Dem Handel fehlt es gegenwärtig massiv an Nachwuchs, doch duale Studien und Auslandsaufenthalte werden nachgefragt. Beides anzubieten erfordert Engagement, macht die klassische Ausbildung aber attraktiver. Bei der Bewerbersuche setzen Handelsunternehmen auf klassische Methoden, Geld und Social Media.

"Am Ausbildungsangebot mangelt es nicht" - dieser Kommentar des Handelsverbands Deutschland (HDE) ist eine vornehme, aber gewaltige Untertreibung. Gemeint sind die Juli-Zahlen der Bundesagentur für Arbeit: 35.100 Ausbildungsplätze für Einzelhandelskaufleute gab es im Juli - davon waren 18.400 noch frei (52%), und 30.200 Plätze für Verkäufer - davon 18.000 noch frei (59%). Deutlich mehr als die Hälfte der Lehrstellen im Handel waren kurz vor Ausbildungsbeginn noch Leerstellen.

Offensichtlich hilft es wenig, dass der HDE und andere immer wieder darauf hinweisen, mit einer Lehre sei genauso Karriere möglich wie mit einem Studium. "Mehr als 80% der Führungskräfte im Einzelhandel haben mit einer Ausbildung begonnen", sagt zum Beispiel Katharina Weinert, Abteilungsleiterin für Bildungspolitik und Berufsbildung im HDE. Wer herumfragt, was helfen könnte, bekommt Dinge zu hören, die nahelegen: Ausbildung braucht einen Schuss Studium. Mit Auslandsaufenthalten - und mit dualem Studium.
Mischung aus Berufspraxis und Studium: Viele junge Menschen entscheiden sich gegen eine reine Berufsausbildung und für ein duales Studium.
© IMAGO / Westend61
Mischung aus Berufspraxis und Studium: Viele junge Menschen entscheiden sich gegen eine reine Berufsausbildung und für ein duales Studium.

Duales Studium als Heilsweg?

Deutschland steckt mitten in der Akademisierung: "Der Anteil der Männer und insbesondere der Frauen mit einem akademischen Abschluss hat über die letzten Jahrzehnte stark zugenommen", bilanzierte das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung im Juli 2022. Einer der Effekte: Auch duale Studien boomen.

"Nachfrage und Interesse sind enorm, das Wachstumspotenzial ist riesig", sagt Sigrun Nickel, Leiterin Hochschulforschung am Centrum für Hochschulentwicklung (CHE). Von 2004 bis 2021 habe sich die Zahl der dualen Studiengänge nahezu vervierfacht, so die von der promovierten Expertin mitverfasste Studie "Duales Studium" des Bundesbildungsministeriums (BMBF). Ihr zufolge gibt es derzeit 1.991 duale Studiengänge, das sind 9,6% des gesamten Studienagebots.

Auch der Handel mischt kräftig mit: Die Duale Hochschule Baden-Württemberg zum Beispiel, nach eigenen Worten Erfinderin des ganzen Konzepts, zählt am Standort Mosbach gegenwärtig 409 Studierende aus 185 Handelsunternehmen, darunter praktisch alle großen Namen der Lebensmittelbranche, zum Beispiel Norma, aber auch viele Mittelständler. 

Zusammenspiel von Arbeitgeber und Hochschule

Mit anderen Worten: Wer Azubis möchte, hat gute Chancen, sie mit einem dualen Studium zu locken. Das bedeutet zunächst Arbeit. Denn anders als ausbildungsbegleitende Studien legen duale Studiengänge Wert darauf, sich mit den Ausbildungsbetrieben zu verzahnen und die Inhalte eng miteinander abzustimmen.
"Es muss ein wirkliches Zusammenspiel geben", erklärt Hochschulexpertin Nickel. Und: "Die Arbeitgeber müssen die Rahmenbedingungen schaffen, damit es möglich ist, Studium und Ausbildung ohne Überlastung zu absolvieren. Die Ausbilder müssen zudem wissen, was genau ein duales Studium ist und wo der Unterschied zu 'Nur-Azubis' liegt."

Was nach Vorschriften und Zwang klingt, bedeutet allerdings auch viel Freiheit. "Die Hoheit über die Studierenden bleibt bei den Unternehmen", sagt Christoph Schinke, Prodekan Wirtschaft der Dualen Hochschule Baden-Württemberg. Sie "bestellen" die Plätze bei den Hochschulen, suchen ihre Studierenden selbst, stellen sie ein und melden sie an der Hochschule an.

Duales Studium verhindert "Praxisschock"

Sie bezahlen sie auch: Die Ausbildungsvergütung kommt auch während der Theoriephasen vom Unternehmen, im Gegenzug herrscht in den Seminarräumen Anwesenheitspflicht. Und statt des klassischen Wechsels aus 13 Wochen Studium und 13 Wochen Praxis ist eine vorgelagerte Berufsausbildung möglich, an die sich das Studium anschließt.

