China-Kennerin Laure de Carayon sieht schon jetzt einen uneinholbaren Vorsprung der chinesischen Digitalriesen. Auch im klassischen Marketing drohe den westlichen Marken zunehmend Gefahr durch Arroganz gegenüber den chinesischen Konsumenten.
Der an Schwung verlierende Wirtschaftsaufschwung bei gleichzeitig unverändert intensivem Wettbewerb macht es ausländischen Marken noch schwerer als früher, den chinesischen Markt zu knacken. Wer Erfolg haben will, muss sich als erstes wirklich bemühen, die chinesische Kultur zu verstehen und den örtlichen Kunden nicht einfach ein Bild von westlicher Modernität überstülpen. Aber war dieser internationale Flair nicht immer der größte Reiz westlicher Marken in den Augen der chinesischen Konsumenten?
Das widerspricht sich ja nicht. Die chinesischen Konsumenten wollen durchaus modern sein und orientieren sich am Weltniveau. Aber während sie globaler in ihren Interessen und Ansprüchen werden, bleiben sie auch zutiefst in ihrer eigenen kulturellen Identität verwurzelt.
Ob eine westliche Marke scheitert oder in China Erfolg hat, entscheidet folgende Frage: Kann sie ihren in den anderen Märkten aufgebauten Markenmythos auf eine Weise vermitteln, die im Kontext der chinesischen Identität eine Resonanz hat?
Der richtige Umgang mit der chinesischen Kultur scheint vielen Marken aber immer noch schwer zu fallen. 2018 mehrten sich die Markenskandale, aktuell steht die spanische Modemarke Zara in der Kritik der chinesischen Konsumenten. Warum ist dieses Problem immer noch so groß?
Viele große Marken haben mittlerweile starke lokale Teams mit großer Ortskenntnis in China etabliert. Aber das bedeutet ja nicht, dass es keine Meinungsverschiedenheiten zwischen den lokalen Teams und der Unternehmenszentrale gäbe.
Es kann sehr schnell passieren, dass die Zentrale ein gewisses Bild ihrer Marke inszenieren will, das mit Blick auf die Sensibilitäten der chinesischen Konsumenten einfach nicht funktioniert. Da sind manche Marken vielleicht einfach noch zu selbstsicher und stolz – man könnte auch sagen: arrogant – in Bezug auf ihre eigene Bedeutung.
Die Erfahrungen von Intersport in China
Wie ließen sich solche Marketingpleiten verhindern?
Das lässt sich nur über einen besseren Dialog zwischen den Zentralen und den lokalen Teams lösen. Und dabei sollten die Zentralen auch akzeptieren, dass bei einem kritischen Thema im Zweifel das lokale Team das letzte Wort haben sollte. Denn das sind in der Regel Chinesen, die allein schon deshalb besser wissen, was für die chinesischen Konsumenten relevant ist und welche Werbebotschaften sie nachhaltig beleidigen würden.
Wie groß ist denn beim Eintritt in den chinesischen Markt überhaupt noch der Spielraum für Fehler?
Nicht sonderlich groß. Denn in immer mehr Branchen holen die chinesischen Marken spürbar auf oder haben schon Weltniveau erreicht.
Aber manche ikonische Marken aus dem Westen wie Ikea, Starbucks und sogar Oreo gehören im Moment immer noch zu den Gewinnern in diesem Wettbewerb. Die Aura dieser Marken ist immer noch groß. Sie sind schon seit langer Zeit im Markt und so haben sie eine über viele Jahre aufgebauter Verbindung mit den chinesischen Konsumenten. Und sie liefern konsistent eine phantastische kreative Leistung in ihrer Kommunikation.
Klassische Markenarbeit funktioniert also durchaus noch in der durch-digitalisierten chinesischen Konsumwelt.
Absolut, aber der Beweis muss jedes Jahr aufs Neue erbracht werde, dass eine Marke ihren Premiumaufschlag auch wert ist. Solchen Marken muss es gleichermaßen gelingen, Top-of-Mind bei der breiten Masse der Konsumenten zu bleiben und für die Millennials seine Sehnsuchtsmarke mit hohem Coolness-Faktor zu sein.
