Wie kann man den Handel angesichts der Unsicherheit in Zeiten von Krieg und Pandemie zukunftsfähig machen? Dies diskutieren Prof. Dr. Gerrit Heinemann und Levent Acik von Board International auf dem „#NextRetail Performance“-Online-Event am 31. März 2022 aus Sicht von Forschung und Praxis. Im Vorfeld präsentieren sie neun Lösungsbausteine für den intelligenten und integrierten Handel.
Beim Vergleich früherer Thesen ist festzustellen: Die Praxis bestätigt die Zukunftsperspektiven der Wissenschaft. Zugleich kann das Bild im Dialog noch erweitert werden, vor allem was die Bedeutung von integrativen Plattformen und die aktuelle Zielsetzung der Unternehmen angeht.
Quintessenz: Intelligent Retail und Integrated Retail Planning sind ziemlich beste Freunde, um die anspruchsvollen Anforderungen an die Neuausrichtung der Geschäftsmodelle, insbesondere in Richtung neuer Performance und Nachhaltigkeit, zu realisieren.

5 zentrale Themen als Rahmen
Fünf zentrale Themen, die den Handel der Zukunft prägen, bilden dabei den Rahmen für „Intelligent Retail“: Zuallererst sind die (1.) Basisvoraussetzungen zu schaffen, die ein datenbasiertes Arbeiten ermöglichen. Dieses wiederum ermöglicht den (2.) Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) und damit kundendatenbasiertes One-to-One-Marketing. Um damit überhaupt arbeiten zu können, bedarf es einer (3.) intelligenten Mitarbeiter-Qualifizierung und -Rekrutierung. Qualifizierte Mitarbeiter werden auch für eine (4.) digitale Supply Chain sowie die (5.) zukunftsfähige Geschäftsmodellierung inklusive Entwicklung von Smart Stores benötigt.Die 4 komplementären Themen von Integrated Retail Planning
Damit sind eigentlich alle Lösungsbausteine gegeben. Integration hilft nun dabei, dass aus lokaler Intelligenz auch übergreifende Intelligenz werden kann.Schlüsselthemen dafür sind:
- integrative Plattformen, die Daten wertvoll machen und einen „Single Point of Truth“ im Unternehmen sicherstellen,
- integrierte End-to-End-Planungen und Steuerungen zur Synchronisation aller Unternehmensbereiche,
- eine neue Performance-Orientierung sowie
- durchgängige Nachhaltigkeit als Ziel.
Das bedeutet im Detail:
6. Eine „Single Point of Truth“-Plattform, damit aus Daten Werte werden
Den Datenschatz zu heben ist die große Aufgabe des Handels. Dabei werden die Unternehmen allerdings feststellen, dass der Schatz weniger aus Gold besteht, sondern eher aus Roh-Edelsteinen, die man schleifen muss. Daten als unorganisierter, unvernetzter Rohstoff bringen wenig. Plattformen machen die Daten erst sichtbar und nutzbar und vernetzen die Menschen, die damit arbeiten. Sie machen aus Daten steuerungsrelevante Information und schaffen somit Wert. Dieses Wissen, das aus den Daten extrahiert wird, bringt Kompetenz und sorgt für Skalierbarkeit, Agilität und Performance.Ganz entscheidend dabei: Übergreifende Plattformen stellen sicher, dass es zu Daten bzw. Informationen auch wirklich nur eine Version der Wahrheit gibt. Ohne eine solche eine Wahrheit wird es nicht gelingen, friktionsfrei in Unternehmen intelligent und integriert zusammenzuarbeiten.
7. End-to-End-Planung und -Steuerung
Digitalisierung ist weit mehr als E-Commerce im Sinne von Onlineshops und Marktplätzen. Onlinehandel bleibt für viele Unternehmen natürlich der Hauptfokus bei der Neuausrichtung. Online-Business bleibt signifikant im neuen Wettbewerb und ist nicht mehr umkehrbar. Eine umfassende Digitalisierung ist dann aber der Schlüssel zum nachhaltigen Erfolg!Viele denken, dass die Digitalisierung irgendwann abgeschlossen ist, so wie hoffentlich Covid-19. Diese Hoffnung wird sich nicht erfüllen. Aussagen wie „Aber wir haben doch jetzt einen Onlineshop und sind bei Amazon“, greifen viel zu kurz. Digitalisierung ist der unentwegte Anspruch, technologiebasiert alle ungenutzten Wertschöpfungspotenziale in allen Bereichen und übergreifend zu heben.
