Der Handel zeigt eine latente Neigung zur Misanthropie, während er es an Kampfgeist mangeln lässt. Professor Dr. Gerrit Heinemann, Leiter des eWeb Research Center der Hochschule Niederrhein und Mitglied im etailment Expertenrat, sagt im Interview, ob sich Deutschland "abschafft", wir uns zu Tode regulieren und warum wir nichts riskieren, aber dennoch begehrt sind.
Gar nichts! Sparkassen haben ein Superimage, die meisten Deutschen vertrauen ihnen. Ich sage nur, Sparkassen sind, aus meiner Sicht und ich erstelle für die Sparkassen im Augenblick eine große Studie, stecke also mitten im Thema, Sparkassen sind hinterm Mond, aber das wissen sie auch selbst.
Es stimmt also, dass Sparkassen überfordert sind, wenn es um die Bereitstellung von Risikokapital für Startups geht?
Ja, aufgrund meiner damaligen Aussage habe ich viel Zuspruch von Gründern bekommen, denen ich aus der Seele gesprochen habe. Sparkassen, das muss ich fairerweise sagen, werden auch von unzähligen Vorschriften geknebelt.
Die nennen das Regulatorik, aber vor Regulatorik können die kaum noch gehen. Diese Regulatorik verbietet es ihnen auch, ins Risiko zu gehen, ganz abgesehen davon, dass Risikokapital ein Begriff ist, der dem Wort Sparkasse widerspricht. Sind unsere Behörden immer noch eine „Lachnummer“ und die Beiräte der Bundesregierung Veranstaltungen, die „hohles Geschwätz“ produzieren?
Jein, denn es gibt solche und solche, aber oft wird immer noch überwiegend hohles Geschwätz produziert. Ich kann Ihnen auch sagen warum. Politiker, die zu einem Themen etwas sagen, haben eigentlich keine Ahnung davon.
Unterhält man sich zum Beispiel mit Mobilfunktechniker, wie es mir neulich auf einer Tagung zu 5G und Mobilfunk ergangen ist, bekomme ich zu hören, dass der Breitbandausbau in Deutschland gar nicht so teuer ist wie immer dargestellt. Man muss das nur technisch verstehen. Gleichzeitig erfährt man, dass die Telekom, die wiederum zu einem Drittel dem Bund gehört, ein großer Bremsklotz sei.
Lebt der deutsche Handel nach wie vor in der Komfortzone?
Ich trenne mittlerweile sehr stark zwischen den Food-Bereich, der ungefähr die Hälfte des Einzelhandels ausmacht, und den Non-Food-Sektor. Da sage ich, ja, bei Food ist das so. Hier haben wir Einzelhandelskonzerne, die in einer Komfortzone leben.
Sollte sich Entwicklungsminister Gerd Müller lieber auf das digitale Entwicklungsland Deutschland fokussieren als auf Afrika?"Es wird nur geklagt, auf Angriff und Attacke schaltet keiner."
Ja, wenn das so weitergeht, wird uns Afrika ganz schnell überholen. Die Afrikaner lachen zum Teil schon über uns, denn wenn die mal hier sind, können sie weder mit dem Handy bezahlen noch haben sie Handyempfang. Selbst im Urwald, erfährt man, ist der Empfang besser als hier in Deutschland.
Auch als Kassandra glauben Sie an den stationären Handel. Drei triftige Gründe, warum Sie glaubensfest sind?
Einmal, weil Lebensmittel auch in 10 oder 20 Jahren überwiegend stationär eingekauft werden. Das sehe ich an mir selbst. In Deutschland haben wir innerhalb einer halben Stunde Lebensmittel eingekauft, da ist jeder Online-Einkauf aufwendiger als mal eben um die Ecke zu gehen.
Zweitens: Ich habe vier Frauen zuhause und ich glaube zu wissen, wie Frauen einkaufen. Sie gehen immer in die Stadt, in Geschäfte, sie erwarten das. Selbst wenn sie online shoppen, wollen sie sich wenigstens im Geschäft umgeschaut haben.
"Generell würde ich sagen, dass wir zu viel Fußgängerzonen haben. Ich würde empfehlen, leer stehende Läden zu Wohnraum rückzubauen, weil wir einen Mangel an Wohnraum in Innenstädten haben."
