Wohl kein anderes Segment im deutschen E-Commerce wird seit geraumer Zeit so kontrovers diskutiert wie E-Food – der Verkauf von Lebensmitteln im Internet. Von den einen als neuer Hype und Megatrend im deutschen Retail gelobt, von anderen als bedeutungslos mit begrenztem Potential kleingeredet. Die Chancen in der Zukunft lassen sich an einigen Eckpunkten festmachen, schreibt Handelsexperte Matthias Schu in einem Gastbeitrag für etailment.
Auch wenn Umsätze und Verbreitung im deutschen Markt heute noch gering sind und das Wachstum in den vergangenen Jahren weniger schnell vonstatten ging also von manch einem prophezeit, so ist es doch an den klassischen Lebensmittelhändlern, heute das dringend benötigte Rüstzeug für morgen zu lernen.
Alain Caparros, 2006-2017 CEO der Rewe Group, hat dies bereits 2013 in einem Interview mit der Wirtschaftswoche trefflich zu Papier gebracht: "Wohin der Online-Zug fährt, weiss niemand genau, wie schnell er fährt auch nicht. Ich weiss nur, dass wir an Board sein müssen." So hat denn auch der Markteintritt von Amazon Fresh in 2017 im Vorfeld eine ganze Branche aus dem Dornröschenschlaf gerissen.
Zwei Jahre später lässt sich jedoch feststellen: Die in Europa einmalige Komplexität des deutschen Lebensmittelmarktes, an dem sich stationär bereits international erfolgreiche Player wie Walmart die Zähne ausgebissen haben, findet sich auch online wieder und bremst sowohl nationale wie internationale Player in ihren Expansionsbemühungen. Und dass E-Food nicht eine Lizenz zum Geldrucken ist, zeigt ebenfalls das Scheitern von gestandenen Händlern wie Kaufland oder Feneberg."Wohin der Online-Zug fährt, weiss niemand genau, wie schnell er fährt auch nicht. Ich weiss nur, dass wir an Board sein müssen."
Doch allen Schwarzsehern zum Trotz: Lebensmittel online bergen disruptive Sprengkraft für die gesamte Branche und nehmen weiter Fahrt auf. Dies hat mich dazu bewogen, meine Sicht des deutschen E-Food Marktes in einer etwas anderen Analyse einmal in 10 Thesen zu formulieren:
01 It’s still "Day One"
Um es einmal mit den Worten von Amazon Gründer Jeff Bezos auszudrücken: It’s still "Day One" im deutschen E-Food Sektor. Sowohl was Wettbewerber und Produkte angeht, jedoch auch für Entwicklungspotential des Marktes und Ergattern von relevanten Marktanteilen. Der Anteil von Lebensmitteln online am Gesamtmarkt lag in 2018 in Deutschland gerade einmal bei rund 1% und der Reifegrad des Marktes ist immer noch gering. Großbritannien mit rund 7% Marktanteil oder Frankreich mit rund 6% Marktanteil beim Lebensmitteleinkauf im Internet sind hier bereits ein gutes Stück weiter.In Relation zum Gesamtmarkt ist jedoch noch viel Potential vorhanden, das es zu heben gilt.
"Still Day One" heisst aus Händlersicht ebenfalls, eine gewisse Vitalität und Experimentierfreudigkeit an den Tag zu legen, aber auch die Akzeptanz von Rückschlägen. Hier tun sich insbesondere jünger Player wie bspw. Picnic hervor, aber auch Etablierte wie Rewe mit seinem Lagerprojekt Scarlet One, die beide klar auf Wachstum und Expansion setzen. Dies Bemühungen kommen auch beim Kunden gut an – wie die vom behv für 2018 ermittelte Wachstumsrate von rund 20% im E-Food Bereich zeigt.
