Was kommt? Was geht? Was muss man tun? Zusammen mit Handelsexperte Gerrit Heinemann und Mathias Gehrckens gibt Thomas Täuber als Herausgeber und Autor des neues Buches „Handel mit Mehrwert" Antworten. Auch Handelsmanager beschreiben darin Lösungen. Ein profunder und dicker Wälzer. Für etailment hat Täuber einige Erkenntnisse verdichtet und nennt drei zentrale Faktoren für den Erfolg in disruptiven Zeiten.
Ein disruptiver Wandel, also eine radikale Erneuerung bestehender Geschäftsmodelle und Geschäftssysteme, ist dringend nötig. Händler müssen jetzt die Chancen der Digitalisierung nutzen, wollen sie in Zeiten der “Amazonisierung” des Handels überleben.
Viele Handelsunternehmen, insbesondere im Bekleidungsbereich, sind in den letzten Jahren stark durch die Eröffnung neuer Filialen gewachsen. Doch in den vergangenen Monaten mehren sich die Negativschlagzeilen: Umsatzverluste, Stellenabbau, Filialschließungen, Insolvenzen. Betroffen davon sind viele Marken, die wir aus den Fußgängerzonen kennen. Sicher ist dafür nicht nur die Online-Konkurrenz verantwortlich, aber auch. Die Händler haben weder rechtzeitig in neue digitale Formate investiert noch Online und Mobile ausreichend integriert.
Starke “Über-Filialisierung”
Das Ergebnis: eine starke “Über-Filialisierung”. Sich aus eigener Finanzkraft durch Einsparungen im Kerngeschäft aus dieser Lage zu befreien, d.h. das Filialgeschäft anzupassen und dabei gleichzeitig in neue digitale Kanäle und Kommunikation zu investieren, fällt vielen Unternehmen aufgrund der ohnehin niedrigen Margen schwer.Zusätzlich haben die meisten Händler bei allem “Filialisieren” den einzelnen Kunden aus den Augen verloren und auf hochgradig standardisierte Modelle gesetzt. Doch der in Zeiten von Amazon & Co verwöhnte Kunde erwartet ein stark personalisiertes Erlebnis und Angebot unter Nutzung aller technischen Möglichkeiten.
Wie kann der disruptive Wandel gelingen?
Zunächst einmal muss der Kunde konsequent in den Fokus gestellt werden. Da sich die Handelswelt immer stärker zu einem integrierten Marktplatz entwickelt betrifft das nicht mehr nur die Interaktion am POS.
Der Händler kann heute zeitlich und räumlich unbegrenzt mit dem Konsumenten in Kontakt treten und seine Produkte und Dienstleistungen anbieten – und genau diese enge Begleitung erwartet der Kunde auch. Darauf müssen sich Händler und alle Mitarbeiter konzentrieren.
Denn das Umdenken betrifft nicht nur die Kundeninteraktion, sondern das gesamte Unternehmen. Daher sollte sich jeder Händler fragen, welche Produkte und Services für seine Zielgruppe noch oder zusätzlich relevant sind und wie er die Kunden in ihrer Bedürfniswelt am Besten erreichen kann.
Er sollte auch prüfen, wie er durch Digitalisierung Prozesse optimieren und somit Kosten einsparen kann, um stärker in Angebote für seine Kunden investieren zu können, zum Beispiel in innovative Technologie und Training des Personals. Er muss die Prozesse konsequent vom Kunden her denken und erkennen: das betrifft mein gesamtes Betriebsmodell.
Ausrichtung der Strategie am „Purpose“
Angesichts der schier unendlichen Möglichkeiten und immer schnelleren Innovationszyklen fällt es hier vielen Unternehmen schwer, die richtigen Prioritäten zu setzen. Um sich zu orientieren, hilft die klare Ausrichtung der Strategie am „Purpose“, also an dem Sinn und Mehrwert des Unternehmens im Leben des Kunden.Ziel muss eine emotionale Bindung zum Kunden sein, der den Händler als Partner seines Vertrauens sieht, der ihm passende Angebote macht.
Es geht nicht mehr um das reine Verkaufen von Produkten, sondern um Bedürfnis, Vertrauen und Präsenz
1. Das „eigentliche“ Bedürfnis und Emotionen sind wichtiger als das Produkt
Frauen beabsichtigen meist nicht einfach nur, ein Kleid zu kaufen. Sie möchten zu einem entsprechenden Anlass passend angezogen sein und schön aussehen. Ein guter „Partner“ wird nicht nur passende Kleidungsstücke anbieten, sondern auch umfassend beraten und ergänzende Produkte oder „Styling Services“ offerieren.