Unter Arbeitgebern hat das Duale Studium einen guten Ruf: Die Betriebe fühlen sich attraktiver für Abiturienten, die Absolventen kennen Arbeit und Betrieb schon und sind "ohne Praxisschock" (Christoph Schinke) sofort einsatzfähig, ihre Bildung an den Betrieb gilt als hoch.
Ausbildung und Studium vereinen: Auf dem Campus der Dualen Hochschule Baden-Württemberg wird ganzheitlich gelernt.
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Ausbildung und Studium vereinen: Auf dem Campus der Dualen Hochschule Baden-Württemberg wird ganzheitlich gelernt.
Außerdem "bieten viele Unternehmen duale Studien wegen des Transfers von Hochschulwissen ins Unternehmen an, zum Beispiel zu künstlicher Intelligenz", so Wolfgang Ahrens-Fischer, Leiter des Instituts für Duale Studiengänge an der Hochschule Osnabrück und Vorsitzender des Verbands Duales Hochschulstudium Deutschland. Schließlich würden die Studien- und Bachelorarbeiten in der Regel an konkreten Problemen der Unternehmen ausgerichtet.

Auch Norma ist voll des Lobes für das Konzept. "Die Arbeit mit dual Studierenden hat sich in der Vergangenheit immer bewährt", heißt es vom Unternehmen. Gegenwärtig seien unter den 1.700 Azubis mehr als 80 Studierende, im Schnitt möchte Norma laufend zehn Studierende pro Niederlassung in Deutschland beschäftigen. Denn: "Es gelingt uns seit Jahren, sämtliche Führungspositionen stets aus den eigenen Reihen zu besetzen."

Auslandsaufenthalte als Sahnehäubchen

Kein Studium ohne Auslandssemester - dass auch Auszubildende einfach ins Ausland können, hat sich noch nicht so stark herumgesprochen. Das möchte die Nabibb ändern, die Nationale Agentur beim Bundesinstitut für Berufsbildung. Sie verantwortet die Umsetzung zweier Förderprogramme: "Erasmus+" und "Ausbildung weltweit". Damit ist die Nabibb nicht der einzige Vermittler von Auslandsaufenthalten, verwaltet aber nach eigenen Worten "die größten Förderprogramme zur Finanzierung von Auslandsaufenthalten in der Berufsbildung".

Das EU-Programm "Erasmus+" fördert vor allem Auslandsaufenthalte in Europa, auch die Nicht-EU-Länder Island, Liechtenstein, Norwegen, Nordmazedonien, Serbien und die Türkei kommen infrage - am beliebtesten aber waren 2019 Großbritannien, Spanien und Irland. Die Aufenthalte können bis zu einem Jahr dauern, der Schnitt sind laut Nathalie Schnabel von der Nabibb 18 Tage.

"Ausbildung weltweit" wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert und vermittelt - der Name sagt es - weltweite Aufenthalte, inzwischen einschließlich Großbritannien. Der Schnitt liege bei 41 Tagen, besonders beliebt waren 2019 die USA, China und die Schweiz. Beiden Programmen ist gemeinsam, dass nicht alle Kosten gedeckt werden - das sehen die Vorgaben nicht vor - aber ein Großteil. "Wer gut haushaltet, kommt mit der Förderung gut durch", sagt Nathalie Schnabel, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit in der Nabibb.

"Mehr als 80 Prozent der Führungskräfte im Einzelhandel haben mit einer Ausbildung begonnen."

Katharina Weinert, Abteilungsleiterin Bildungspolitik und Berufsbildung im HDE

Betriebe müssen Förderanträge stellen und Auslandsstelle suchen

Für die Ausbildungsbetriebe bedeutet das also keine Mehrkosten. Sie müssen allerdings die Ausbildungsvergütung weiterzahlen und die Auszubildenden freistellen. Zudem sind sie es, die die Förderanträge stellen müssen, oder aber Kammern, berufliche Schulen und andere Einrichtungen der Berufsbildung.

Auch die Suche nach einem Ausbildungsplatz im Wunschland ist Sache der Betriebe. "Wir haben leider nicht die Ressourcen, bei der Vermittlung von Partnerbetrieben zu unterstützen", sagt Schnabel. "Die dafür notwendige Qualitätskontrolle können wir nicht leisten. Da ist Eigeninitiative gefragt." Zum Beispiel seien Partner- und Tochterunternehmen des eigenen Hauses jenseits der Grenzen eine Idee.

Gute Förderchancen

Für kleinere Unternehmen lohne sich zu fragen, ob Kammern oder Berufsschulen Kontakte pflegen, zum Beispiel aus Städtepartnerschaften. Die Ausbildungsvergütung läuft während eines Auslandstrips weiter, auch der Urlaub bleibt unangetastet - beides schreibt das Gesetz vor. Im Gegenzug erhöhen die Betriebe ihre Attraktivität: Eine Studie der Nabibb zeige, "dass Betriebe das Angebot von Auslandsaufenthalten als Wettbewerbsvorteil auf dem Ausbildungsmarkt einschätzen", sagt Friedrich Hubert Esser, Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (Bibb).
 