02 E-Food spielt sich in Ballungsräumen ab
Betrachtet man die Verteilung der Liefergebiete der Anbieter von Lebensmitteln im Internet, fällt ins Auge, dass abgesehen von so genannten "Pantry"-Artikel-Anbietern wie Mytime.de oder Zoobee, deren Angebot sich durch lange Artikelhaltbarkeit und vergleichsweise unkomplizierte Lieferanforderungen auszeichnen, kein wirklicher Anbieter existiert, der flächendeckend oder zumindest im weitesten Sinne überregional agiert und ein Vollsortiment inklusive Frische offeriert.Dies verwundert kaum – einer nationalen Abdeckung stehen in Deutschland rund 83 Mio. Einwohner entgegen, die sich auf einer Fläche von rund 357.500 Quadratkilometern verteilen. Logistisch und kostenmässig ein absolutes Horrorszenario für jeden Unternehmer.
Als Resultat wird sich E-Food auch die kommenden Jahre primär in den Ballungsräumen wie München, Berlin, Köln, Düsseldorf, Hamburg und Frankfurt abspielen, die auch Dynamik und Innovationen vorantreiben werden. Das platte Land bleibt weiter aussen vor. In der Verbreitung am weitesten vorangeschritten scheint mir persönlich Rewe, Picnic agiert auf Platz 2 als großer Verbraucher-Hoffnungsträger im nordwestdeutschen Raum.
03 "The Innovators’ Dilemma" – auch im deutschen Handel präsent
In seinem Buch "The Innovator’s Dilemma" beschreibt Harvard-Professor Clayton Christensen, dass große, traditionsreiche Unternehmen nicht deshalb versagen, weil sie den grossen Umbruch, also die in aller Munde befindliche disruptive Veränderung scheuen, sondern weil sie nur zögerlich, mit entsprechendem Timelag und großer Skepsis neue Märkte und deren Potential akzeptieren.
Lediglich Rewe scheint hier in der Zeit von Alain Caparros einen Schritt weiter gekommen zu sein. Rewe hat bis heute von allen etablierten traditionellen Lebensmittelhändlern am stärksten das "Innovator’s Dilemma" mit Vorpreschen in das neue disruptive Segment E-Food mit entsprechender Innovationskraft und langem finanziellem Atem hinter sich gelassen.
04 Sortimentsumfang – auf die Auswahl kommt es an
Kunden lieben Auswahl. Im Allgemeinen trifft dies auch auf den Lebensmitteleinkauf im Internet zu. Für den Wocheneinkauf heißt das, dass dem Kunden etwa ein Supermarkt-Vollsortiment zur Verfügung stehen muss, um diesen Bedarf abzudecken.Im Durchschnitt bewegt sich die Artikelanzahl je nach Anbieter zwischen 15.000 und 25.000 Artikeln, inklusi-ve Frische und TK-Ware. Sollte ein oder mehrere benötigte Artikel nicht erhältlich sein, bricht der Kunde oftmals den Einkauf komplett ab und wechselt zu einem stationären Kanal, wie die Praxis zeigt. Dabei kommt es in der Regel nicht darauf an, dass er einen bestimmten Erdbeerjoghurt findet, sondern dass er einen findet, also ein für ihn adäquates Produkt innerhalb der gewählten Kategorie.
Das Thema heißt also hier Sortimentsbreite und nicht zwangsläufig ebenfalls Sortimentstiefe mit einer Unmenge an Auswahl. Im Umkehrschluss heißt dies aber auch, dass sich Händler online über die Sortimentstiefe und -breite stark differenzieren können.
05 Frische – die Königsdisziplin im E-Food
Gerade bei Lebensmitteln spielt das Thema Frische für den Verbraucher eine große Rolle. Verbraucher stehen dem Thema Frische besonders kritisch gegenüber, und legen stationär besonderes Augenmerk darauf beim Einkauf durch Testen und insbesondere Befühlen der Ware zur Reifegradbestimmung.Ein wohl allen bekanntes Phänomen im stationären Handel ist der so genannte Tomatendrücker, der ausgiebig sämtliches Gemüse vor der Auswahl befühlt. Beim Onlineeinkauf ist dies natürlich kein Thema. Die in der Regel schnelleren Durchlaufzeiten führen dazu, dass Obst und Gemüse tendenziell frischer sind als im stationären Supermarkt. Insbesondere für Lebensmittellieferdienste ist Frische also die Chance, sich zu differenzieren und weiteren Mehrwert für den Kunden zu schaffen, nicht nur bei Obst und Gemüse.
