Digitale Kommunikation verspricht das gelobte Marketingland: persönlicher, gezielter, kontextueller – einfach näher dran und damit effizienter. So werden die großen Budgetshifts von klassischen Werbekanälen in digitale Umfelder argumentiert. Doch die Realität sieht anders aus. Onlinewerbung verpasst meist nicht nur ihre Chancen, markenrelevante Erfolge zu erreichen, sondern verspielt sogar das Vertrauen der Menschen. Das Blatt muss sich dringend wenden, sonst wird die Onlinetrumpfkarte zum großen Bluff, sagt Etailment-Experte Christian Rätsch, CEO von Saatchi & Saatchi.
Werbung nervt, nun auch im Netz. Ich selbst bin Vertreter der Werbezunft und schaue mit Erschrecken auf den Umstand, dass die meisten Menschen Werbung sogar verachten. Das muss jedoch nicht so sein.

Reputationsaufbau im Netz baut Reputation oft ab
Online galt als heiliger Gral und Weg aus der Ignoranzfalle der Verbraucher. Doch sogar Spitzenverbände der Marketingbranche sprechen von Online-Werbung als Wirtschaft mit dem größten Versprechen und dem niedrigsten Erfüllungsgrad.Die Werbewirkung ist im Sinkflug. Marketing hat sich von der Realität abgenabelt. Wer diese Tatsache ignorieren möchte, schaue bitte auf die steigende Zahl der Adblockerrate. Eine Fehleranalyse:
- Der Krieg der Sterne: Galten Bewertungen in den ersten Jahren des Internets noch als wahrhafte Orientierungsgröße, hat sich heute Misstrauen eingeschlichen. 87% der Sternebewertungen gelten als nicht mehr glaubhaft, Bewertungsagenturen zerstören deren Wahrhaftigkeit. Solche Erfahrungen sorgen für eine insgesamt kritische Grundeinstellung Onlinemarketing gegenüber.
- Gefangen in der Blase: Re-Targeting ist vielleicht der nervigste Irrtum für Marketingerfolg. Wir alle kennen Werbung, die uns verfolgt – auch dann noch, wenn wir das entsprechende Produkt bereits gekauft haben. Die Auftraggeber ergötzen sich in scheinbar erfolgreichen Key-Performance-Indikatoren – die einzig dadurch zustande kommen, dass man der Werbung einfach nicht aus dem Weg gehen kann. Mit Werbewirkung hat das nichts zu tun. Der Systemirrtum liegt in der Tatsache, dass Daten die Vergangenheit analysieren, die Kaufabsicht jedoch in der Zukunft liegt.
- Ein großer Übertragungsfehler: Noch immer wird werbliche Kommunikation der Rolle des Onlinekanals nicht gerecht, werden doch Werbeformate aus der klassischen Werbung einfach übertragen. Die Argumente dafür sind Produktionskosten und der Irrglaube, dass Werbung heute noch selbstähnlich erscheinen sollte, um dem einheitlichen Markenbild gerecht zu werden. Hier liegt ein großes Missverständnis, denn heute zählt nicht die formale, sondern die inhaltliche Selbstähnlichkeit eines Markenauftrittes.
- Das Customer-Journey-Dilemma: Alle sprechen über Kundenzentrierung und bemühen die Customer Journey, um die Kontaktpunkte der Menschen zu managen. Das theoretische Konzept ist einwandfrei. Doch die Realität zeigt das eigentliche Dilemma auf. Statt Menschen mit ihrer Persönlichkeit zu erfassen und Informationen zu bieten, die gerne angenommen werden, verkürzt sich die Marketingplanung auf die technologische Fähigkeit, Menschen zu erreichen, weil man diese nun gezielt adressieren kann. Dabei liegt die Kunst nicht in der Kontakterreichung, sondern vielmehr darin, mit dem Kontakt auch Menschen zu berühren, um sie zu bewegen.
NICE: Erfolgsformel für zukunftsfähigen Handel
Gerade der Handel sollte es besser wissen. Mit seiner NICE-Erfolgsformel (N=Navigation, I=Inspiration, C=Convenience, E=Education) besitzt er komparative Stärken, die er auch in der Selbstvermarktung nicht vernachlässigen sollte. Denn zukunftsfähiger Handel steht für überlegene Erlebnisse, für persönliche Kundenansprache, für Orientierung, für Service, für eine gute Zeit – für Erfahrungen im Sinne der NICE-Formel.In diesem Sinne rate ich zu einer überdachten Onlinestrategie. Werbung kann auch Mehrwert werden und Menschen tatsächlich Orientierung geben – übrigens der Urauftrag der Werbung. Also statt Werbung für die 1-Euro-Weihnachtskerze lieber DIY-Deko-Ideen fürs Weihnachtsfest. Oder konkrete Maßnahmen, wie sich ein Beitrag zum Schutz des Klimas leisten lässt, statt Werbung für Bio-Rind für 2,99 €.
Unterhalten statt zu nerven
Aber natürlich ist gute Unterhaltung auch ein probates Mittel, um Kunden mit der Onlinepräsenz zu unterhalten, statt zu nerven. Wer Werbung kreiert, die nicht unterbricht, sondern Menschen gefällt, erntet Erfolg. Kommunikation sollte so gut sein, dass die Menschen sie freiwillig suchen und teilen wollen – in der Tat ein hoher Anspruch, aber machbar.Die Grundregeln erfolgreicher Onlinekommunikation sind zusammengefasst also ganz einfach: „Help me“ oder „Entertain me“ – Werbung mit Mehrwert wird immer gut ankommen und für Interaktion und anständig Klicks sorgen.
Um es anschaulicher zu machen, habe ich zwei Arbeiten ausgesucht, die kürzlich als besondere Leuchttürme im Rahmen des „The Best Agency“ Awards gewürdigt wurden:

1. Rettet die Currywurst
Während VW der Currywurst in ihren Kantinen ein Ende bereitet, postet Altkanzler Schröder, dass er das in seiner Zeit als Aufsichtsratsmitglied verhindert hätte. Diese kommunikative Steilvorlage verwandelt Rügenwalder Mühle mit der „#rettetdieCurrywurst“-Social-Media-Onlinerevanche und einer Blitzkampagne zu einem raffinierten Werbeerfolg.
2. Erstmal zu Teddy
Die Supermarktkette Penny sucht Anschluss bei jungen Zielgruppen und will den tristen Corona-Alltag freudvoller gestalten. Statt bekannter Produktwerbung erzählt Penny Geschichten mit und rund um den Comedian Teddy Teclebrhan.Die Kampagne startete auf Youtube, sorgte für mächtig viel Dialog und fand ihren Höhepunkt auf Tiktok. Viel mehr Spaß und Interaktion mit der Marke gehen kaum.

Das Instrument der Wahl ist Kreativität. Denn sie macht bei allen digitalen Scheinerfolgen immer noch zwei Drittel des Werbeerfolges aus – sagt die Wissenschaft. Wenn wir der nicht trauen, sollten wir unseren Bauch fragen: Welche Werbung hat mir zuletzt gut gefallen und hat mich berührt? Hoffentlich Ihre eigene!