Möglicherweise löst das Rechtsgutachten von Harald Nickel eine Klagewelle in Deutschland aus - von der die Einzelhändler profitieren können. Der Jurist besteht darauf, dass die Politik für entstandene Vermögensschäden infolge des Lockdowns aufkommen muss. Das gebe das Infektionsschutzgesetz her. Sollte sich das bewahrheiten, dann winkt Unternehmen Schadenersatz von Staat oder Behörden.
Herr Nickel, überall im Land wird der Lockdown gelockert, Einzelhandelsgeschäfte öffnen, die Menschen kommen wieder in die Innenstädte. Wie erleben Sie diese Lage?
Auch wenn wir als Anwälte professionelle Distanz wahren sollen: Die mir unterbreiteten Schicksale großer, mittlerer und kleiner Einzelhändler - teilweise über Generationen geführte Betriebe - machen mich sehr betroffen. Das schüttelt man nicht einfach so ab. Für viele ist es fünf vor zwölf.
Für alle stationären Händler war die Zeit der geschlossenen Läden ein wirtschaftliches Desaster, allein die Textilhändler hatten im April einen Umsatzrückgang von 76%. Was erwarten Sie aus wirtschaftlicher Sicht für die Handelsbranche?
Die Frage, wie schlecht es dem Handel in Zukunft geht, hängt entscheidend davon ab, ob es gelingt, ihn aus der Rolle des Bittstellers in diejenige des Anspruchsstellers zu bringen. Das Gutachten, das ich in Kooperation mit dem früheren Verfassungsrichter Ulrich Rommelfanger erstellt habe, kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: Alle Unternehmen und Selbstständige, die im Zuge der Umsetzung der staatlichen Corona-Restriktionen nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) unmittelbar von Betriebsbeschränkungen und Schließungsanweisungen betroffen waren und sind, haben einklagbare Ansprüche auf staatliche Entschädigungen in Höhe aller erlittener Vermögensschäden unter Anrechnung häufig völlig unzulänglicher Unterstützungsmaßnahmen. Das bedeutet: Sämtliche von Tätigkeitsverboten betroffene Selbstständige, Unternehmer und Unternehmen sind keine Bittsteller, sondern Anspruchsteller, denen man ihr Recht streitig macht.

Die Politik hat von der Pandemie betroffene Unternehmen schnelle Liquiditätshilfen durch von KfW-Bürgschaften abgesicherte Darlehen versprochen. Bearbeitungszeiten und Ablehnungsquoten zeigen jedoch, die Realität sieht anders aus. Die KfW hat den Hausbanken der Betroffenen den "schwarzen Peter" zugeschoben, indem sie verbürgt, was ihr angetragen wird. Zugleich droht allen Banken der Verlust der von der Politik versprochenen KfW-Sicherheiten, wenn nicht umfassend und restriktiv geprüft wird. Außerdem wurde die von verantwortlichen Bundespolitikern ausgesprochene Zusage hundertprozentiger Verbürgung von Corona-Krediten ganz überwiegend nicht eingehalten. Rechtliche Hürden des Europarechtes in diesem Zusammenhang, die als Begründung genannt werden, wären überwindbar, werden aber nicht überwunden. Außerdem stützen die Kredite lediglich die Liquiditätsseite. Die erforderliche Hilfe auf der Kapitalseite kann nur von Entschädigungsansprüchen kommen. Die Suspendierung der Insolvenz-Anmeldungspflicht wegen Überschuldung löst dieses Problem auch nicht für diejenigen Unternehmen, die nur vorübergehend wegen Überschuldung ihrer Insolvenz Anmeldungspflicht enthoben werden. Die Unterkapitalisierung ist über Illiquidität hinaus der schleichende Tod für viele kleine und mittelständische Unternehmen, der verhindert werden muss. Ohne dass Sie gefragt haben: Es geht nicht nur um Betriebsschließungen. Es geht auch um Betriebsbeschränkungen. Die Händler brauchen jetzt vor allem viel Geld. Woher soll das kommen?
Die Händler brauchen Liquidität und Kapitalhilfen. Diejenigen, die "Sonderopfer" sind, weil sie im Interesse der Allgemeinheit geschlossen wurden, haben hierauf in Form von Entschädigungen aus meiner Sicht nicht nur einen juristischen Anspruch, sondern auch einen politischen. Lasten müssen gleich verteilt werden. Bund und Länder haben in den letzten Jahren besser gewirtschaftet, als dies in den meisten anderen Staaten der Fall war. Wer heute nicht entschädigt, hat morgen womöglich höhere soziale Folgekosten in den Haushalten zu verkraften.