Auch Fisch, Fleisch, Käse, frische Backwaren und sogar Schnittblumen bieten ein enormes Potential, wie der Blick ins Nachbarland Schweiz zeigt. Dort sind diese Kategorien dem quasi stationären Corner-Ansatz nachempfunden und sogar Personalisierung bezüglich Gewicht, Schnittdicke ist möglich, wie das Beispiel coop@home zeigt.
Allerdings erhöhen frische Produkte ebenfalls massiv den Handlingaufwand für den Anbieter. Kürzere Haltbarkeiten von teilweise nur einem Tag bei Fisch oder frischem Hack, besondere Anforderungen an Kühlkette, Verpackung und Transport sowie allenfalls höhere Abschreiber bei der Lagerhaltung schaffen Komplexität und erhöhen die Kosten.
Aus diesem Grund ist der Bereich Frische auch primär für Anbieter geeignet, die selbst eine eigene Aus-lieferflotte besitzen und ebenfalls die letzte Meile bis zum Kunden entsprechend steuern können. Nichtsdestotrotz bergen Frischeprodukte im Vergleich zum "pantry box"-Ansatz ein enormes Potential, das E-Food in Deutschland in neue Sphären führen wird."Frischeprodukte können E-Food in Deutschland in neue Sphären führen."
06 Margendruck und das leidige Thema Prozesskosten
Betrachtet man den stationären LEH, ist dieser in Deutschland durch eine hohe Marktdruchdringung der Discounter geprägt, die Schätzungen zufolge rund 46% des deutschen LEH-Umsatzes für sich erzielen (inklusive Non-Food). Zudem vereinen die vier führenden Handelsgruppen Edeka, Schwarz, Rewe und Aldi rund 86% des Marktes auf sich – mit entsprechenden Auswirkungen auf Margen durch einen intensiven Preiswettbewerb (Quelle: HSH NORDBANK 2018).Diese generelle Situation sowie die in den Köpfen der Konsumenten vorherrschende "Geiz-ist-geil"-Mentalität machen es für Anbieter von Lebensmitteln online natürlich umso schwerer, mit Gewinn oder in der Anfangszeit zumindest kostenneutral zu arbeiten, bis eine kritische Masse erreicht ist. Doch selbst dann schlagen Kommissionierung und Auslieferung zu Buche, die von den Verbrauchern via Liefergebühren in der Regel zu einem bestimmten Teil weitergegeben werden. Gerade Margendruck und Prozesskosten, bis die Ware an der Haustüre der Bestellenden ist, lassen die traditionellen Händler wie Aldi & Co derzeit noch vor dem Thema E-Food zurückschrecken und lieber in weitere Filialen und damit Betongeld investieren. Die Flächenproduktivität im stationären deutschen Handel wir es Ihnen danken.
07 Liefergebühren – ein notwendiges Übel aus Händlersicht
Aus Kundensicht sind Liefergebühren primär eins: Unliebsame Zusatzkosten, die auch einmal zum Bestellabbruch führen können. Insbesondere der deutsche Verbraucher steht Liefergebühren im Rahmen seiner Erwartungshaltung mit anerzogenem Schnäppchendenken eher skeptisch gegenüber. Für den Händler sind Liefergebühren jedoch primär eine Möglichkeit, die Kosten für die Zusatzdienstleistungen Kommissionierung und Lieferung bis an die Wohnungstüre zu decken.Daher sollte der Kunde diese denn auch als Anerkennung des geleisteten Mehrwerts sehen, statt als zusätzliche Gebühr. Durch die Bank weg sind Liefergebühren bei fast allen Anbietern von E-Food in verschiedenen Ausprägungen anzutreffen, auch gekoppelt mit Yield Management-Ansätzen wie beispielsweise bei Bringmeister oder in Form von Lieferflats wie bei Rewe.