Wenn der stationäre Händler einen Weg findet, mit weniger Umsatz auf der Fläche trotzdem Ware zu präsentieren – und da gibt es Möglichkeiten! –, wird er auch in Zukunft überleben. Er muss sich nur neu erfinden. Das dritte Argument ist, dass der scheinbare Widerspruch zwischen stationär und online aufgehoben wird. Es ist egal, ob der Umsatz online oder offline gemacht wird, Hauptsache er wird gemacht.
Stimmt es, dass Sie vielen Kommunen zum Umbau ihrer Innenstädte zu Schrebergartenkolonien raten?
Ja, ich vertrete den Standpunkt, lieber eine schöne Wohn- als eine hässliche Einkaufsstadt! Generell würde ich sagen, dass wir zu viel Fußgängerzonen haben. Ich würde empfehlen, leer stehende Läden zu Wohnraum rückzubauen, weil wir einen Mangel an Wohnraum in Innenstädten haben.
Mochten Sie schon in Ihrer Kindheit keinen „heißen Brei“, weshalb Sie inoffizielles Mitglied des Lambsdorff-Klubs der offenen Rede und des Klartextes sind?
Ich glaube, ich mochte sogar als Kind Brei, aber das ist ein anderes Thema, richtig ist, dass ich nicht lange um den heißen Brei drum herum rede.
Ich erhalte deswegen auch Schreiben von Personen, die mich verklagen wollen oder meinem Präsidenten raten, mich rauszuschmeißen, weil ich die Hochschule schädigen würde. Mein Präsident sagt in solchen Fällen nur, ganz locker bleiben, es gibt die Freiheit der Lehre und Forschung.
Wenn wir an Deutschland denken, fühlen wir uns oft um den Schlaf gebracht: marode, veraltete Infrastruktur, ein unsoziales Bildungssystem, Bürokratiemonster auf jedem Flur...."Wenn ich Sie fragen würde, wie viel Prozent der IT-Ressourcen bei den deutschen Sparkassen für Regulatorik gebunden wird, würden Sie mir wahrscheinlich 10 oder 20 Prozent nennen; ganz Mutige vielleicht 50 Prozent. Ich weiß zufällig, es sind 80 Prozent, Tendenz steigend. "
Und das wird nicht besser!
...und Sie setzen dem Ganzen die Krone auf und behaupten, der Handel zählt zu den „Warmduschern“ und „Verpennern“. Um einen Berliner Ex-Finanzsenator zu bemühen: Schafft sich Deutschland ab und der Handel gleich mit?
Ich glaube, dass wir uns in Deutschland – und das ist in keinem anderen Land, das ich kenne, so wie hier – zu Tode regulieren. Ich bin gerade, wie erwähnt, im Bankenbereich unterwegs. Wenn ich Sie fragen würde, wie viel Prozent der IT-Ressourcen bei den deutschen Sparkassen für Regulatorik gebunden wird, würden Sie mir wahrscheinlich 10 oder 20 % nennen; ganz Mutige vielleicht 50 %.
Ich weiß zufällig, es sind 80 %, Tendenz steigend. Es wird auch nicht besser, weil wir zudem Gefangene unseres föderalistischen Systems sind. Und bei etlichen Einzelhändlern glaube ich mittlerweile, dass sie einfach nur sterben wollen, sozusagen Selbstmord als Ausweg. Deutschland hinkt bei E-Commerce den USA und China um eine oder zwei Dekaden hinterher, sagen Sie. Was machen wir falsch? Können wir aufholen?
Ich glaube schon, dass wir aufholen könnten. Ich spreche ja relativ häufig mit Unternehmen wie Google, Amazon, Facebook und Apple. Jetzt war ich gerade in China, bei Tencent, Alibaba, Baidu und JD.com. Interessanterweise sitzen dort in vielen Schlüsselpositionen Deutsche.
So holen wir auch nicht auf!
Es heißt aber, dass wir ganz viele Leute, die dort beschäftigt sind, sehr gut ausgebildet haben. Amazon hat in Berlin sein Entwicklungszentrum für künstliche Intelligenz mit 500 Mitarbeitern eröffnet, fast alles Deutsche und es wird geleitet von einem Deutschen. Wir lassen die gut ausgebildeten Leute nach ihrer Ausbildung einfach ziehen, weil wir keine Verwendung für sie haben, da sollten wir mal überlegen, warum das so ist.
