Seit dem Start von Gorillas in Berlin im Frühjahr 2020 hat sich die europäische Landschaft für schnelle Lieferungen in rasantem Tempo verändert. Prognostizierten Kritiker am Anfang lediglich ein kurzes Intermezzo, sprechen einige bereits jetzt, nur knapp zwei Jahre später, von einem neuen Megatrend, der die althergebrachte Handelslandschaft nachhaltig umprägen wird. Einen neuen Paukenschlag vollzog die Ankündigung des amerikanischen Anbieters Doordash, den europäischen Player Wolt zu übernehmen. Zeit also, einen Blick auf die bisherigen Entwicklungen zu werfen.
Innerhalb nur einer Dekade haben sich die Anforderungen der Konsumenten hinsichtlich des erwarteten Servicelevels im Handel stark verändert. War der Lebensmitteleinkauf bis vor wenigen Jahren noch geprägt von sogenanntem „One-Stop-Shopping“, Auswahl und Erlebnis in einem Megastore oder einer Mall, sind heute Convenience und Lieferung nach Hause zur Normalität geworden.

Die Corona-Krise war nur ein Faktor
Zu dieser Transformation haben sicherlich auch Corona und das neue Verbraucherbedürfnis der Kontaktvermeidung stark beigetragen.Und das in einem Markt, der auch bereits vor Corona nicht gerade durch ein Kapazitätsüberangebot geglänzt hat. Quick Commerce findet unter anderem seit dem ersten Lockdown im DACH-Raum auch deshalb regen Zustrom, da es von den Verbrauchern als bequeme Ausweichlösung zum nicht verfügbaren E-Food-Wocheneinkauf entdeckt wurde.
Die Kundenerwartungen verschieben sich
Seit Mitte 2020 fokussieren neue Anbieter auch in den deutschsprachigen Breitengraden zudem auf neue Zielgruppen mit einer anderen Value Proposition: Es geht nicht darum, den Wocheneinkauf zu ersetzen, sondern um eine Ergänzung, wenn man bestimmte Artikel benötigt – unkompliziert und schnell. Statt großer Warenkörbe und „One-Stop-Shopping“ fokussieren die neuen Player auf ein breites, aber wenig tiefes Sortiment mit hohem Fokus auf Convenience, Markenartikel, kleine Warenkörbe und direktes Verbrauchsbedürfnis.Das Ziel: einen Teil des bisherigen Wocheneinkaufs von den klassischen E-Food Anbietern zu erodieren und mit sofortiger Bedürfnisbefriedigung im Sinne von Convenience oder Notkauf (Beispiel: Es fehlt die Tomatensauce zur Pasta oder die Tüte Chips zum Serienabend mit Freunden) abzudecken.
Die Bedarfssituation im Fokus
In der heutigen Zeit ist es gang und gäbe, dass ein Unternehmen seine Kunden kennen muss und diese anhand ihrer spezifischen Bedürfnisse auch adressiert. Bei Quick Commerce geht es allerdings nicht nur um die Kundengruppen an sich, sondern aufgrund der primären Value Proposition „kurze Lieferdauer“ noch um einen anderen Faktor, der in diesem Fall noch stärker ins Gewicht fällt: die konkrete Bedarfssituation des Kunden, in der er sich gerade befindet.Und in dieser liegt der Unterschied zwischen Quick Commerce und den eher größer ausgelegten Wocheneinkäufen über die bisherigen E-Food-Player.
Einerseits sprechen wir vom geplanten Einkaufsereignis mit längerer Vorlaufzeit, andererseits vom Spontankauf oder auch Notkauf, weil gerade etwas fehlt. Beispielsweise die Pastasauce oder der frische Basilikum fürs Topping.

Neue Zielgruppen
Die Kundengruppen, die Quick Commerce als Segment innerhalb des E-Foods nutzen, unterscheiden sich gar nicht einmal so sehr von denen des Online-Wocheneinkaufs. Mit einer Ausnahme: Quick Commerce ist vor allem auch für die Haushalte interessant, die aufgrund der immer noch vorherrschenden großen Mindestbestellwerte sowie hohen Liefergebühr-Schwellen bisher nicht online eingekauft haben.Diese bisher online noch nicht erschlossene Gruppe bietet, gerade in den Ballungszentren und Metropolen, einiges an Potenzial, das die neuen Quick-Commerce-Start-ups zu heben gedenken. Und auch die Investorenträume, die derzeitig bereitwillig das neue Rennen im E-Food finanzieren, beflügelt.
Weitere Zielgruppen sind diejenigen, die auch sonst bereitwillig ihre Lebensmittel im Internet bestellen. Wobei sich Quick Commerce bei diesen wohl nicht als vollkommenes Substitut, sondern als Ergänzungskanal für zusätzliche Spontankäufe etablieren wird.