Ein gutes Beispiel einer erfolgreichen Anpassung ist MM.LaFleur. Das Modeunternehmen aus New York, spezialisiert auf wohlhabende Geschäftsfrauen, stand 2014 kurz vor der Aufgabe. Es besaß eine starke Marke, war mit Showrooms und mobilen Pop-up-Stores erfolgreich, schaffte es aber nicht, nur über den eigentlichen Vertriebskanal online zu wachsen. MM.LaFleur hat sich entsprechend der eigenen Mission neu ausgerichtet, klar positioniert und will Frauen im Job erfolgreich machen: „When women succeed in the workplace, the world becomes a better place“ (MM.LaFleur 2018). Gründerin und CEO Sarah LaFleur entwickelt heute Mode für Geschäftsfrauen, die für jeden Anlass perfekt angezogen sein möchten, aber aufgrund einer Vielzahl von geschäftlichen und privaten Verpflichtungen wenig Zeit für den Einkauf haben.
Der Durchbruch im Online-Vertrieb gelang durch einen individuellen Beratungsansatz, den Versand individuell zusammengestellter Bekleidungsstücke und Accessoires sowie einer Aufwertung der Geschäfte durch Stylisten.
2. Vertrauen ist wichtiger als der Preis
Vertrauen wurde bislang primär dem Verkaufspersonal des Händlers vor Ort entgegengebracht. Der Kaufprozess vom Zeitpunkt des Bedarfsentstehens über die Recherche bis hin zum tatsächlichen Erwerb des Produktes konnte sich dabei über Tage oder auch Wochen hinziehen.
Der Einfluss des Händlers beschränkte sich auf den Zeitraum, den der Kunde im Geschäft verbrachte. Heute setzen Kunden ihr Begehren häufig spontan, unmittelbar und impulsgesteuert um. Sie vertrauen einer Vielzahl digitaler Plattformen wie Online-Portalen, Blogs oder sozialen Netzwerken bzw. den darin agierenden Personen.
Sie selbst sind es, die den Kaufprozess eigenständig steuern und entscheiden, ob er binnen Sekunden oder Stunden abgeschlossen wird. Sie sind mächtiger als jemals zuvor, können jederzeit und überall auf relevante Informationen zugreifen und Tag und Nacht über unterschiedliche Kanäle kaufen. Lässt der Kunde es zu, erstreckt sich der Einfluss des Händlers auf den gesamten Alltag, auf jede Stunde und jede Minute.
Über Online-Portale oder soziale Netzwerke wie Pinterest, Twitter, Instagram usw. können Marken und Händler mit ihren Kunden permanent in Kontakt treten und eine große Zielgruppe sehr viel personalisierter, relevanter und bedeutsamer als über die klassischen Kanäle erreichen. Untersuchungen zeigen, dass 62,3 % der Social-Media-Nutzer in ihren Kaufentscheidungen durch ihre genutzten Netzwerke beeinflusst werden (eMarketer 2017).
3. Präsenz im richtigen Augenblick ist entscheidender als eine bestehende Loyalität
Diese neue Entwicklung erfordert ein weitergehendes Verständnis des Handels, das deutlich über den klassischen Fokus der Verteilfunktion hinausgeht. Gute Beispiele sind Conversational-Commerce-Plattformen wie Amazons Alexa oder Chatbots. Diese sind im Zuhause der Verbraucher immer präsent und somit auch im Augenblick des Konsum- oder Beratungsbedarfs. Auch die steigende Verknüpfung von Social Media Plattformen wie Facebook, Pinterest oder Instagram mit E-Commerce, das sogenannte „Social Shopping“, adressiert diesen Aspekt.
Die grundlegende Veränderung jahrelang gültiger Paradigmen zwingt Händler dazu, in den Spiegel zu blicken und sich drei Schlüsselfragen zu stellen: Wer sind wir? Warum existieren wir? Was ist unsere Bestimmung und wie relevant sind wir?
Erfolgreiche Unternehmen haben es geschafft, die oben genannten drei Schlüsselfragen klar für sich zu beantworten und somit im Leben ihrer Kunden relevant zu bleiben oder zu werden. Neben den bekannten globalen Beispielen erfolgreicher Unternehmen wie Amazon, Alibaba, JD, Apple, Walmart, Nike und Adidas gibt es zunehmend auch Nischenplayer, die sich durch Mehrwert, Relevanz und eine bestimmte Mission klar positioniert haben.