Sagen Sie es uns?
Es ist eine Frage des Kapitals. Es gibt in Deutschland unglaublich viele Multimilliardäre, die ihr Geld lieber als Venture Capital im Silicon Valley als in Deutschland investieren. Da fragt man sich, warum deutsche Startups sich Geld zum Teil aus dem Ausland besorgen müssen.
Es fehlt ein wenig an Patriotismus und ich glaube, es wäre angebracht, dass auch die Schwerreichen etwas Nationalstolz und Patriotismus aufbringen sollten, um Deutschland stark zu machen. Der dritte Punkt ist, dass wir ein Stanford oder Harvard brauchen, die Geburtsstätte viele erfolgreicher Unternehmer. Viele ehemalige Stanford-Studenten, die genug Geld auf der Kante liegen haben, bringen sich als Philanthropen ein.
So etwas haben wir in Deutschland nicht, wir verlassen uns immer auf die staatliche Ausbildung. Ich glaube, hier wäre genug Geld mobilisierbar, um eine Art deutsches Stanford zu gründen.
"Amazon hat in Berlin sein Entwicklungszentrum für künstliche Intelligenz mit 500 Mitarbeitern eröffnet, fast alles Deutsche und es wird geleitet von einem Deutschen. Wir lassen die gut ausgebildeten Leute nach ihrer Ausbildung einfach ziehen, weil wir keine Verwendung für sie haben, da sollten wir mal überlegen, warum das so ist."
Ihre Auffassung, wir steckten im Holozän, deckt sich nicht mit dem, was kürzlich Cisco und das Marktforschungsunternehmen Gartner veröffentlicht haben. Deutschland liegt bei der Digitalisierung in der Spitzgruppe, hieß es, und laut Apple-Boss Tim Cook spielen wir in der Spitzenliga ganz vorne. Eine Erklärung dafür?
Bei Studien, die von Unternehmen finanziert werden, wäre ich vorsichtig. Ich kenne die Aussagen von Tim Cook, der jetzt eine Niederlassung in München mit dem Argument gründet, dass es dort die besten Leute gibt. Das bestätigt ja nur meine Aussage, dass wir ausbilden, um dann zu sagen, hier, ihr könnt sie alle haben, brauchen wir nicht.
Ich muss Ihnen nicht sagen, dass der erste Computer in Deutschland von Konrad Zuse erfunden wurde und der erste Multifunktionsrechner auf binärer Basis, die Vier Spezies-Rechen¬maschine von Leibniz, 1690 entstand. Insofern gebe ich der Studie und Tim Cook recht.
Was wir nicht haben, sind global erfolgreiche digitale Plattformen und Jeff Bezos lacht sich deswegen über uns tot. Wir bilden aus, während Amazon Devisen abgreift und einen Marktanteil von 50 % online hält und jetzt sagen wir auch noch, okay liebe Chinesen, für euch ist auch noch Platz, Jack Ma, du kannst kommen. Wir setzen den GAFAs (Google, Apple, Facebook, Amazon) und den TABs (Tencent, Alibaba, Baidu) wirklich nichts entgegen.
Na ja, ein paar Erfolgsstory gibt’s schon!
Unser einziges Erfolgsbeispiel im Digitalbereich ist SAP, das Unternehmen ist überwiegend mit einem Geschäftsmodell aus den Siebziger, Achtziger Jahren unterwegs, hat aber, was aktuelle Geschäftsmodelle anbelangt, auch nichts zu bieten. Zalando ist ein Copycat von Zappos, auch nicht selbst erfunden, insofern kann ich diese Studie nicht nachvollziehen.
Vielleicht meint Tim Cook ja B-t-B-Bereich?
Schönes Thema, ist aus meiner Sicht in der Tat der einzige Schuss, den wir noch frei haben, weil die Hidden Champions und der deutsche Mittelstand einzigartig auf der Welt sind. Dem halte ich aber die Realität entgegen. Was glauben Sie, wie viel der Auftrags-eingänge bei deutschen Herstellern noch per Fax eingehen? Mir sagten mehrere Hersteller unabhängig von einander etwa 80 %.