In Ihrem Gutachten schreiben Sie, dass Händler ihre im Lockdown entstandenen Vermögensschäden einklagen können, weil deren Tätigkeit staatlicherseits untersagt worden ist. Was ist ein Vermögensschaden?Durch den Lockdown verursachte Umsatzeinbußen abzüglich ersparter Aufwendungen. Dabei ist insbesondere bei Branchen, die saisonal abhängig sind, die Folgewirkung zu beachten. Dies ist im Einzelfall aufgrund des zusammenkommen Faktoren vielleicht nicht ganz leicht abzugrenzen und zu errechnen. Hierfür sieht das Gesetz allerdings für "Anspruchsteller in Beweisnot" die Möglichkeit des Richters vor, auch ohne letzte Beweise zu schätzen.
Zur Sicherheit: Es geht nicht um Umsatzverluste?
Es geht um dasjenige, was per saldo den Unternehmen in der Tasche fehlt. Das sind häufig nicht nur die Umsatzverluste während der Schließung unmittelbar. Im Saisongeschäft kann sich der Schaden über die Schließungszeitraum hinaus erheblich auswirken. Denken Sie beispielsweise an die Modebranche, die große Teile ihrer Frühjahrskollektion nicht absetzen konnte und die Ware nachträglich nicht mehr an die Frau oder den Mann bringen kann.
Bund, Länder und Behörden vertreten einhellig die These, dass es für Vermögensschäden wegen Tätigkeitsuntersagungen gegenüber Unternehmern oder Selbstständigen keinerlei gesetzliche Entschädigungsansprüche gebe. Wir widersprechen dem. In unserem Gutachten greifen wir auf Bestimmungen des bestehenden Infektionsschutzgesetzes (IfSG) zurück, die wir im Gegensatz zur gängigen Rechtsauffassung auch auf Vermögensschäden anwenden, die im Rahmen verordneter Corona-Betriebsschließungen zustande gekommen sind. Wir kommen zu dem Schluss, dass das IfSG, anders als bisher behauptet, Entschädigungsansprüche von "Sonderopfern" staatlicher Maßnahmen gerade nicht ausschließt. Professor Rommelfanger und ich halten die Auffassung, dass die staatlich verordnenden Betriebsschließungen und damit einhergehenden Betriebsbeschränkung nicht als Sonderopfer anzusehen seien, für rechtlich unvertretbar. Darüber hinaus weisen wir nach, dass die sogenannte Schadensausgleichspflicht, wie sie grundsätzlich bei staatlichen Beschränkungen einzelner Sonderopfer im Allgemeininteresse in den jeweiligen Polizei- und Ordnungsgesetzen der Bundesländer vorgeschrieben sind, auch für Vermögensschäden durch Tätigkeits- und Betriebsuntersagungen nach IfSG gelten. Das Gutachten ist ein starkes Signal an alle Selbstständigen und Unternehmen, die bedingt durch die Umsetzung der staatlichen Corona-Maßnahmen massive Schäden hinzunehmen hatten und haben. Warum war das bisher nicht so eindeutig?
Weil man sich mit der Frage anders, als wir dies taten, nicht rechtswissenschaftlich auseinandersetzte. Soweit Behörden versucht haben, Betriebsschließungen und Betriebseinschränkungen durch "Empfehlungen" ohne staatliche Verfügungen durchzusetzen, hat man aus meiner Sicht aber sehr wohl das "Risiko" von Entschädigungsansprüchen im Falle staatlicher Gebote und Verbote erkannt. Beispielsweise im Medizinbereich ist man teilweise so verfahren.
Ihr Gutachten wurde im Auftrag des Fachärzteverbands Integrative Versorgung in Seligenstadt erstellt. Kann man Mediziner mit Einzelhändlern vergleichen?
Ärztinnen und Ärzte sind bezüglich ihres Tätigkeitsprofils natürlich nicht mit Unternehmern des Handels vergleichbar. Was die Frage der Entschädigung von "Sonderopfern" angeht, sind die juristischen Fragestellungen jedoch komplett identisch und identisch zu beantworten.
Was können Händler jetzt mit Ihrer Erkenntnis anfangen?