Inselbildung verhindern
Corona hat z. B. mehr denn je deutlich gemacht, wie wichtig Supply-Chain-Management ist, um die Lieferkette zuverlässiger zu gestalten. Aber auch E-Commerce und Supply-Chain-Management brauchen die Integration mit der strategischen Planung, Finanzplanung oder auch der langfristigen Personalplanung.Am Ende sind vor allem aber alle Planungs- und Steuerungsbereiche integriert aufeinander langfristig und in Echtzeit abzustimmen, um die Entscheidungsfindung auf ein neues Level zu heben. Die Planungs- und Steuerungsinseln werden ansonsten die strategische Neuausrichtung in Richtung neuer Performance und Nachhaltigkeit verhindern.
8. Neue Retail-Performance und 9. Nachhaltigkeit in Balance
Neue Retail-Performance durch vielfältige Innovation ist essenziell. Gerade jetzt, in Zeiten der Corona-Pandemie und des Kriegs in der Ukraine, setzt dauerhafter Erfolg Innovationsbereitschaft voraus. Laufende Effizienzverbesserungen sind nicht mehr ausreichend.Digitalisierung spielt sicherlich eine Schlüsselrolle. Wer zu spät kommt, den bestraft das ausbleibende Geschäft! Natürlich kann sich jeder glücklich preisen, der als Händler bei der City-"Lage" punktet. Wer aber aktuell immer noch nicht versteht, dass beste City-Lage nicht mehr ausreicht, um erfolgreich zu sein, der wird nicht rechtzeitig die richtigen Weichen für die Zukunft stellen.
Polarisierung erfordert klare Entscheidungen
Wer als stationärer Einzelhändler zukunftsorientiert ist, investiert in Multichannel. Kein "Entweder-oder", sondern ein "Sowohl-als-auch" mit klarem Fokus auf den Kunden. In anderen Bereichen ist hingegen eine klare Entscheidung unerlässlich. Es droht eine Polarisierung. Das wird gut sein für Premiumanbieter und Billigspezialisten. Die Mittelpreisschiene bleibt gefährdet."Stuck in the middle" – dieser Ausdruck ist lange bekannt, aber seine Bedeutung verschärft sich durch die Krise und den Differenzierungsdruck der Zukunft.
Generell sind schließlich Customer Experience und Engagement keine Modeworte, sondern erfolgskritisch. Deshalb sind auch Verbesserungen bei klassischen Themen wie der Kunden- und Sortimentsplanung notwendig. Die Zyklen einer fortlaufenden Ausrichtung an den Wünschen der Kunden werden immer kürzer und bedingen Simulationen in Echtzeit. Das sind nur einige Bereiche, wo der Performance-Druck zum Innovationsdruck wird, der gegenüber der reinen Effizienz an Relevanz gewinnt.
Nachhaltigkeit strategisch angehen
Last, but not least bleibt als zentraler Konsum- und Gesellschaftstrend das Generalthema Nachhaltigkeit. Die Forderung nach mehr Nachhaltigkeit wächst nicht mehr nur im Privatleben – das Thema ist auch durch Regulation längst im Geschäftsleben angekommen. Mitarbeiter, Investoren und Kunden wünschen sich, dass Unternehmen mehr Verantwortung zeigen.Beim Themenkomplex „Environmental Social Governance“ (ESG) müssen sich viele Unternehmen jedoch immer noch orientieren. Zwar ergreifen sie erste Maßnahmen, doch kaum eine Organisation hat eine klare Vorstellung davon, wie sie das Thema ESG strategisch und nachvollziehbar angehen kann.
Es fehlen klare Definitionen, Zielsetzungen und eine strukturierte Nachverfolgung. Auch der Einzelhandel braucht Ideen, was nachhaltig konkret bedeutet und wie es umzusetzen ist. Dabei müssen auch Konfliktfelder wie z. B. Ultra Fast Fashion versus Nachhaltigkeit balanciert werden.