Sie fordern, dass Traditionshändler im Leistungsvermögen mindestens mit disruptiven Pure Player gleichziehen müssten. Bei Handelskonzern, einverstanden, aber bei kleineren Händlern? Wie soll das funktionieren?
Es gibt Beispiele von relativ kleinen Händler, die sehr erfolgreich unterwegs sind. Ich spreche dabei aber nicht von den ganz kleinen, den solitären, lokalen und inhabergeführten Geschäften in der Innenstadt, die vielleicht eine Millionen Umsatz erzielen.
Eine durchaus repräsentative Studie der IHK Bonn für den Kreis Rhein-Sieg ergab, das 76 % dieser lokalen Händler nicht einmal ein Warenwirtschaftssystem haben, das heißt nicht einmal über die Grundvoraussetzung für so ein Thema verfügen. Da sage, das ist das Wenigste, was man angehen sollte, alles andere ist eine Verweigerungshaltung.
Und die erfolgreichen Beispiele?
Ich werde häufig gefragt, welche deutschen stationären Händler als Best Practice dienen können. Ein gutes Beispiel liefert Breuninger. Der ist gar nicht so riesig im Vergleich zu Konzernen, das ist ein Mittelständler, der aber einen Online-Anteil von 40 % und damit über 300 Millionen Euro erzielt. Wenn ich mir das angucke, wie er es das macht, sage ich nur, der hat’s verstanden. Auch Thalia und Douglas sind gut unterwegs. Die Erfolgsbeispiele in Deutschland liefern nicht unbedingt die großen Konzerne mit zweistelligen Milliardenum-sätzen.
Und was sollen die Solitären tun, die nicht wie Thalia/Mayersche über 350 Filialen verfügen?"Ich glaube, Plattformen wie sie Ebay bietet oder spezifische Lösungen von Verbundgruppen – 80 Prozent der lokalen Händler sind ja in Verbundgruppen organisiert – könnten eine Chance sein. Verbundgruppen müssten das Thema aber richtig ernst nehmen."
In Mönchengladbach haben wir vor ein paar Jahren ein Pilotprojekt realisiert, Mönchengladbach by Ebay, wo die lokalen Händlern gute Onlineumsatze erzielt haben. Das ist leider eingeschlafen, weil so etwas kein Selbstläufer ist und die Händler nicht bereit waren, 30 Euro Monatsgebühr zu bezahlen, das war denen zu teuer. Von den 80 Händlern in der Spitze sind jetzt noch 30 übrig geblieben, aber im Schnitt wurden aus dem Stand heraus 7 bis 8 % des Umsatzes online erzielt. Das waren durchschnittlich 90.000 Euro, ohne Verluste und Investitionen, mit relativ bezahlbaren Provisionen.
Ich glaube, Plattformen wie sie Ebay bietet oder spezifische Lösungen von Verbundgruppen – 80 % der lokalen Händler sind ja in Verbundgruppen organisiert – könnten eine Chance sein. Verbundgruppen müssten das Thema aber richtig ernst nehmen.
Welche nimmt es denn richtig ernst?
Die ANWR-Gruppe zeigt mit Schuhe.de, wie es geht und dass es auch kooperativ super funktionieren kann. Interessanterweise nutzt die Gruppe jetzt die Plattform Zalando.
Allein uns fehlt der Glaube! Nehmen wir einen Spielzeughändler in einer mittelgroßen Stadt. Der wird zwischen hohen Mieten, geringen Margen, Online-Shops der Markenhersteller und einem Onlineanteil, der bei 40 % liegt, aufgerieben. Woher soll der das Pulver nehmen, um in zwei Stadien zu spielen?
Ich glaube, man muss sehr stark nach Branchen differenzieren. Es gibt Branchen, die wahrscheinlich nicht mehr zu retten oder so zu retten sind, wie es in anderen Zweigen möglich wäre. Nehmen Sie Schallplattenläden, die sind weg vom Fenster. Bei Produkten, die vergleichbar und nicht immer erklärungsbedürftig sind oder sich von sich aus erklären – und das ist bei Spielwaren im hohen Maße der Fall – ist der Onlineumsatz weit fortgeschritten, den kann man auch nicht mehr einholen. Außerdem ist die Spielwarenbranche extrem preisgetrieben, deswegen gibt es einen Toys R Us auch nicht mehr.
