David gegen Goliath – das uralte Motiv eines vermeintlich Chancenlosen gegen einen übermächtigen Gegner. Im Handel ist es heute aktueller denn je: Online-Riesen setzen Standards bei Liefergeschwindigkeit und Service, bei denen kleinere Händler kaum mithalten können. Als Lösung für dieses Dilemma hat die Strategieberatung EY-Parthenon das Konzept des "Metropolitan Commerce" entwickelt. Die Idee dahinter: Einzelhändler schließen sich zusammen, um für Abwicklung und Lieferung gemeinsame Strukturen zu schaffen und so ihre Marktposition zu stärken. Wie das in der Praxis funktionieren könnte, erläutern Ludwig Voll und Jörg Schäfer von EY-Parthenon in diesem Gastbeitrag.
Ein solches Ökosystem verbirgt sich hinter dem Begriff "Metropolitan Commerce". Hier schließen sich gleichgesinnte stationäre und Online-Einzelhändler - gegebenenfalls auch Herstellermarken - zusammen, um für Abwicklungs- und Lieferdienstleistungen gemeinsame Strukturen zu schaffen, zum Beispiel in Form eines gemeinsamen Lagers mit den Produkten der verschiedenen Teilhaber.

Vorbehalte überwinden
Neben der Belieferung auf der letzten Meile können bzw. sollten weitere Bereiche gemeinsam gedacht werden - wie das Fullfilment-Set-up, das Bestandsmanagement und nicht zuletzt die Bedarfsplanung. Jedes Unternehmen ist in den genannten Bereichen aktiv und damit auch mehr oder weniger erfahren. Nun aber geht es darum, die Grenzen des eigenen Business' zu überschreiten und sich zusammenzuschließen.Das kann zwar auch jenseits unmittelbarer Wettbewerbskonstellationen bei einigen Betroffenen für anfängliches Unbehagen sorgen. Aber nur gemeinsam können sie ihre Position nachhaltig stärken.
Schritt 1: Die letzte Meile
Es geht um die kritische Masse und darum, gerade in Metropolregionen vorhandene Volumina zu bündeln und Ökosysteme zu schaffen, die alle relevanten Bereiche abdecken – von der Planung bis zur Übergabe an den Kunden. Ihr Aufbau beginnt mit Schritt eins: der Bewältigung der letzten Meile.Hier gilt es, zunächst die geeigneten Partner für eine Lieferkette zu identifizieren, die im Idealfall mehrmals täglich lieferfähig ist und sogar Wunschtermine ermöglicht. Das Absatzvolumen einzelner Händler reicht hier für eine wirtschaftliche Umsetzung bei Weitem nicht aus. Beim systematischen Aufbau einer kollektiven Initiative müssen sowohl Bestellvolumen als auch das allgemeine Ambitionsniveau der Partner beim Servicelevel beachtet werden.

Schließlich spielt das Bestellverhalten der Kunden hinsichtlich typischer Bestellverläufe und Bestellzeitfenster ebenso eine Rolle wie die bereits vorhandenen Lieferketten-Set-ups potenzieller Partner inklusive Hubs und entsprechender IT-Systeme. Gerade in letztgenanntem Punkt können künstliche Intelligenz oder lernende Algorithmen von entscheidendem Vorteil sein.
Schritt 2: Gemeinsames Fulfillment
Beim Fulfillment stehen gemeinsam genutzte dezentrale Lager- und Logistikstrukturen sowie die Frage, wo die letzte Meile eigentlich startet, im Fokus. Dem "Milchmann-Prinzip" mit Rundtour und dem Shuttle-Modell mit individuellen Verteilzentren ist letztendlich ein gemeinsames Fulfillment mit einer dezidierten Infrastruktur vorzuziehen.Das aber setzt das Vertrauen der Beteiligten voraus. Und eine Klarheit in puncto Zielstellung, Auswahlkriterien für Partner, technische Integration, operative Exzellenz, Vorteilsallokation und Fristigkeit der Zusammenarbeit. Kurzfristige Allianzen können hier helfen, erste Erfahrungswerte zu sammeln.
Schritte 3 und 4: Bestandsführung und Bedarfsplanung
Es folgen Bestandsführung und Bedarfsplanung – sprich: die Integration von Beständen und Instrumenten zur Nachfrageplanung. Ein nicht nur gemeinsam gelagerter, sondern auch zugriffsoffener Bestand bietet enorme Effizienzhebel.Die Zusammenlegung dezentraler Einzelbestände der Kooperationspartner führt automatisch zu höheren Gesamtbeständen. Dadurch könnten die Risiko- und Sicherheitsbestände in den einzelnen Lagern und Hubs gemeinsam reduziert werden, wodurch jeder Partner Einkaufsvolumina einspart und die Kapitalbindung reduziert.
Doch damit solch ein Modell nachhaltig funktionieren kann, muss genau überlegt werden, welche Effekte mit welchen Partnern in einem gemeinsamen Ökosystem auf welche Weise realisiert werden. Dabei braucht neben gegenseitigem Vertrauen vor allem einen klaren Fahrplan.
Doch greift eine reine Nachschublogik im kollaborativen Fulfillment aus einem gemeinsamen Bestand zu kurz. Es braucht letztendlich auch eine gemeinsame Planung und Bestandssteuerung – eine echte Herausforderung angesichts beschleunigter Aktions- und Reaktionszyklen.
Hier wiederum bedarf es in der Planung verankerter Allokationsprinzipien, damit Bestandsreservierungen, Quotas und andere Methoden die Synergien des gemeinsamen Bestands nicht wieder neutralisieren können. Nicht zuletzt werden solche Partnerschaften nicht ohne Pönale auskommen, die für Sanktionsmöglichkeiten oder als Ausgleich im Falle eines unfairen Verhaltens sorgen.
Fazit
Herausforderungen gibt es genügend. Sicher ist aber auch: Ein solches Modell birgt große Potenziale. Und es darf weitergedacht werden: Sollten nicht auch Markenhersteller ins Metropolitan-Commerce-Ökosystem einbezogen werden? Ist die Übertragung klassischer Depotmodelle sinnvoll?Das allerdings würde eine substanzielle Veränderung der Geschäftsmodelle bedeuten – eine umfassende Transformation. Davor aber steht die Umsetzung der entscheidenden Schritte, damit David Goliath die Stirn bieten kann.