Die Städte werden von neuen Lebensmittel-Lieferdiensten und Online-Supermärkten überschwemmt. Auf dem Land aber tun sich die neuen Wettbewerber schwerer, wie der Blick auf einige Pioniere zeigt.

Kurz vor der Corona-Pandemie begann der Trend, der noch ungebrochen ist: Lieferdienste und Online-Marktplätze für Mahlzeiten und Lebensmittel fassten hierzulande Fuß. Die meisten der Pioniere, die massiv nach Deutschland drängten oder hier gegründet wurden, haben zwei Dinge gemeinsam: Sie werden mit Risikokapital finanziert und verdienen bisher kein Geld.

Durch die aktuellen Krisen und die Zinspolitik nimmt jetzt auch noch die Risikobereitschaft der Investoren deutlich ab. So müssen die Weichen neu gestellt werden: weiter expandieren - oder konsolidieren. Alle Pioniere konzentrieren sich zunächst auf die Ballungsräume. In der Corona-Pandemie trafen sie auf dankbare Städter, die die Angebote rege nutzten, da die Angst vor Ansteckung das Einkaufsvergnügen trübte. Mit zunehmender Normalisierung des Alltags steht das Geschäftsmodell auch dort auf dem Prüfstand.
Milchmann an der Haustür - das war einmal. Eine Lösung für das Problem der Nahversorgung auf dem Land bieten moderne Lieferdienste und Onlinesupermärkte (noch) nicht.
© IMAGO / agefotostock
Milchmann an der Haustür - das war einmal. Eine Lösung für das Problem der Nahversorgung auf dem Land bieten moderne Lieferdienste und Onlinesupermärkte (noch) nicht.

Lieferkosten als größte Hürde

In der Fläche aber muss die Tragfähigkeit generell erst bewiesen werden, meint Michael Reink, Bereichsleiter Standort- und Verkehrspolitik beim Handelsverband Deutschland (HDE): "Bei allen bestehenden Formaten ist der logistische Aufwand hoch und die Margen sind gering. Das sind schwierige Marktvoraussetzungen in den Ballungsgebieten, die auf dem Land nicht geringer werden."

Zudem ist der Wettbewerbsdruck innerhalb der Branche beachtlich, schließlich ist der Lebensmitteleinzelhandel (LEH) in Deutschland mit über 220 Milliarden Euro Umsatz pro Jahr einer der wichtigsten weltweit. Im internationalen Vergleich gilt die Lebensmittelversorgung der deutschen Bevölkerung als gut. Auch gibt es große, gegenüber den Erzeugern äußerst verhandlungsstarke Unternehmen, was für ein relativ niedriges Preisniveau sorgt.

Die Platzhirsche Rewe- und Edeka-Gruppe kommen auf fast 50% Marktanteil. Der Anteil des Onlinehandels im Lebensmittelmarkt lag 2021 noch unter 3%, wobei die Rewe-Gruppe als führend gilt, den Service aber nicht flächendeckend anbietet.

Getir: Potenzial für das flache Land

Zu den Pionieren mit Potenzial für eine Abdeckung ländlicher Gebiete zählt der türkische Schnelllieferdienst Getir. Dieser ist im sogenannten "Taxi-Modell" unterwegs (siehe Kasten) und gibt seinen Fahrern mehr Zeit für die Auslieferung als seine Mitbewerber.

Seit dem Markteintritt in Deutschland im Juli 2021 hat Getir sieben Städte erobert und will sein System nun mittels Franchisenehmern in die Fläche bringen. Eine Registrierung beim Deutschen Franchiseverband liegt bereits vor. Damit könnte Getir den Sprung aus den Innenstädten in Randgebiete und ländliche Regionen schaffen, wenn es gelingt, Unternehmer für die Geschäftsidee zu motivieren.

Das Profil der Getir-Läden soll dem des Kiosks in der Nachbarschaft ähneln, der von Leuten geführt wird, die dort verwurzelt sind. In Großbritannien werden bereits 50% der Getir-Läden von Franchisenehmern betrieben. Genug Kapital für die Expansion ist vorhanden. Bei der letzten Finanzierungsrunde im März 2022 warb Getir mehr als 800 Millionen Euro ein und wird mit elf Milliarden Euro bewertet.
Der türkische Schnelllieferdienst Getir bietet seinen Service hierzulande in Berlin, Hamburg, Dortmund, Düsseldorf, Köln, München und Nürnberg an. Um das System in die Fläche zu bringen, setzt General Manager Karthik Harith auf Franchisenehmer.
© Getir
Der türkische Schnelllieferdienst Getir bietet seinen Service hierzulande in Berlin, Hamburg, Dortmund, Düsseldorf, Köln, München und Nürnberg an. Um das System in die Fläche zu bringen, setzt General Manager Karthik Harith auf Franchisenehmer.

