In diesen Krisenzeiten hat E-Food Konjunktur. Doch wie macht man aus den Neukunden die Bestandskunden von morgen? Handelsexperte Matthias Schu zeigt, wie der "Lock-in Effekt" funktionieren kann.

Im Lebensmittelonlinehandel ist es, wie auch generell im E-Commerce, schon lange kein Geheimnis mehr, dass der Wert eines Bestandskunden für ein Unternehmen zumindest genauso – wenn nicht sogar höher ist – als der Wert von mehreren potentiellen Neukunden. Neukunden müssen vom Unternehmen erst gewonnen und dann aufwändig zu Bestandskunden transformiert werden.

Dies schlägt sich auch deutlich auf der Kostenseite nieder: Neukundenakquise kostet in der Regel ein Vielfaches mehr, als für das erfolgreiche Halten von Bestandskunden investiert werden muss.
Die Praxis zeigt jedoch, dass oftmals gerade der Fokus auf den bestehenden Kunden oftmals vernachlässigt wird; Bestandskunden und das Halten dieser gerät strategisch ins Hintertreffen, was auch aus Nachhaltigkeitsgesichtspunkten nicht gerade als förderlich bezeichnet werden kann.
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Sowohl aus Anbieter- als auch aus Kundensicht heißen die entscheidenden Schlagwörter bei der Kundenbindung: «Wechselkosten». Und damit eng verbunden: «Lock-in Effekt». Ziel ist also eine Integration des Kunden ins eigene Ökosystem zur Senkung der so gennannten «Churn-Rate» (Churn = change and turn).

Je besser diese Integration gelingt, desto höher die Wechselkosten und desto stärker der Lock-in Effekt. Bei einer Kosten-Nutzen-Betrachtung wechselt der Kunde den Anbieter, wenn der wahrgenommene Nutzen beim neuen Anbieter größer ist als beim alten und die gefühlten Opportunitätskosten, die beim Wechseln entstehen, mindestens übersteigt.

Doch wie bindet man erfolgreich Kunden?

Bei der Kundenbindung unterscheidet das Handelsmarketing generell zwei Wirkungsmechanismen:
Emotionale Verbundenheit: Meist liegen hinter einer hohen Kundenzufriedenheit und -bindung psychologische Wirkungsweisen wie Vertrauen oder eine positive Einstellung gegenüber dem Produkt oder der Marke.
Faktische Gebundenheit: Bestehende, explizite Wechselhürden sollen den Kunden nach Möglichkeit an einem Hersteller-, Händler- oder Markenwechsel hindern.

Die Schaffung von Lock-in Effekten fällt also primär in die Kategorie der faktischen Gebundenheit. Waren früher Lock-in Effekte eher als eine Art negative Zwangsbindung definiert, zielen neuere Betrachtungsweisen eher in Richtung Wechselkosten. Emotionale Wechselkosten können aber ebenfalls Teil des Lock-in Effekts werden, wenn diese durch die stattfindende Umorientierung entstehen. Beispiele sind der Verlust von systemischen Lerneffekten durch den Wechsel (z.B. unbekannter, neuer Shop mit anderen Funktionalitäten, andere Produkte etc.) und der resultierende Verlust von Zeitersparnis durch erneutes Einarbeiten, um das neue Ökosystem zu durchdringen. Basierend auf Wechselkosten zielen Händler mit der Nutzung von Lock-in Effekten also auf die Schaffung eines festen Kundenstamms sowie Wiederholungskäufe.

Zusammenfassend lassen sich folgende Wechselkosten in der Praxis des Lebensmittelonlinehandels vorfinden:

  • Klassische Transaktionskosten,
  • Kosten, die auf bereits entstandenen Lerneffekten in der Vergangenheit basieren,
  • Kosten auf Grund entgangenem Nutzen aus Loyalitätsprogrammen.
Das spannende und vor allem aus Anbietersicht schwer abschätzbare am zu schaffenden Lock-in Effekt ist jedoch die Verbraucherwahrnehmung – die wahrgenommenen Wechselkosten können aus Kundensicht höchst unterschiedlich sein und sind kaum vorherseh- und abschätzbar.
Allerdings ist anzunehmen, dass die Themen Convenience / Zeitersparnis / zu investierende Zeit bei Konsumenten im Lebensmittelonlinehandel einen hohen Stellenwert einnehmen und Lock-in Effekte, neben monetären Anreizen, primär auf diese geschilderte Nutzenkategorie abzielen.