Dazu muss man nicht nur das Spiel mit der chinesischen Kultur beherrschen, sondern auch immer auf dem neuesten Stand sein, mit welchen digitalen Kanälen man seine Botschaft am effektivsten transportiert.
Die Erfahrungen von Nespresso in China
Mit Verlaub: Das müssen westliche Marketer auch in ihren heimischen Märkten leisten.
Nur dass diese Kanäle in China eben nicht immer die Kanäle sind, die man im Westen gewohnt ist. So reden wir in Europa derzeit immer noch über die Herausforderung, Multichannel-Marketing im Handel zu etablieren. In China gewinnt dagegen gerade der stationäre Handel wieder massiv an Bedeutung, weil das ein Touchpoint zum Konsumenten ist, wo man Marken auf eine ganz besondere Weise erlebbar machen kann.
Und auch in der Kommunikation sollte man nicht einfach seine gewohnte Praxis aus dem Westen übertragen. Natürlich ist auch in China die klassische Werbung eine denkbare Option. Aber mindestens genauso relevant ist unter Umständen die Zusammenarbeit mit Key Opinion Leaders (chinesische Bezeichnung für Influencer). Am Ende entscheidet die Agilität und Kreativität eines Unternehmens – und natürlich das Verständnis für die Funktionsmechanismen des digitalen Marketings.
Stichwort digitales Marketing: Hier scheinen die chinesischen Anbieter dem Westen speziell beim Thema Messaging weit voraus zu sein. Was könnte Facebook für seine Messaging-Plattformen aus den Erfahrungen des chinesischen Markts lernen?
Facebook jüngste Entwicklungen sind sehr stark von Wechat inspiriert. Diese Woche hat Mark Zuckenberg gerade angekündigt, dass sich die Plattform stärker auf 1-zu-1-Messaging konzentrieren will, um respektvoller mit der Privatspähre seiner Nutzer umzugehen und so ein besseres Nutzererlebnis zu ermöglichen.
Das war schon von Anfang an Tencents Strategie in Bezug auf die Werbeerlöse. Aber nur auf Wechat zu schauen, wäre einfach zu kurz gegriffen, denn die chinesische Digitalwirtschaft entwickelt sich einfach unglaublich schnell. Man kann im Prinzip sagen, dass sich alle sechs Monate die Rahmenbedingungen im chinesischen Internet verändern und ein neuer Player auftaucht, der die etablierten Marken herausfordert.
Das bedeutet nicht, das westliche Marken hier nichts lernen könnten. Aber wir sind einfach auf einem anderen Entwicklungsstand. Dafür sorgt allein schon die unglaubliche Größe des chinesischen Markts, die ein ganz anderes Tempo bei Umsetzung und der Skalierung von Geschäftsmodellen erlaubt, sowie die unterschiedlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.
Für westliche Konsumenten ist es beispielsweise einfach nicht so wichtig, immer die neueste Technologie zu besitzen, wie das für Chinesen zutrifft.
Das klingt ein wenig so, als ob Sie sich für Europa ein wenig mehr chinesische Begeisterungsfähigkeit für die Digitalisierung wünschen würden. Das hat ja durchaus seine Licht- und Schattenseiten. Beispiel: In China ist zum Beispiel der Fintech-Markt äußerst vital und hat die Bezahloptionen im E-Commerce stark verbessert.
Das würden wir uns auch in den westlichen Märkten wünschen, um den Online-Markt voranzubringen. Nur ist die Rechtslage in unseren Märkten deutlich restriktiver und Innovationen sind daher nicht so schnell umsetzbar.
Auf der anderen Seite hat diese geringe Regulierung auch viele Plattformen für Peer-to-Peer-Kredite entstehen lassen, auf denen viele Nutzer auch ihr Geld verloren haben. Diese Wildwest-Atmosphäre im Internet - wobei es hier natrülich auch eine staatliche regulierung gibt - sorgt also für Kreativität und Innovation, hat aber eben auch Nebeneffekte: Es können neue Risiken entstehen.
