Die Corona-Krise und ihr langfristiger Einfluss auf das Kundenverhalten haben die digitalen Kanäle überlebenswichtig für den Handel gemacht. Vielen Einzelhändlern fällt es jedoch schwer, sich schnell an die neuen Bedürfnisse anzupassen, weil ihre digitalen Plattformen unflexibel, komplex und teuer in der Weiterentwicklung sind. Woran das liegt und was Händler dagegen tun können, erklärt Olivier Goethals vom Beratungshaus Publicis Sapient.

Einzelhändler, große wie kleine, haben traditionell signifikante Teile ihrer digitalen Technologielandschaft an externe Beratungsunternehmen ausgelagert. Diese Entscheidung schien in der Vergangenheit die richtige, da damals der Onlinehandel als isolierter Kanal betrachtet wurde und der Anteil des Onlineumsatzes relativ gering war.

Als problematische Folge verfügen die Händler heute unternehmensintern nur über begrenztes technologisches Know-how. Die starke Abhängigkeit von externen Anbietern kann zu hohen Kosten und eingeschränkter Flexibilität führen.
Digital erfolgreicher durch eigene Engineering-Teams: Händler müssen stärker in ihr unternehmensinternes Technologie-Know-how investieren.
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Digital erfolgreicher durch eigene Engineering-Teams: Händler müssen stärker in ihr unternehmensinternes Technologie-Know-how investieren.

Abhängigkeit von externen Anbietern

In der Praxis sieht das folgendermaßen aus: Die hohe Nachfrage nach Technologiespezialisten bedingt eine Knappheit der externen Berater. Das boomende Geschäft und die begrenzten Ressourcen führen zu höheren Tagesraten der Consultants.

Dazu kommt, dass die Händler die geschätzten Aufwände für IT-Projekte mangels Inhouse-Expertise nicht im Detail nachvollziehen und entsprechend herausfordern können. Das treibt die Kosten weiter in die Höhe. Ein Teufelskreis, den es zu durchbrechen gilt.

Monolithische Mammuts

Durch das fehlende Know-how haben Handelsunternehmen ihre Technologie-Roadmaps über viele Jahre unzureichend selber lenken können. So avancierten ihre digitalen Plattformen zu monolithischen Mammuts mit diversen Abhängigkeiten zwischen einzelnen Modulen.

Selbst einfache Anpassungen, beispielsweise die corona-bedingten Mehrwertsteuersenkungen, lassen sich in einem solchen "Legacy-System" nur schwer umsetzen. Für die Änderungen müssen viele Komponenten der Plattform "angefasst" werden. Dazu bedarf es ausführlicher Tests der neuen Releases.

Geringer Einfluss auf technologische Lösungen

Schon kleinste Website-Updates werden so zur Herausforderung. Die heute dringend erforderliche holistische Weiterentwicklung der digitalen Plattformen wird dementsprechend komplex und langsam.

Händler müssen daher dringend die Technologiehoheit zurückerlangen, um die nächste Generation ihrer digitalen Plattform inhouse mit eigenen Technologiestrategen gestalten zu können.

Mehrwert durch eigenes Engineering

Um sich langfristig zu rüsten, müssen Einzelhändler die Technologielandschaft vollumfänglich auf den Prüfstand stellen. Zunächst gilt es ihre digitale Plattform auf eine moderne, cloudbasierte Architektur mit Microservices umzustellen.

Dies ermöglicht es ihnen, die Customer Experience auf allen Kanälen von der Geschäftsfunktionalität zu trennen und konsistente Angebote und Services über alle Kanäle hinweg sicherzustellen. Sowohl große als auch kleinere Handelsunternehmen können dabei stark durch den Aufbau interner Engineering-Teams profitieren.
Zauberwort Agilität: Schnelle, flexible Innovationsmethoden machen Organisationen wendiger und produktiver.
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Zauberwort Agilität: Schnelle, flexible Innovationsmethoden machen Organisationen wendiger und produktiver.
Vorrangiges Ziel muss es dabei sein, Architekten und Technologiestrategen an Bord zu holen, die basierend auf einem holistischen Unternehmensbild die nächste Generation der digitalen Plattform definieren. Abhängig vom Wachstum des Onlinegeschäfts kann das Engineering-Team dann schrittweise mit eigenen Entwicklern ausgebaut werden.

Flexible Kooperationsmodelle

Das Modell der Zusammenarbeit mit externen Beratern wird sich in Zukunft wandeln müssen. Partner, die früher vollumfänglich Software-Bereiche wie die E-Commerce-Plattform verantworteten, sollten gezielt als Dienstleister für spezifische Technologie-Kompetenzen eingesetzt werden, die Inhouse-Teams verstärken.

Es gilt, schlagfertige, agile Teams zu organisieren, bestehend aus internen Mitarbeitern und externen Consultants, die sich sinnvoll ergänzen. So lässt sich sicherstellen, dass Handelsunternehmen flexibel bleiben und ihre Teamgrößen nach Bedarf schnell anpassen können.

Beispiel Carrefour

Das Beispiel des französischen Handelsriesen Carrefour zeigt das große Potenzial der Etablierung interner Engineering-Teams. Im Zuge seiner digitalen Transformationsstrategie entschied Carrefour 2017, agile Arbeitsweisen zu forcieren und eigene Engineering-Teams aufzubauen. Durch die neue Aufstellung, bestehend aus internen Spezialisten und externen Beratern, gelang es innerhalb von nur sechs Monaten eine neue cloudbasierte Architektur mit Microservices an den Start zu bringen. Die Ergebnisse können sich sehen lassen:

  • Das E-Commerce-Wachstum von Carrefour ist viermal größer als das der Konkurrenz. Bereits 2019 konnte Carrefour den Umsatz im Click & Collect-Bereich um 25 Prozent steigern, während der gesamte Marktumsatz mit Click & Collect in Frankreich nur um 6 Prozent stieg.
  • Die Kundenzufriedenheit verbesserte sich um das 25-Fache verglichen mit der alten Plattform.
  • Die Plattform konnte die corona-bedingt massiv erhöhte Nachfrage problemlos meistern.
  • Das Entwicklungsteam setzt heute monatlich mehr als 150 Releases um, anstelle eines Releases pro Quartal wie früher.

Fazit

Mit der optimalen Mischung aus eigenen Spezialisten und externen Beratern lässt sich das langfristige Überleben sichern. Um für die digitale Zukunft gewappnet zu sein, müssen Händler die Transformation jetzt in die Wege leiten.

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