Das US-Start-up Thrasio ist der größte Aufkäufer von Amazon-FBA-Unternehmen weltweit. Was 2018 als Idee begann, erfolgreiche kleine Amazon-Marken unter einem Dach durch Synergieeffekte zu skalieren, hat sich zu einem globalen Player mit einem Jahresumsatz von einer halben Milliarde USD entwickelt. Georg Hesse, Vice President für Großbritannien und Deutschland, spricht im Interview darüber, warum ein Ende des Wachstums nicht abzusehen ist und was europäische von amerikanischen Gründern unterscheidet.
Amazon ist nicht nur ein riesiges Ökosystem, sondern auch eine Plattform zur Erschaffung von Wohlstand. Mich hat immer fasziniert, dass dort Ideen gleichberechtigt gegeneinander antreten.
Thrasio hat angekündigt, in Europa 500 Millionen Euro zu investieren. Welchen Stellenwert hat der europäische Markt für das Unternehmen?
Europa ist für das globale Wachstum von Thrasio von entscheidender Bedeutung. Im Fokus stehen dabei die Märkte in Großbritannien und Deutschland, die zusammen über 20% der Amazon-Verkäufe weltweit ausmachen.

Marktplätze haben die Barrieren für eine eigene Onlinepräsenz und für eine effektive Lieferinfrastruktur eingerissen. Händler können dort schnell Reichweite erlangen, und viele Tausend schrauben sich in eine Sphäre über 1 Million US-Dollar Umsatz. Das macht man dann nicht mehr als Ein-Mann-Betrieb oder im kleinen Team, auch wenn Händler bereits Amazons Fulfillment-System nutzen. Kapital wird da für viele ein Thema – man muss ja auch vorfinanzieren. Auch in Sachen Wettbewerb wird die Luft irgendwann dünner. Dann müssen Unternehmer, um weiter zu wachsen, gleichzeitig Experte bei Einkauf, Produkt, Marketing und Finanzen sein. Das ist schwierig. Thrasio bietet hier die Möglichkeit des Exits und kann Marken mit Ressourcen und Expertise weiterentwickeln, die kleine Einzelkämpfer nicht haben.
Auf der Thrasio-Website gibt es ein Onlineformular für verkaufswillige Händler. Schreckt es Gründer nicht ab, ihr Geschäft, in dem ja in der Regel viel Herzblut steckt, auf so nüchterne Weise zum Verkauf anzubieten?
Das Online-Formular dient nur dazu, einen ersten Kontakt herzustellen. Viele Händler können sich zwar eine Veräußerung ihres Geschäfts vorstellen, wissen aber nicht, wie sie sich „exitfähig“ machen. Dabei reichen zunächst wenige Daten: Produkt, Jahresumsatz, Verkäuferkonto und eventuell, was der Händler außerhalb von Amazon noch macht. Nach der ersten Kontaktaufnahme ist aber das persönliche Gespräch von Mensch zu Mensch ganz wichtig, denn für die Händler handelt es sich in der Tat um eine lebensverändernde Entscheidung, die sie emotional sehr bewegt. Im Gespräch kann dann sehr schnell abgeklopft werden, ob es für beide Seiten passt, wie die Chancen stehen, noch mehr aus dem Geschäft zu machen – und ob es überhaupt in unser „Beuteschema“ passt. Wie sieht denn Ihr Beuteschema aus?
Wir suchen nach Produkten, die sich auf dem Markt bewiesen haben. Bezogen auf die Größenordnung interessieren uns Unternehmen ab einem Jahresumsatz von 1 bis 2 Millionen USD. Im Fokus stehen Hartwaren. Nicht alle Produkte passen zu uns, aber wir haben eher eine „Black List“ als eine „White List“. Auf der Negativliste stehen kurz- oder schnelllebige Produkte wie Fast Fashion, bestimmte Elektronikartikel ebenso wie Nahrungsmittel. Zu den jüngsten größeren Akquisitionen zählen Pat Your Pet, ein Anbieter von Haustierpflegeartikeln, und der deutsche Küchengeräteanbieter Liebfeld. Weniger aktiv sind wir im Bereich Kosmetik und Textilien, da schreckt uns der Modeaspekt derzeit noch ab.
Noch?
Wir sind ja immer noch ein Start-up und machen viele Experimente in vielen Bereichen, deshalb ist für die Zukunft nichts ausgeschlossen.
Alle zwei bis drei Tage kauft Thrasio eine Firma. Wie muss man sich das vorstellen?
Eine Firmentransaktion kann in vier bis sechs Wochen abgewickelt sein, so etwas dauert sonst mehrere Monate. Nachdem die Entscheidung auf beiden Seiten feststeht, wird ein Letter of Intent unterzeichnet und man einigt sich auf die Konditionen. Anschließend tauchen unsere Teams tief in die Unternehmensdaten ein und gehen alles durch, was eine „rote Flagge“ sein könnte: von Bewertungen bis zur Analyse der wirtschaftlichen, rechtlichen, steuerlichen und finanziellen Verhältnisse.