Das heißt Europa und die USA tun gut daran, ihre eigenen Erfahrungen machen und nicht zu sehr auf die Entwicklungen in China zu schauen?
Einzelne Elemente lassen sich sicher kopieren. Aber es braucht auch eine eigene Strategie. Denn die chinesischen Plattformen werden die westlichen Wettbewerber herausfordern und unter Druck setzen. Wenn man sich einmal nur ansieht welchen Effekt Ali-Express schon jetzt in Europa hat, sollte man sich da keine Illusionen machen.
Auch der Smartphone-Markt erlebt gerade eine sehr spannende Entwicklung. Die Produkte sind hier so sehr besser geworden und das zu äußerst günstigen Preisen. Unternehmen wie Oppo, Xiaomi und Vivo sind sehr gut im Markenaufbau und arbeiten mit großen Agenturen zusammen. Sie drängen schon jetzt spürbar auf den Weltmarkt.
Was ist denn das radikalste neue digitale Geschäftskonzept, das Ihnen in China begegnet ist?
Das Versicherungsunternehmen Ping An wird in den kommenden Jahren in ganz China ein Netz von digitalen Ein-Mann-Kliniken aufbauen, die die Größe einer Telefonzelle haben. Man betritt diese Zelle und bekommt ene KI-unterstützte medizinische Diagnose per Voice und Text. und muss so nicht erst monatelang auf einen Arzttermin warten.
Aber es gibt hier sehr viele spannende Entwicklungen: So ist bemerkenswert, wie sehr Gesichterkennung und Mobil Payment schon zum Alltagsleben in China gehören. Ebenfalls spannend ist das Konzept der Social-Commerce-Plattform Pinduoduo, die Geringverdienern den Einkauf in Gruppen ermöglicht.
Gruppeneinkauf ist nicht neu, aber die hier angesprochene Zielgruppe und die Integration mit Wechat ist wirklich innovativ. Und auch die Kurzvideo-Apps haben sich zu einem sehr lebendigen Sektor der Digitalwirtschaft entwickelt mit Playern wie Kuaishou und Tiktok.
Tiktok wird ja auch in Europa relevanter. Viele Marketer stellen sich jetzt die Frage, warum diese Plattform als Unterhaltungsmedium so beliebt ist und ob hier ein neuer Kommunikationskanal entsteht.
Tiktok hat ja die ebenfalls in China entwickelte Plattform Musically übernommen, die schon vor vier bis fünf Jahren sehr erfolgreich in den USA war. Im Kern geht es hier um den globalen Mainstream-Trend rund um Social Video. Die Nutzer möchten sich und ihre eigene Kreativität zeigen.
Sie veranstalten den Kongress ja jetzt schon seit einigen Jahren. Kann dieser Markt mit seinen Entwicklungen überhaupt noch überraschen?
Im Gegenteil: Der chinesische Markt überrascht uns alle immer wieder. Wer hätte denn für möglich gehalten, dass Tencent im vergangenen Sommer 25% seines Börsenwertes verlieren würde und danach ihre größte unternehmerische Reorganistation einleiten musste?
Neu ist auch, dass westliche und chinesische Unternehmen sich verbünden, um gegen einen gemeinsamen westlichen oder chinesischen Konkurrenten bessere Chancen zu haben. So soll beispielsweise gerade Amazon mit dem chinesischen E-Commerce-Unternehmen Kaola verhandeln, weil beide gegen Alibaba und JD konkurrieren. Solche Bündnisse gab es früher einfach nicht.
China ist einfach unberechenbar. Und gleichzeitig sind sie sehr berechenbar durch die langfristige Planung ihrer Politik. Jeder kann in den Wirtschaftsplänen die nächsten großen Entwicklungsschritte nachlesen: KI ist ein auf Jahrzehnte angelegtes Thema, da sie bis 2030 wollen in dieser Technologie Weltmarktführer mit einem Umsatz von 150 Milliarden US-Dollar sein. 2049 wollen sie pünktlich zum 100. Geburtstag der chinesischen Volksrepublik der größte globale Player sein.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf horizont.net