"Der Mittelstand ist in Sachen Customer Experience noch ganz am Anfang", sagt Florian Wassel von Towa. Er hat daher fünf Tipps zur Digitalisierung parat. Bei aller Notwendigkeit, schnell zu handeln und sich selbst und seine Ansätze zu hinterfragen: Es braucht auch gerade diejenigen Eigenschaften, die den Mittelstand am meisten auszeichnen – Praxiswissen und eine pragmatische Herangehensweise.
Von Florian Wassel
Das Internet ist voll mit Hinweisen für eine erfolgreiche Digitalisierung. Deswegen sollen die im folgenden Artikel angeführten Tipps nicht als „How-to-Guide“ oder eine besonders erfolgreiche Methode verstanden werden. Vielmehr basieren sie auf meiner persönlichen Erfahrung, die ich in den vergangenen zehn Jahren in zahlreichen Projekten mit dem Mittelstand machen durfte und sollen daher vor allem so verstanden werden: von der Praxis – für die Praxis.
1. Schneller ist besser als die perfekte Strategie
Die stets um Perfektion ringende deutsche Ingenieurskunst hat den Mittelstand erfolgreich gemacht. Im Zeitalter der Digitalisierung ist genau diese Perfektion aufgrund von hoher Komplexität und Dynamik jedoch zunehmend ein Hemmschuh – man blicke nur nach Wolfsburg auf das Projekt „Cariad“.
Häufig scheitern Digitalisierungsinitiativen an falschen Annahmen oder sich ändernden Rahmenbedingungen. Was folgt, sind Pfadabhängigkeiten und die Diskussion um „Sunk Costs“ – Kosten, die in der Vergangenheit angefallen sind und für zukunftsgerichtete Entscheidungen keine Rolle spielen sollten, aber es trotzdem häufig tun.
In Zeiten von wirtschaftlicher Rezession sind langwierige Digitalisierungsinitiativen unter falschen Annahmen der Worst Case. Viel besser wäre es, sich auf Zukunftsbilder zu einigen, Hypothesen zu erarbeiten und sich agil auf den Weg zu machen, d.h. auf dem Weg zu lernen und die aufgestellten Hypothesen laufend zu validieren und gegebenenfalls zu widerlegen. Dabei sollten die handelnden Personen darauf achten, dass die technologische Basis ein solches Vorgehen heute und morgen ermöglicht – weshalb in vielen Unternehmen derzeit eine sogenannte MACH-Architektur (Microservices, API-first, Cloud-native, Headless) beliebt ist.
2. Silos zwischen Marketing und Vertrieb für eine bessere digitale Customer Experience aufbrechen
Der Mittelstand ist in Sachen Customer Experience noch ganz am Anfang. Gerade einmal acht Prozent der Unternehmen schätzen die Qualität der Digital Experience des eigenen Unternehmens besser ein als die der engsten Wettbewerber.
Ein Hauptgrund besteht darin, dass in der Vergangenheit bei traditionellen Geschäftsmodellen Marketing und Vertrieb isoliert voneinander gearbeitet haben. Im digitalen Kontext verschmelzen jedoch Marketing und Vertrieb zu einem Touchpoint – einem digitalen Produkt.
Denn Kunden wollen nur einen Service in Anspruch nehmen und diesen in einer Aneinanderreihung von Touchpoints über mehrere Channels hinweg – egal ob B2B oder B2C. Die erfolgreiche Orchestrierung dieser Touchpoints und Channels gelingt nur ohne Silodenken und als Team.
3. Differenzierung über digitale Technologien
Nicht nur Marketing und Vertrieb werden zu einem Technologie-Spiel: Das Gleiche gilt auch für digitale Produkte. Künftig werden die allermeisten Kundenerfahrungen mit Hilfe digitaler Produkte stattfinden: einer App, einem Shop, einem Kundenportal oder integriert in ein physisches Produkt.
In der Vergangenheit war die IT im Mittelstand zumeist ein Kostenfaktor, weshalb diese möglichst standardisiert und günstig via Offshore eingekauft wurde. Eine standardisierte Technologie ist für die Endkunden jedoch beliebig mit digitalen Produkten eines anderen Anbieters austauschbar. Nur durch Innovation und Differenzierung hat ein technologisches Produkt für Endkunden Relevanz.