Lediglich Picnic bietet hier ein vollkommen konträres Modell an, bei dem Konsumenten keine Liefergebühr zahlen, jedoch dafür nur eine stark eingeschränkte Auswahl an Lieferterminen zur Verfügung haben. Das Thema Liefergebühr wird auch an anderer Stelle bei etailment im Detail beleuchtet.
08 Lock-in Effekt – die Kunden im eignen System halten
Ein wichtiger Aspekt des Kaufverhaltens, der beim Thema E-Food ebenfalls nur allzu gern übersehen wird, ist der so genannte "Lock-in-Effekt", also die Frage wie man als Händler den Kunden möglichst nachhaltig und lange im eigenen System halten kann.
Ocado offeriert in regelmäßigen Abständen zur Neukundenwerbung 30% Rabatt auf den ersten Einkauf und teilweise sogar ein ganzes Jahr lang Gratislieferung.
Das Ziel dahinter: Den Kunden zum regelmäßigen Bestellen anregen und ihn über das Thema Bequemlichkeit und Einfachheit (der Kunde kennt bspw. den Shop und Ocados System, benutzt seinen bestehenden Login, hat quasi "economies of scale", da er immer den gleichen Dienst nutzt sowie zahlt keine Liefergebühr) im eignen System halten.
Der Lebensmittelshop von Real bietet ebenfalls ähnliches mit einem Rabatt von 50 Euro nach der 4. Bestellung an. Vergleichbare Resultate können auch mit einer Lieferflat erreicht werden, wie sie beispielsweise Rewe oder der zur Migros Genossenschaft gehörende Schweizer Anbieter LeShop anbietet.


09 Convenience – der Haupttreiber für Bestellungen im Internet
Der heutige Kunde ist bequem. Insbesondere im E-Commerce. Vergangenes Jahr stellte der Konsumgüterproduzent KraftHeinz auf der Grocery Shop in einer Präsentation vor, dass rund 35% aller Konsumenten stationär und sogar rund 70% aller Konsumenten online in den USA die Themen Convenience und Zeitersparnis höher schätzen als das Thema Geld sparen.Dies heisst also: Konsumenten, insbesondere auch im E-Food, sind sehr wohl bereit, den angebotenen Mehrwert Kommissionierung und Heimlieferung und die resultierende Zeitersparnis finanziell zu honorieren. Meiner Meinung nach auch in Europa und Deutschland. Neben dem Hauptfaktor Zeitersparnis spielen hier auch vor allem Themen wie Bequemlichkeit, Öffnungszeiten oder kein Schleppen/Heimlieferung bis vor den Kühlschrank ebenfalls eine Rolle.
10 M-Commerce und Einkaufen von unterwegs
Innovationen verändern das Nutzerverhalten und können disruptiv bestehende Geschäftsmodelle und gelernte Muster der Verbraucher nachhaltig umprägen. Wie kaum ein anderes Phänomen hat in den letzten Jahren Mobile Commerce das Nutzerverhalten innerhalb der Handelslandschaft massiv verändert.
Während bis 2017 Dektop und Laptop dominierten, haben inzwischen Smartphones und Tablets die Oberhand gewonnen und den klassischen Desktop deutlich überflügelt. Durch dieses geänderte Kaufverhalten und die damit verbundenen technischen Möglichkeiten ergeben sich ebenfalls neue Wege und Kaufsituationen innerhalb der Customer Journey.
Darauf stellen sich Anieter auch mehr und mehr mit entsprechenden mobilen Lösungen wie mobileoptimisierten Webseiten und Apps ein, die auch von unterwegs oder von der heimischen Couch aus genutzt werden. Ein Beispiel ist die mobile Einkaufsliste Bring!, die es dem Kunden ermöglicht, seinen Einkaufszettel digital zu erfassen und dann in teilnehmende Webshops zu übertragen.
Einen Schritt weiter gehen sogar Picnic und der zur Migros gehörende Schweizer Picnic Klon Miacar. Diese bieten keine Desktoplösung mehr an und haben kompletten Einkaufsprozess in die App und aufs Smartphone verlagert.
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