Knuspr: das Umland einbinden

Ebenfalls vor einem Jahr ist der Online-Supermarkt Knuspr in Deutschland gestartet. Aktuell liefert er im Großraum München und im Rhein-Main-Gebiet. Im Einsatz ist eine eigene Pkw-Lieferflotte. Fahrtzeiten bis 40 Minuten zum Kunden werden akzeptiert.

So beliefert Knuspr auch die kleinen Orte zwischen den Großstädten rund um Frankfurt, Mainz und Darmstadt. "Prinzipiell liegt der Fokus in den nächsten Jahren jedoch klar erst einmal darauf, Knuspr in den Städten zu etablieren - wobei wir immer nach Möglichkeiten suchen, das Umland, so gut es geht, einzubinden", erklärt Jan Gerlach, Commercial Director bei Knuspr.

Picnic in den Startlöchern

Die größten Ambitionen, den Lebensmittelmarkt als neuer Player bundesweit zu revolutionieren, hat der Online-Supermarkt Picnic. Im Heimatland, den Niederlanden, steht der Online-Marktplatz inklusive Lieferung bereits 60% der Bevölkerung zur Verfügung. "In Deutschland wollen wir in den nächsten Jahren eine Marktabdeckung von 50% erreichen", erklärt Frederic Knaudt, Mitgründer von Picnic Deutschland. Aktuell sind die Holländer in Nordrhein-Westfalen in 65 Städten vertreten und liefern auch in Mittelstädte.

Hinter Picnic in Deutschland steht die Edeka-Gruppe, die mittlerweile an Picnic International beteiligt und im Aufsichtsrat vertreten ist. Durch Edeka kann Picnic auf beste Einkaufskonditionen zurückgreifen und zu günstigen Preisen gratis liefern. Das Fulfillment erfolgt über eigene Logistikzentren mit effizienter, automatisierter Lagertechnik.
Der tschechische Mutterkonzern von Knuspr, die Rohlik Group, lieferte die erste Bestellung vor sieben Jahren in Prag aus und ist mittlerweile neben Deutschland auch in Ungarn, Österreich, Italien und Rumänien vertreten. Mitte Februar 2022 startete Knuspr in der Metropolregion Rhein-Main.
© Knuspr
Der tschechische Mutterkonzern von Knuspr, die Rohlik Group, lieferte die erste Bestellung vor sieben Jahren in Prag aus und ist mittlerweile neben Deutschland auch in Ungarn, Österreich, Italien und Rumänien vertreten. Mitte Februar 2022 startete Knuspr in der Metropolregion Rhein-Main.
Ausschlaggebend für ein Liefergebiet sind die Anzahl der Haushalte und die Bevölkerungsstruktur. Im Fahrradius von 15 Kilometern der eigens für Picnic entwickelten E-Transporter sollten 40.000 Haushalte liegen. "In Einzelfällen können es weniger sein, wenn die Zielgruppe stimmt. Im Fokus stehen Familien. Mit diesen Haushalten sind wir in der Regel etwa ein Jahr nach Markteinführung profitabel", erläutert Knaudt. Als Nächstes will Picnic die Regionen Berlin, Hamburg und Schleswig-Holstein erobern.

(Noch) keine Lösung für die ländliche Nahversorgung

Für das Jahr 2030 prognostiziert die GfK für den Onlinehandel mit Lebensmitteln einen Marktanteil von 10 bis 15%. Dafür wäre jedes Jahr ein kräftiges Wachstum um gut ein Viertel erforderlich. Ob der Anstieg allerdings tatsächlich so gradlinig verlaufen wird und auch außerhalb der Städte erfolgt, ist keineswegs sicher.

Eine Lösung für das vielerorts drängende Problem, die Nahversorgung der Landbevölkerung nachhaltig zu sichern, sind die Lieferdienste und Online-Supermärkte daher aus heutiger Sicht noch nicht.

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