Nach der Due-Diligence-Prüfung folgt eine längere Übergangsphase. Da ist der Verkäufer oft noch ein, zwei Monate aktiv dabei. Manchmal übernimmt Thrasio auch Mitarbeiter oder ganze Teams, beispielsweise wenn es sich um eine Marktnische handelt. Es gibt einige wenige Fälle, wo auch der Gründer von Thrasio angestellt worden ist, in der Regel ist es aber eine reine Transaktion, in der wir lediglich die Marke übernehmen. Oft wird übrigens vereinbart, dass der Verkäufer während einer Phase von ein bis zwei Jahren nach Übergang noch eine Gewinnbeteiligung erhält, wenn die Marke weiter wächst.
Wie skaliert Thrasio die Geschäfte?
Da gibt es über die gesamte Wertschöpfungskette viele Hebel, angefangen von Einkauf und Lieferkette über Vermarktung und Positionierung, z.B. durch Verpackung, Branding etc.. Auch operatives Marketing und Suchmaschinenoptimierung, z.B. über Amazon-Ads, sind in den meisten Fällen verbesserbar, ebenso wie der Kundendienst. Es gibt Beispiele kleiner Marken mit viel Potenzial wie Angry Orange, ein Produkt zur Beseitigung von Tiergerüchen, wo Thrasio in den USA das Geschäft in zwei Jahren verachtfacht hat. Ein wichtiger Skalierungsweg ist, für lokale Marken internationale Märkte zu erschließen, aber auch das Wachstum über Amazon hinaus über andere Marktplätze oder der Aufbau eines Direktgeschäfts.

Vor jeder Internationalisierung steht zum Beispiel eine Markt- und Wettbewerbsanalyse. Aber selbst wenn es in einem Ländermarkt genügend Nachfrage gibt, kann es die Ressourcen kleiner Händler schnell überfordern, sich parallel mit Logistik und Versand, den Regularien und Steuergesetzen bis hin zu Übersetzungsarbeiten zu befassen. Das schreckt viele ab. Thrasio hat mit mittlerweile 1.300 Mitarbeitern ganz andere Ressourcen. Und manchmal entwickelt sich eine unserer Marken in einem anderen Markt sogar zum Marktführer, wie zum Beispiel die US-Autostaubsauger-Marke Thisworx in Großbritannien.
Wie unterscheiden sich europäische von amerikanischen Amazon-Händlern?
Die europäischen Händler sind im Durchschnitt etwas kleiner, weil sie meist nicht ganz Europa bedienen. Der Markt ist granularer, nichtsdestotrotz gibt es hier viele tolle Marken. Das Konzept, sein Geschäft zu verkaufen und es nicht bis zur Rente weiterzuführen, kommt allerdings in Europa erst langsam in den Köpfen an. In den USA ist das kein so abwegiger Gedanke, viele Verkäufer starten dort direkt ein neues Projekt.
Sie versprechen Verkäufern einen „wohlverdienten, lukrativen“ Exit. Woran bemessen Sie den Kaufpreis?
Die Übernahmekonditionen sind so variabel wie die Unternehmen, wir haben auch schon Firmen mit 100 Millionen USD Jahresumsatz übernommen. Beim Kaufpreis orientieren wir uns aber weniger am Umsatz, sondern am Ebitda (Ergebnis vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen). Im Markt war früher das Zwei- bis Dreifache des Ebitda als Kaufpreis üblich, aber jetzt kann er viel höher liegen, wenn bestimmte Faktoren für größere Unternehmen gegeben sind.
Ein Grundwachstum ist da, denn das Geschäft wächst mit Amazon mit. Dass das aufhört, ist so bald nicht zu erwarten. Es gibt viele unterschiedliche Wachstumshebel, dazu kommt die Erfahrung aus der Bewertung von 7.000 Amazon-Unternehmen. Selbst angenommen, wir würden gar nichts besser machen, bleibt immer noch das Wachstum durch Internationalisierung. Sicher gibt es Bereiche, wo es leichter sein wird zu wachsen als in anderen. Aber bei 150 Marken und 22.000 Produkten wird das Risiko, in einigen Bereichen nicht mehr wachsen zu können, abgefedert.
Das Interview führte Ulrike Sanz Grossón. Es erschien zuerst in gekürzter Form in Der Handel.