Beide Programme seien finanziell gut ausgestattet. 2019 wurden fast alle Anträge bewilligt: 99,2% bei "Erasmus+", 94% bei "Ausbildung weltweit". Handelsberufe seien gut vertreten, der Einzelhandel aber hier wie dort unterrepräsentiert, so die Nabibb. Esser: "Wer als Ausbildungsbetrieb, Kammer oder Berufsschule eine Förderung erhalten will, hat bei einem solide ausgearbeiteten Förderantrag sehr gute Chancen."

Aushänge wirken nach wie vor

Der gute alte Aushang hat nicht ausgedient – „wo haben die Leute am meisten Zeit?“, fragt Katharina Weinert vom HDE. „Am Pfandautomaten.“ Insgesamt räumen Weinert wie auch Axel Augustin vom BTE (Handelsverband Textil Schuhe Lederwaren) allen Maßnahmen zur Azubi-Gewinnung gute Chancen ein, die direkte Kontakte schaffen: Berufsbildungsmessen, Praktika, Schnuppertage für Schüler, Informationstage für die Lehrer im Umkreis – oder die Entsendung der Azubis in die Abschlussklassen der allgemeinbildenden Schulen.

Auch die eigenen Mitarbeiter können im Bekanntenkreis auf die Ausbildungsmöglichkeiten hinweisen. Außerdem sollte die digitale Suche genutzt werden. „Social-Media-Plattformen gewinnen an Bedeutung im Rekrutierungsprozess“, schreibt auch Anne Liesenfeld, Projektreferentin von Mittelstand 4.0/Kompetenzzentrum Handel, in einem Blogpost.

Soziale Medien und digitale Anzeigen

Die Selbstdarstellung müsse auf deren Erwartungen ausgerichtet sein. „Für Unternehmen, die auf der Suche nach jüngerem Personal sind, ist es daher besonders wichtig, die eigenen Unternehmenswerte zu kennen, dementsprechend zu handeln und diese auch nach außen zu kommunizieren“, so Liesenfeld. „Vor allem die Werte Vielfalt, Gleichberechtigung und Nachhaltigkeit stellt die Generation Z in den Vordergrund.“ Auch Postings der eigenen Mitarbeiter („Corporate Influencer“) fänden Gehör.
Der direkte Kontakt zu potenziellen Bewerbern auf Ausbildungsmessen (hier "Jobs for Future" in Mannheim) bleibt ein wichtiger Weg der Nachwuchssuche.
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Der direkte Kontakt zu potenziellen Bewerbern auf Ausbildungsmessen (hier "Jobs for Future" in Mannheim) bleibt ein wichtiger Weg der Nachwuchssuche.
Sogar modernste Werbemethoden wie das Programmatic Advertising können ins Spiel kommen. Laut Marcus Zanatta, Geschäftsführer der Berliner Mediaagentur Zanatta Media Group, können digitale Anzeigen punktgenau auf mobilen Endgeräten ausgespielt werden, zum Beispiel über Websites, Apps oder "In Game" – und zwar nur im Umkreis von 50 Metern um die gewünschten Schulen herum und nur kurz vor Schulbeginn oder während der Pausen.

„Als durchschnittliche Klickrate, das zeigen ähnliche Projekte, ist 0,1 Prozent zu erwarten“, sagt Zanatta. „Umso wichtiger ist es, mit wenigen Schlagworten und toller Grafik zu überzeugen. Und auf eine wirklich gute Karriereseite zu führen.“ Das ist nicht billig: „Budgets ab 5.000 Euro sind sinnvoll.“

Norma setzt auf mehr Geld

Discounter Norma dagegen setzt – neben dualem Studium und internen Förderprogrammen – auf ein einfaches Mittel, um die eigene Attraktivität zu steigern: Geld. „Die Ausbildungsvergütung liegt seit Jahren deutlich über dem Mindestlohn für Azubis“, wirbt das Unternehmen per Pressemitteilung. Im ersten Lehrjahr werden 1.100 Euro überwiesen, im zweiten 1.200, im dritten 1.400 Euro im Monat.

Was das kostet, sagt das Unternehmen nicht, aber die Zahl von 1.700 Azubis und die Mindestlohn-Tabelle des DIHK (585,00 / 690,30 / 789,75 Euro) lassen die Überschlagsrechnung zu, Norma investiere monatlich bis zu 900.000 Euro in die Azubis. Im Vergleich mit Tarifverträgen fällt diese Schätzung geringer aus. Was das bringt, lässt Norma durchaus durchblicken: 2021 haben 875 junge Leute ihre Ausbildung bei Norma begonnen. „Damit haben wir die höchste Zahl von Neuzugängen im ersten Ausbildungsjahr in der Geschichte von Norma verzeichnet.“

Dieser Artikel erschien zuerst in Der Handel.

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