Ist guter Rat also teuer?
Vor 16 oder 17 Jahren wollte ich dem Media Markt-, aber auch dem VEDES-Vorstand Multichannel-Projekte verkaufen. Wir haben versucht, denen zu erklären, dass, wenn Amazon so weitermacht, es sie irgendwann nicht mehr geben wird, weshalb man jetzt richtig Gas geben müsse. Nein, brauchen wir nicht, wir sind Marktführer, hieß es damals bei der VEDES wie bei Mediamarkt/Saturn, die anschließend ihren ersten Online-Shop wieder eingestellt haben. Da kann ich nur sagen, wer nicht hören will, muss fühlen.
Stichwort VEDES, seit drei, vier Jahren gibt man in Nürnberg bei der Digitalisierung in die Offensive. Gibt das Anlass zur Hoffnung?
Erstens, die Hoffnung stirbt zuletzt, zweitens ist es immer eine Frage der Ernsthaftigkeit. Wenn ich spüre, dass das Thema Chefsache ist und das in einer Verbundgruppe der gesamte Support der Mitglieder da ist, dann würde ich sagen, ja klar, Chancen sind nach wie vor da. Ich kenne allerdings keine Verbundgruppe, wo ich das spüre, da gibt es maximal ein Drittel der Mitglieder, die aufspringen, und zwei Drittel verweigern sich nach wie vor dem Thema.
Ja, ich begrüße das, ich finde das gut, aber ich muss auch immer wieder darauf hinweisen, es reicht wahrscheinlich nicht und zwar deswegen nicht, weil wir Geschwindigkeit brauchen und weil wir massiv investieren müssen und diese Investitionsbereitschaft fehlt in der Regel.
Heißt das, dass aufgrund des Transformationsprozesse Verbundgruppen Auslaufmodelle sind, weil sie a) das Tempo nicht mitmachen können und b) kein Pulver haben?"Wahrscheinlich werden solche Plattformen, die selbst einen erfolgreichen Onlinehandel betreiben und es wie Zalando schaffen, lokale Händler zu formieren, die Verbundgruppe neu erfinden. Sie wird anders aussehen, aber nicht weg sein."
Ich habe da eine Art von Erscheinung, möchte ich das mal nennen. Wenn Zalando über ein Partnerprogramm, wie Zalando es nennt, einen Marktplatz, der eher exklusiv und nicht offen ist, mit lokalen Händlern betreibt und im großen Stil mit der ANWR-Verbundgruppe kooperiert, also lokale Schuh- und Bekleidungshändler über Zalando verkaufen und das auch funktioniert, dann stelle ich mir die Frage, ob es für Zalando nicht ein ganz kleiner Schritt wäre, auch die Verbundgruppenfunktion zu übernehmen.
Und Ihre Antwort?
In Zukunft wird vermutlich eine ganze Menge von Veränderung aus dieser Richtung kommen, die wahrscheinlich stationäre Händler und Verbundgruppen nicht gut finden, aber ich sehe einfach, dass Amazon den stationären Einzelhandel mit Konzepten, die ich mir auch mehrfach angeschaut habe, neu erfindet, wo ich nur sage: super! Wahrscheinlich werden solche Plattformen, die selbst einen erfolgreichen Onlinehandel betreiben und es wie Zalando schaffen, lokale Händler zu formieren, die Verbundgruppe neu erfinden. Sie wird anders aussehen, aber nicht weg sein.
Sie führen Amazon gerne als Benchmark an. Das Unternehmen hat fast zwei Jahrzehnte keine schwarzen Zahlen geschrieben. Die Expansion basierte auf gutem Storytelling, fremden Geld und lukrativen Cloud-Dienstleistungen. Mit Storytelling und fremden Geld dürfte sich der mittelständische Handel schwer tun oder?
Storytelling allein reichte aus meiner Sicht definitiv nicht aus. Ein Unternehmen wie Amazon aufzubauen, ist eine Höchstleistung. Auch die Innovationskultur in dem Unternehmen ist einzigartig. Ich kenne kein Unternehmen, dass so viel Intelligenz eingesammelt hat und sie in einem Raum zu bündeln versteht. Selbst die Art und Weise, wie und welche Leute geholt werden, ist besonders.