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In Zukunft E-Food?

In der E-Food-Praxis finden sich so auch die verschiedensten Strategien, wie Onlinelebensmittelhändler den Lock-in Effekt und das Halten der Kunden adressieren. Diese sind:
Mit «Marketinggeld» und monetären Incentives den Kunden zum wiederholten Bestellen anregen
  • Treueprogramme
  • Abomodelle
  • Gratislieferung statt Liefergebühren
  • Große Sortimentsauswahl
  • Personalisierung und individualisierte Angebote.
In der Praxis sind diese Strategien oft nicht in Reinform anzutreffen. Meist wenden Onlinehändler einen Mix an, um damit wie oben angesprochen, eine größere Gruppe und die individuellen Kundenreaktionen zu adressieren und eine größere Kundengruppe im eigenen Universum zu halten. Obige Strategien werden im Folgenden näher erläutert.

Monetäre Incentives als Einstiegsmodell

Eine verbreitete Form, um Neukunden zum wiederholten Bestellen anzuregen, stellen Incentives dar, die meist in Form von (monetären) Rabatten gewährt werden. So gewährte das Schweizer E-Food Startup Miacar in 2019 zur Kundengewinnung und dem Versuch, diese Neukunden zu Bestandkunden zu transformieren jedem neuen Kunden einen Rabatt von je 50 Schweizer Franken auf die jeweils ersten vier Bestellungen. So sollten die Kunden an die eigene Bestellapp sowie die Abläufe bei Miacar gewöhnt werden, um Lock-in Effekte aufzubauen. In 2020 wurde dieser Rabatt jedoch auf die erste Bestellung limitiert.
Postwurfsendung von Miacar zur Kundengewinnung
© Miacar
Postwurfsendung von Miacar zur Kundengewinnung

Der deutsche Lebensmittelhändler Real wendete in 2019 eine ähnliche, wennauch weniger kostenintensive Strategie an, um die Kunden an die Bestellung von Lebensmitteln im Internet zu gewöhnen. Hierbei erhielten Kunden einmalig einen Rabatt von 50 Euro auf die vierte Bestellung, die sie nacheinander tätigten.

Treuerabatt bei Real
© real
Treuerabatt bei Real
 

Auch bei Rewe finden sich ein ähnlicher Ansatz: Rewe bietet in regelmäßigen Abständen für Neukunden 10 Euro Rabatt ab einem Mindestbestellwert von 75 Euro sowie eine Gratislieferung für die erste Bestellung.

Neukunden-Incentivierung bei Rewe
© rewe
Neukunden-Incentivierung bei Rewe

Treueprogramme

Eine weitere Möglichkeit, Lock-in Effekte zu generieren und den Kunden im eigenen System zu halten, stellt die Nutzung von Treue- oder Bonusprogrammen dar. Hier sammelt der Kunde in Abhängigkeit der Warenkorbgröße Punkte, die er – je nach Ausprägung des Programms – entweder in Sachprämien oder in geldwerte Vorteile eintauschen kann. Auch ein Eintausch von Punkten zur Begleichung der Liefergebühren ist in der Praxis anzutreffen.
Bonusprogramm bei Zoobee
© Zoobee
Bonusprogramm bei Zoobee

Dabei können die Treueprogramme vom Händler selbst gestaltet sein, wie beispielsweise von Zoobee, dem Lebensmittelonlineshop des auf Tierbedarf spezialisierten Onlinehändlers Zooplus, oder der Händler nutzt ein branchenübergreifendes Treueprogramm eines externen Dienstleisters, wie bspw. Payback.
So nutzt Rewe Payback als Bonusprogramm. Zudem sind bei Rewe im Sinne des Omnichannel-Denkens alle Coupon-Aktionen sowohl online wie auch stationär einlösbar, was den Nutzen für den Kunden noch einmal erhöht und ihn stärker an den Händler bindet.