Markt mit Potenzial
Da für den deutschen Markt bisher keine wirklichen Marktzahlen für Quick Commerce vorliegen, soll im Folgenden eine Schätzung des Marktpotenzials für Quick Commerce mittels der bei Start-ups beliebten "TAM-SAM-SOM-Methode" vorgenommen werden.Dabei steht TAM für "Total Available Market" (Gesamtmarkt), SAM für "Serviceable Available Market" (verfügbarer Markt) sowie SOM für "Serviceable Obtainable Market" (erreichbarer Markt). Um eine halbwegs valide Marktschätzung vorzunehmen, müssen jedoch einige vereinfachende Prämissen für den deutschen Markt vorweg genommen werden.
Phänomen für Ballungsgebiete
Da Quick Commerce ein Phänomen für Ballungsgebiete darstellt, da eine möglichst hohe Kundendichte um die kleinen Lagerstandorte mit begrenztem Lieferradius gegeben sein muss, werden nur Städte mit mehr als 200.000 Einwohnern in die Betrachtung miteinbezogen.
Durchschnittliche Warenkörbe bewegen sich knapp über 20 Euro
Des Weiteren wird ein durchschnittlicher Warenkorb von 20 Euro zugrunde gelegt, basierend auf einem Artikel im Manager Magazin zu Gorillas vom Mai 2021. Dort beträgt der durchschnittliche Warenkorb jedoch bereits schon 21,50 Euro. Generell ist davon auszugehen, dass sich die Warenkorbhöhe bis 2030 eher im Durchschnitt um die 25-30 Euro bewegen wird. Hinsichtlich der Bestellfrequenz ist davon auszugehen, dass Kunden im Durchschnitt zweimal pro Woche bestellen. Für die Potenzialabschätzung wird jedoch noch ein Faktor für Ferien, andere Opportunitäten, etc. mit einberechnet, und eine durchschnittliche Anzahl von 80 Bestellungen pro Jahr und Kunde zugrunde gelegt. Auch dieser Wert wurde für die Marktabschätzung bewusst konservativ gewählt.Mögliche sich ergebende Lock-in-Effekte für einen Anbieter, basierend auf Gewöhnung und Zufriedenheit des Kunden mit den jeweiligen Serviceleistungen sind der Einfachheit halber ebenfalls nicht in der Rechnung berücksichtigt. Generell dürften diese aber positiv hinsichtlich Warenkorbhöhe und Bestellfrequenz zu Buche schlagen.

Der Kampf um Marktanteile verschärft sich
Derzeit boomt der Markt für Quick Commerce noch. Gefühlt jagt eine Finanzierungsrunde die nächste und Investorengeld fließt in Hülle und Fülle. Dass sich "klassische" E-Food-Player mit Fokus auf den Wocheneinkauf – so Tim Steiner von Ocado oder Erich Comor von Knuspr – den schnellen Lieferdiensten und deren Konzepten gegenüber skeptisch zeigen, stört die Investoren dabei nicht. Sie befeuern mit ihrem Kapital weiter das „Land Grab Game“ in der Terra Incognita bis hin zum Einhorn-Status mancher Start-ups.Doch der Markt für schnelle Lieferungen hat einen Haken: Es ist ein "The-winner-takes-it-most"-Markt. Und nur über Größe und Skalierung lassen sich mittelfristig Profite erzielen. So geht es denn auch bei der Frage einer bevorstehenden Konsolidierung im Quick-Commerce-Markt nicht um das "Ob", sondern lediglich um das "Wann".
Insbesondere bei Konzepten, die sich aus Verbrauchersicht, außer vom Namen her, nicht voneinander differenzieren, wird sich der Kampf um den Kunden und um Marktanteile noch um einiges verschärfen. Und diejenigen mit der größeren Kriegskasse und folglich dem längeren Durchhaltevermögen werden diesen Wettstreit für sich entscheiden.
Beginnende Konsolidierung
Erste Konsolidierungsanzeichen sind im europäischen Raum bereits zu beobachten: einerseits durch Eintritte großer US-Player wie Gopuff mit dem Zukäufen von Dija und Fancy, aber auch durch die Beteiligungen traditioneller Handelsketten wie der Rewe Group bei Flink oder Casino bei Gorillas.Die jüngste Kehrtwende, die noch immer wie ein Paukenschlag nachhallt, ist die Übernahme des europäischen Vorzeige-Lieferdiensts Wolt durch den US-Konkurrenten Doordash, der damit seine Europa-Ambitionen massiv beschleunigt und sein Portfolio mit einem Schlag um 23 Ländermärkte erweitert.
Aus strategischer Sicht ein geschicktes, für viele Branchenkenner unerwartetes Unterfangen, das die Kräfteverteilung im europäischen Markt nochmals durcheinanderwirbelt. Es bleibt spannend, wie es bei Quick Commerce in den nächsten zwölf Monaten weitergehen wird.