sich hier auch: Otto fühlt sich als Marke für euch gerade kälter an als sie wirklich ist und Schuld daran ist ein eisiger Neckermann-Wind. Die Ecken und Häuserschluchten an denen es dann zusätzlich zieht und sich dieser Wind nochmals aufschaukelt, das ist hier Google."