Treuepunkte sammeln bei Rewe
© rewe
Treuepunkte sammeln bei Rewe

Abomodelle

Eine dritte Möglichkeit, den Kunden zum wiederholten Bestellen anzuregen, ist das Anbieten von Abomodellen zur Deckung der beim Kunden so verhaßten Liefergebühr. Während Amazon Prime also Abomodell für die meisten Verbraucher vor allem im Non-Food Bereich das absolute Nonplusultra darstellt und zur Freude des Händlers nachgewiesen zu einer deutlichen Steigerung von Kauffrequenz und Umsatz führt, findet der Liefergebühren-Abomodell-Ansatz auch vermehrt Einzug im Onlinelebensmittelhandel.

Aus Händlersicht bietet dieser drei äußerst charmante Aspekte:

Erstens zahlen die Kunden im Voraus für den Abozeitraum, auch wenn die angebotene Leistung der Gratislieferung nicht durch den Kunden in Anspruch genommen wird.
Zweitens bestellen die Kunden häufiger, da sie sich nicht mehr um das Thema Liefergebühr gedanklich sorgen müssen.
Und drittens lernen die Kunden so Onlineshop und Produkte besser kennen und die Hürde der Wechselkosten zu einem anderen Anbieter vergrössert sich.

Ein Beispiel für Lieferabos findet sich beim Schweizer Anbieter LeShop. Dieser differenziert sein Lieferabo mit verschiedenen Laufzeiten, jedoch verlängert sich das Abo jeweils automatisch, sofern es zum Ende der Laufzeit nicht proaktiv durch den Kunden gekündigt wurde.

Lieferabo bei LeShop
© LeShop
Lieferabo bei LeShop

Einen Schritt weiter beim Lieferabo geht Rewe. Neben verschiedenen Laufzeiten zwischen einem und sechs Monaten kann der Kunde ebenfalls zwischen Lieferung an allen verfügbaren Tagen versus Lieferung zwischen Dienstag und Donnerstag wählen – letzteres dann zu einem vergünstigten Preis. Neben der parallelen Ansprache von preissensibleren Kunden, die so allfällig ebenfalls mit dem Lock-in Effekt adressiert werden können, hat dies für Rewe noch einen weiteren angenehmen Nebeneffekt: Das Brechen von Spitzen und die Verschiebung von Volumen auf die tendenziell auslastungsschwächeren Tage in der Wochenmitte.

Lieferabo bei Rewe
© Rewe
Lieferabo bei Rewe

Gratislieferung statt Liefergebühren

Eine vergleichsweise junge Form des Lock-in Effekts praktiziert das aus den Niederlanden stammende und ebenfalls in Deutschland aktive E-Food Startup Picnic. Picnic setzt bei dem beim Kunden äußerst unbeliebten Thema Liefergebühr an. Um den Kunden im System zu halten streicht Picnic die Liefergebühr. Zudem beträgt der Mindestbestellwert lediglich 25, Euro was gerade preissensible Kundengruppen adressiert.

Einziges Manko aus Kundensicht: Die Flexibilität der Lieferslots. Pro Tag gibt Picnic genau einen Slot vor, an dem der Kunde die Bestellung erhält. Der Effekt der Gratislieferung wird also mit geringerer Flexibilität aus Kundensicht kompensiert. Das gleiche Prinzip findet sich auch beim Schweizer Startup Miacar, das in der Anfangsphase quasi eine 1:1 Kopie des von Picnic etablierten Milchmann-Prinzips darstellt.

Gratislieferung bei Picnic
© Picnic
Gratislieferung bei Picnic

Ein recht eindrückliches Beispiel für den Lock-in Effekt und dessen Nutzen bietet der britische Onlinelebensmittelhändler Ocado. Dieser offeriert in regelmäßigen Abständen zur Neukundenwerbung 30% Rabatt auf den ersten Einkauf und teilweise sogar ein ganzes Jahr lang Gratislieferung.

Das Ziel dahinter: Den Kunden zum regelmäßigen Bestellen anregen und ihn über das Thema Bequemlichkeit und Einfachheit (der Kunde kennt bspw. den Shop und Ocados System, benutzt seinen bestehenden Login, hat quasi «economies of scale», da er immer den gleichen Dienst nutzt sowie zahlt keine Liefergebühr) im eignen System halten.