Ich nehme nur mal den Einzelhandel für das Thema Innovationskraft. Die meisten wissen, wie im Handel kalkuliert wird. Seit 5000 Jahren ist das immer gleich geblieben. Was macht Amazon? Legt ein Prime-Programm auf, das mindestens 150 Millionen weltweit nutzen und sammelt so Anfang des Jahres eben mal 15 Milliarden Dollar ein, ohne dass die Kunden zucken.
Die 15 Milliarden nutzt Amazon, um die Produkte in seinem Einzelhandelsgeschäft günstiger anzubieten und die Kunden sagen, Mensch, der Amazon ist aber günstig. Das ist eine neue Form des Pricings, das ist innovativ. Wenn man in die Bilanz schaut, werden die 15 Milliarden Dollar allerdings nicht bei den Einzelhandels-, sondern bei den Serviceumsätzen ausgewiesen.
Hören wir da eine Art Bewunderung raus?
Ich glaube nach wie vor, dass Amazon eine enorme Bedrohung ist und ich muss ausdrücklich darauf hinweisen, dass unsere Kartellbehörden schlafen. Sie haben auch bei Google, das einen Marktanteil von 95 % hält, geschlafen, denn wie kann es sein, das man einen Monopolisten heranwachsen lässt, während das Kartellamt einem Herr Haub beim Kauf von Kaisers Kaffee Steine in den Weg gelegt werden, obwohl Tengelmann ein Witz gegenüber Google und Amazon ist. Nein, die können wachsen, wie sie wollen und ich muss einfach darauf hinweisen, dass beim Kartellamt etwas nicht stimmt.
Amazon wird vom Verbraucher zunehmend als Bedrohung wahrgenommen. In einer Studie hieß es, sie würden sich von dem Giganten abwenden. Neue Chancen für traditionelle Händler?"Es ist ja völlig legitim zu sagen, ich habe eine Digitalallergie, dann wäre es bei zurückgehenden Umsätzen nur logisch zu verkleinern. Da sehe ich keinen, der das intelligent umsetzt."
Die Studie kenne ich und ich musste mich darüber fast totlachen. Vor 30 Jahren haben wir schon an der Uni Münster Studien zum ökologischen Einkaufsverhalten durchgeführt. Fast 100 % der Befragten sagten, sie seien ökologieorientiert und würden ökologisch einkaufen. Anschließend haben wir beobachtet, wie sie einkaufen. Ergebnis: genau gegenteilig. Das nannten wir die Diskrepanz von bekundetem und tatsächlichem Verhalten, genauso verhält es sich mit Amazon.
Zalando wird als Beispiel für ein erfolgreiches Startup genommen. Wir wählen mytoys. Der E-Commerce-Anbieter, 1999 gegründet, schleppte Ende Februar 2018 einen Bilanzverlust von knapp 200 Millionen Euro vor sich her. Ob Otto das gut findet, wissen wir nicht, der stationäre Spielzeughandel bestimmt nicht, weil so Marktanteile erkauft werden. Kann David nur noch strampeln und hoffen, dass die Milch vielleicht doch noch zu Butter wird, um am Ende zu erkennen, er bleibt zweiter Sieger?
Das ist so, dem kann ich nichts hinzufügen.
Haben Sie für David wenigstens eine Exit-Strategie?
Es gibt immer vier Möglichkeiten. Die erste ist, dass man aufhört, dazu rate ich gar nicht so selten. Die zweite ist, dass man weitermacht wie bisher und hofft, es geht schon gut, aber vielleicht auch nicht. In dem Fall sind natürlich immer die Einzelhändler besser dran, die eine eigene Immobilie haben.
Die dritte Option ist, dass ich mein Geschäft verkleinere. Durch Downsizing kann man durchaus profitabel sein, das heißt, ich investiere nicht mehr, verkleinere, lass quasi das Geschäft auslaufen, bis ich das Pensionsalter erreicht habe. Die vierte Möglichkeit ist, dass ich alles mobilisiere, was ich habe, und angreife. Wenn ich den Krieg verliere, brauche ich mir wenigstens nicht sagen, ich habe nicht alles versucht. Diesen Kampfgeist spüre ich zu wenig.