Aus technologischer Sicht ist deswegen ein hohes Maß an Individualsoftware zwingend erforderlich. Die meisten CIOs haben die technologische Entwicklung von Produkten jedoch verlernt. Allzu oft verwechseln sie agile Methoden mit Individualentwicklung.
4. In den Aufbau von personellen Kapazitäten investieren
Wer die aktuellen Trends fortschreibt, wird erkennen, dass digitales Marketing, digitaler Vertrieb, digitale Produkte und digitale Prozesse zum Kern der allermeisten Unternehmen werden. Vergleicht man jedoch die Headcounts von Vertriebseinheiten und digitalen Teams, so zeigt sich in den meisten Fällen ein klares Missverhältnis zum Nachteil der digitalen Teams.
Der Grund liegt auf der Hand: Der ROI eines klassischen Vertriebsmitarbeitenden kann viel einfacher prognostiziert werden als jener der digitalen Teams. Denn der ROI eines Features, das ein Team entwickelt, ist in der Regel nur schwer vorhersehbar.
Allerdings liegt dieser Betrachtung ein Denkfehler zugrunde: Im ersten Fall werden Vertriebsaufwände produziert, die in der Kostenrechnung auftauchen. Im zweiten Fall wird ein Asset über ein digitales Produkt aufgebaut, das selbstgeschaffen ist und nicht zugekauft werden muss – es hat also Potenzial für zukünftige Erträge, Stichwort OPEX (laufende Aufwendungen eines Unternehmens für Gehälter, Miete, Rohstoffverbrauch, Abschreibungen etc.) und CAPEX (Investitionsausgaben für längerfristige Anlagegüter, wie bspw. Maschinen, Gebäude etc.).
Genau deshalb ist es nachhaltig erfolgreicher, in den Aufbau digitaler Teams zu investieren. Um zu verdeutlichen, was das heißt, lohnt es sich, einen Blick auf die Headcount-Quoten im Verhältnis zum Umsatz digitaler Champions zu werfen. In der Regel kommt hier etwa 1 Tech-FTE auf 3 Millionen Euro Umsatz. Will ein Mittelständler mit 500 Mio. Euro Jahresumsatz auf einen Digital-Umsatz von 300 Mio. Euro kommen, bedeutet das, 100 Digital-Stellen aufzubauen. Die Implikationen auf den Aufbau von Kapazitäten in der Organisation sind also massiv.
5. Einsetzung von digitalen Operating Models
Das „bloße“ Einstellen von Expert:innen, das sich als durchaus schwieriges Unterfangen erweisen kann, ist zu kurz gegriffen. Denkt man den Prozess der Digitalisierung zu Ende, so gelangt man zum Target Operating Model.
Wie sollen Marketing und Vertrieb künftig zusammenarbeiten? Wie schweißt man ERP-Teams und Produktteams sinnvoll zusammen? Wie wird Produktivität gemessen und wie können Teams produktiv gehalten werden? Wo arbeitet man agil und wo mit anderen Methoden? Wie fließen Roadmaps und Budgets zusammen? All diese Fragen müssen individuell für jedes Unternehmen beantwortet werden. Auf Basis von Best Practices und Erfahrungswerten anderer Branchen sollten Learnings genutzt und eingesetzt werden.
Fazit
Die Digitalisierung im Mittelstand folgt keinem klaren Schema F. Genauso schnell, wie sich die Trends und das Kundenverhalten im digitalen Bereich ändern, wechseln auch die Herangehensweisen und Methoden, die für eine erfolgreiche Digitalisierung vielversprechend klingen.
Deswegen braucht es zum einen Schnelligkeit und die Bereitschaft, sich selbst und seine Ansätze zu hinterfragen. Zum anderen braucht es gerade diejenigen Eigenschaften, die den Mittelstand am meisten auszeichnen: Praxiswissen und eine pragmatische Herangehensweise.
Florian Wassel ist Gründer, Geschäftsführer und Marketer. Er holt sich Inspirationen aus Podcasts, TED Talks, Keynotes und Büchern. Als CEO von TOWA ist er verantwortlich für Strategie, Vertrieb und Personal. Die Digitalexpert:innen haben einen Fokus auf den Mittelstand.
Dieser Artikel erschien zuerst Ende Juni 2022 in „MUT – Mittelstand und Transformation. Das Magazin von HORIZONT“