Lock-in Effekt bei Ocado
© Ocado
Lock-in Effekt bei Ocado

Kunden lieben Sortimentsauswahl

Nicht nur stationär, sondern auch im Onlinelebensmittelhandel lieben Kunden Auswahl. Dies können sich Händler auch im Sinne eines möglichen Lock-in Effekts zu Nutzen machen. Kunden können auch dadurch im eigenen Universum gehalten werden, weil sie alles, was sie für den Wocheneinkauf benötigen, bei einem einzelnen Händler bestellen können, ohne die Bezugsquelle wechseln zu müssen.

In der klassischen Handelslogik wird dies auch als «one stop shopping» bezeichnet; früher war dieser Begriff vor allem mit dem Einkauf in Einkaufszentren verknüpft. Für den Wocheneinkauf heisst das, dass dem Kunden etwa ein Supermarkt-Vollsortiment zur Verfügung stehen muss, um diesen Bedarf abzudecken. Im Durchschnitt bewegt sich die Artikelanzahl je nach Anbieter zwischen 15.000 und 25.000 Artikeln, inklusive Frische und TK-Ware. Rechnet man noch Non-Food Artikel hinzu, kann sich dies auch schnell einmal bis hin zu 30.000 Artikeln bewegen.

Regionale Produkte im Sortiment stellen eine weitere, schlagkräftige Facette eines möglichen Lock-in Effekts dar. Oftmals sind regionale Produkte bei Onlinelebensmittelhändlern eher schwach vertreten, obwohl die Kundennachfrage nach diesen in den letzten Jahren signifikant angestiegen ist. Damit stellt Regionalität bei der Produktauswahl ein weiteres, nicht zu unterschätzendes Kriterium dar.

Regionales Sortiment bei Bringmeister
© Bringmeister
Regionales Sortiment bei Bringmeister
Das Schweizer E-Food Startup Farmy geht sogar noch einen Schritt weiter und hat es sich auf die Fahnen geschrieben, möglichst viele lokale Produkte und Produzenten in seinem Shop zu vertreiben. Und dies medienwirksam als Lock-in Effekt zu nutzen.
Regionalität bei Farmy
© farrmy
Regionalität bei Farmy

Personalisierung und individualisierte Angebote

Eine starke Form des Lock-in Effekts lässt sich über Personalisierung erreichen, sprich: Dem Kunden das zeigen, respektive offerieren, was für ihn relevant ist. Gerade bei tausenden von Artikeln und einer großen Sortimentsbreite und -tiefe stellt Personalisierung aus Kundensicht einen wahrlich starken Hebel dar in Bezug auf Schnelligkeit und Bequemlichkeit beim Onlineeinkauf.

Insbesondere vor dem Hintergrund, dass bei einem gewöhnlichen Wocheneinkauf rund 80% der gekauften Produkte von Woche zu Woche die gleichen sind. Und in dem Wissen, dass Personalisierung bei den meisten Anbietern nicht oder nur in sehr schwacher Ausprägung praktiziert wird.


Metzgermeister Kevin Henrici will Onlinekunden das Fleischerhandwerk nahebringen.
© Henrici
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Dieser Metzger verkauft seine Würstchen bei Amazon

Ein Beispiel, wie ein starker Lock-in Effekt mit hoher Personalisierung geschaffen werden kann, findet sich beim Schweizer Onlinesupermarkt myMigros. Basierend auf Kundenkartendaten aus dem Loyalitätsprogramm, die sowohl das On- wie auch Offlinekaufverhalten widerspiegeln, wird für jeden Kunden eine vollkommen individualisierte Anzeige seiner am häufigsten gekauften Produkte pro Sortimentsbereich realisiert.

Cargobike-Kurier von MyMigros. Logistikpartner ist Notime.
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E-Food: myMigros – Mit Omnichannel-Daten zum personalisierten Supermarkt

Weitere Produkte sind dann über die Suche schnell und einfach auffindbar. In Kombination mit weiteren Argumenten wie kostenloser Lieferung ab 85 Schweizer Franken Warenkorbwert schafft myMigros so ein echtes Differenzierungskriterium.
Personalisierung als Lock-in Effekt bei myMigros
© myMigros
Personalisierung als Lock-in Effekt bei myMigros

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