Es wird nur geklagt, auf Angriff und Attacke schaltet keiner. Wenn man sagt, ich kann nicht mehr angreifen, weil ich keine Munition mehr habe, dann würde ich das ja verstehen, aber dann könnte man wenigstens die Fläche verkleinern. An dieses Thema geht keiner ran, das meine ich auch mit Neuerfindung des Handels. Es ist ja völlig legitim zu sagen, ich habe eine Digitalallergie, dann wäre es bei zurückgehenden Umsätzen nur logisch zu verkleinern. Da sehe ich keinen, der das intelligent umsetzt. Die Auswüchse der Plattform-Ökonomie wird zunehmend kritisiert. Auch Spielwarenhändler ist das Treiben oft ein Dorn im Auge. Brauchen wir eine stärkere Regulierung, müssen die Plattformanbieter in die Pflicht genommen werden?
Ja, aber man muss sagen, Plattform ist nicht gleich Plattform, denn jeder versteht etwas anderes darunter. Ich glaube, dass Thema kann nur von der WHO und der EU angegangen werden, das kann Deutschland nicht alleine regeln. Momentan schützt im Grunde genommen unser Handelsrecht, das noch aus den Fünfziger Jahren stammt, auch die Plattformen, die ja als Vermittler agieren.
Das ist ein Irrsinn. Der Verbraucher hat allerdings mit der Situation keine Nachteile, denn aus seiner Sicht bietet eine Plattform nur Vorteile. Ein Ansatz, für eine stärkere Kontrolle zu sorgen, könnte der Weg über die Datenhoheit sein, den die besitzt eine Plattform wie Amazon ohne Frage. Motto: Wer Herr der Daten ist, muss auch die Verantwortung als Vermittler übernehmen."Ich bin überzeugt, der stationäre Handel, ob Spielwaren-, Buch- oder Lebensmittelhandel, wird durch das Thema App neu erfunden."
Das ist doch ein alter Hut.
...einverstanden, aber wir wollten ja auch von Ihnen wissen, was uns jetzt ins Haus steht!
Ich bin kein Hellseher.
Riskieren Sie doch mal ein Blick in die Glaskugel!
Es gibt jedes Jahr 100 Trends. Am Ende des Jahres sammle ich die, schüttle und frage mich, was ist jetzt eigentlich ein Trend, was eine Sau, die durchs Dorf getrieben wird und was ein Buzzword wie etwa Künstliche Intelligenz. Die Experten, die sich mit KI auskennen, sagen, es gibt noch nichts, was so richtig funktioniert, dennoch jagt jeder dieser Sau nach.
Ein ganz neuer Begriff ist Handless Commerce, also wenn man die Hände nicht frei hat, um die Tastatur zu bedienen. Ich glaube allerdings, das Mobile-Thema wird noch einige Zeit gespielt. Ich bin überzeugt, der stationäre Handel, ob Spielwaren-, Buch- oder Lebensmittelhandel, wird durch das Thema App neu erfunden.
Mutig, mutig!
Ich weiß, ganz viele werden jetzt sagen, App funktioniert in Deutschland nicht, ich halte dagegen und sage, weil auch nur 10 Apps wirklich funktionieren. Verkaufsorientierte Apps mit integrierter Zahlfunktion etc., die auch funktionieren, und die mit dem stationären Geschäft kombiniert sind, mit denen ich dem Kunden die Möglichkeit gebe, appbasiert stationär einzukaufen, das wird die Zukunft sein.
Sie behaupten, die Beratungskompetenz, die der stationäre Handel für sich reklamiert, sei nicht viel mehr als ein Mythos. Was muss er denn tun, dass der Mythos einen wahren Kern erhält?
Der Handel muss verstehen, dass die Kundenorientierung aus Sicht des Kunden de-finiert wird und eben nicht aus der Perspektive des Verkäufers. Sie kennen das vielleicht: Fünfziger Jahre, draußen gibt’s nur Kännchen oder den Grüßonkel an der Tür.
Das Interview führte Ulrich Texter. Es erschien zuerst in der Zeitschrift "Planet Toys".