Händler sollen sich von der Rolle des Bittstellers in die Rolle des Anspruchstellers begeben. Städte und Gemeinden treffen bereits Vorbereitungen, wie mit dem angeblich unvermeidlichen Niedergang vieler Händler umgegangen werden soll. Statt eines solchen Leerstandsmanagement sollte man die ortsansässige Wirtschaft lieber entschädigen und erhalten. Dies müssen die Händler allerdings auch einfordern.
Dies ist im Einzelfalle schwierig und die Geltendmachung von Ansprüchen wird ohne sachkundige Beratung voraussichtlich nicht funktionieren. Im Grundsatz gilt, dass diejenige Stelle zu entschädigen hat, die durch Versagung und Anordnungen die sogenannten "Sonderopfer" herbeigeführt hat. Vorsichtshalber müssen diese Ansprüche unter Umständen an mehreren Stellen innerhalb der kurzen Fristen des Infektionsschutzgesetzes in geeigneter Form geeignet hinterlegt werden. Darüber hinaus ist es für viele Händler möglich, Betriebsschließungs- Versicherungen, Betriebsunterbrechungs-Versicherungen in Anspruch zu nehmen. Einzelne Versicherer überziehen ihre Versicherungsnehmer jedoch gerade mit minimalen Abfindungs-Vergleichsangeboten. Dabei werden Entscheidungsfristen gesetzt, die angesichts der schwierigen Rechtslage und der Fülle von Problemen aus meiner Sicht unangemessen knapp ausfallen. Diese Form, Abfindungsdruck aufzubauen, sollte insbesondere von den Spitzenverbänden betroffener Wirtschaftszweige öffentlich kritisiert werden. Ich tue dies hiermit.
Es ist jetzt eine Klagewelle zu erwarten, oder?
Ja, solange, bis die Politik sich nicht entschließt, Sonderopfer freiwillig zu entschädigen.
Aktuell ist ein Baden-Württemberg eine Friseurin aber mit der Klage auf Entschädigung gescheitert. Das sind keine guten Vorzeichen für Sie, oder?
Das Urteil geistert in der Tat seit kurzem durch die Medien. Es spiegelt genau die „Old School“-Rechtsauffassung wider, wie sie bisher allseits betrieben wird. Betrachtet man aktuelle Stimmen, vom ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts angefangen bis hin zur Bundesjustizministerin in einem FAZ-Beitrag am 11 April, so hat das von uns geforderte Nachdenken bereits begonnen. Dass wir das Konstrukt geschuldeter Entschädigungsansprüche für "Sonderopfer" von Schließungen insbesondere im Handel nicht von einem Tag auf den anderen werden errichten können, ist klar. Aber der Zug neuer Meinungsbildungen beginnt zu rollen. Nichts von dem, was ich lese, wurde nicht bereits mit unserem Gutachten erwogen. Das Ergebnis ist bekannt.
Woher soll das Geld kommen, um die Ihrer Meinung nach gerechtfertigten Ansprüchen zu bedienen?
Die Finanzierung der Entschädigung von Sonderopfern muss von der davon profitierenden Allgemeinheit aufgebracht werden. Aus meiner Sicht spart man durch entsprechende Entschädigungsleistungen nachfolgende Kosten von Unternehmenspleiten und Arbeitslosigkeit wieder ein. Die sozialen und volkswirtschaftlichen Folgekosten des Zusammenbruchs einer großen Zahl betroffener Selbstständiger und Unternehmer für den Fall, dass Sonderopfer nicht entschädigt werden, wird den Staat am Ende viel teurer zu stehen kommen, als die Rettung von Betrieben und Arbeitsplätzen durch Entschädigungen.
Bisher gibt es aber keinen Präzedenzfall. Das dürfte aber Ihr Ziel sein, sie brauchen einen Händler, der aufgrund des Gutachtens eine Lawine lostritt.
Aktuell werden Verfahren von Händlern vorbereitet.
Händler brauchen finanzielle Hilfe so schnell wie möglich. Glauben Sie nicht, dass dieser Wunsch angesichts des juristischen Neulands, das Sie betreten, eine Zeit braucht, um in Erfüllung zu gehen?
Leider haben Sie Recht. Ich gehe jedoch davon aus, dass die Gerichte in ungewöhnlich kurzer Zeit Rechtssicherheit schaffen werden. Unsere viel gescholtene Justiz wird im Ausland als zumindest einer der effektivsten der Welt zu Recht gesehen. Unsere Gerichte werden schnell Signale setzen.
MEHR ZUM THEMA: