Amazon ist nach wie vor der Maßstab schlechthin im E-Commerce. Laut einer neuen IFH-Studie beeinflusst Amazon ein Drittel des gesamten Non-Food-Handels in Deutschland. Konservativ geschätzt, sagt Retail-Experte Holger Schneider. Als “Amazon-Addict” der ersten Stunde kommen ihm gerade bei der privaten Nutzung zunehmend Zweifel am Modell Amazon. In einem Gastbeitrag schildert er Gründe und die Risiken für den Tech-Riesen.
- Hat Bezos´s viel zitierter Growth Cycle seinen Zenit überschritten?
- Und mehr noch: Wenn es schon Amazon nicht gelingt, den Long-Tail in den Griff zu bekommen, wie steht es dann um die zahlreichen anderen Händler, deren Manager – oder oftmals Berater – die Marktplatz- und Plattform-Strategie als Allheilmittel ausgerufen haben?
Amazon: Nach wie vor die Blaupause für den Online-Kaufprozess
Aber schauen wir uns das Problem einmal der Reihe nach an und werfen zunächst einen Blick auf den typischen Kaufprozess, in dem Amazon seit jeher die Standards setzt:- Vorkauf-Phase (pre-purchase phase)
- Kauf-Phase (purchase phase)
- Nachkauf-Phase (post-purchase phase)
Nach wie vor glänzt Amazon sowohl in der pre-purchase als auch der post-purchase phase. In der Vorverkaufsphase etwa hat sich Amazon im Kopf vieler Kunden so fest verankert, dass sie nicht mehr auf die Idee kommen, anderswo nach Produkten zu suchen.

Wer bei Prime mitmacht, spürt den Lock-in-Effekt (oder bemerkt ihn eben nicht) und tätigt dort viele Bedarfskäufe mehr oder minder automatisch. Auch in der Nachkauf-Phase ist Amazon immer noch absolut marktführend: Die eigenen Prozesse und Logistik aus einer Hand (mittlerweile auch mit eigenen Paketboten) sorgen für zuverlässige Abwicklung und Zustellung; bei Problemen zeigt sich Amazon dem Kunden gegenüber stets kulant; und mit einer Prime-Mitgliedschaft wird der Service unschlagbar (etwa durch Premiumversand ohne Aufpreis).

Unbestritten ist auch die Kompetenz in der purchase-phase – Amazon erfand ja schließlich den One-Click-Kauf und besticht durch die Vielzahl an schnell verfügbaren Produkten. Doch es scheint, dass der Commerce-Riese gerade in der Kaufphase zuletzt Opfer des eigenen Erfolgs geworden ist. Bislang hat man sich bei Amazon gemäß des Bezos’schen Growth Cycle stets auf eine weitere Ausdehnung des Angebots für ein besseres Kundenerlebnis fokussiert (siehe Abbildung).
Doch genau hier liegt aus meiner Sicht der Hase im Pfeffer: Die Customer-Experience steigt durch ein immer stärker ausgeweitetes Sortiment inzwischen nicht mehr im gleichen Maße an. Schlimmer noch: Sie sinkt! Zu viele Produkte, zu viel Auswahl, und zu viele schlechte Optionen im besagten, unübersichtlich gewordenen Sortiment.
Was Amazon hier mit dem stetigen Ausbau der Produktauswahl (in der Grafik: „Selection“) bezweckt, lässt sich als Long-Tail-Ansatz beschreiben. Und dieser Long-Tail-Ansatz in der Variante Plattform bzw. Marktplatz ist inzwischen zur Standardantwort geworden, wie Wachstum und Profitabilität zu erreichen sein sollen. In diesem Modell sorgen Partner nicht nur für eine gesteigerte Auswahl, sie zahlen dafür auch noch Provisionen und tragen ganz nebenbei auch das Warenbestandsrisiko. Wie könnte es besser sein!?
Chris Anderson, der Schöpfer des Long-Tail-Konzepts, hat im Kern zwei Leitsätze formuliert:
- Make everything available
- Help me find it
1) „Make everything available“ – Immer mehr wird angeboten, aber immer weniger davon ist gut.
Hier glänzt Amazon in der Umsetzung: Von 2014 auf 2016 hat sich die Zahl der angebotenen Produkte allein mehr als verdoppelt (siehe sellics.com). Und obwohl leider keine aktuelleren Studien verfügbar sind, darf man getrost annehmen, dass diese Dynamik angehalten hat.
Hier stellt sich die Frage, ob es so viele qualitativ gute Produkte auf Erden überhaupt geben kann. Die Antwort? Nein, natürlich nicht. Und so findet sich auf Amazon immer mehr billige „China-Ware“ minderer Qualitätsstufen. Eine aktuelle Studie zeigt, dass sich der Anteil der Top-Amazon Marketplace-Seller aus China von etwa 10% im Mai 2016 auf 28% im Mai 2019 nahezu verdreifacht hat.

Aus Versehen? Eher nicht: Mit neuen Preis-Filtern wie “unter 10 Euro” spricht Amazon ganz bewusst preissensible Kundengruppen an. Zahlreiche dieser Angebote sind inzwischen ohne Umsatzsteuer direkt aus China gelistet. Zudem lagert immer mehr China-Ware kundennah direkt bei Amazon an europäischen Logistik-Standorten – und ist dann sogar mit Prime-Logo auf der Artikeldetailseite versehen.
2) „Help me find it“ – Mittlerweile stoßen die Amazon-Filter an ihre Grenzen.
Die Folge dieser Artikelflut ist so absehbar wie ermüdend: Selbst wenn man in die kleinsten Filterebenen springt, gibt es immer noch eine übergroße Auswahl, die zunehmend aussagelos ist. Aus der Menge der Ergebnisse stechen die relevanten Produkte nicht mehr hervor: Mutmaßliche Fake-Bewertungen und Gefälligkeitsurteile helfen nur begrenzt. In Folge kommt es zur „Qual der Wahl“: User können sich nicht entscheiden, welches das beste bzw. relevanteste Produkt ist; zudem steigt die Unsicherheit, sich möglicherweise für das falsche Produkt zu entscheiden. (vgl. TED Talk von Barry Schwartz „The paradox of choice“).
Nun wäre Amazon nicht Amazon, wenn es nicht schon das Problem erkannt hätte. Mit neuen Tools zur discovery relevanter Produkte versucht der Konzern mit marktüblichen Mitteln gegen diese Reizüberflutung anzuarbeiten: Zum “Style Explorer” hat man sich wohl bei StitchFix inspirieren lassen.
Doch mittlerweile ist einfach zu viel Grundrauschen im System. Auch der bei Amazon legendäre recommendation engine spielt mittlerweile nervige, weil irrelevante Push-Benachrichtigung auf das Smartphone. Ohje, Amazon war schon mal näher am Kunden!
Marketing: Amazon verkommt zum Handzettel

Der Fall ist klar: Bei Make everything available schießt Amazon übers Ziel hinaus; und bei Help me find it scheitert der Konzern inzwischen kläglich. Ob das aber den Branchenprimus in Bedrängnis bringen kann? Bei Amazons bisherigen Erfolgen fällt es schwer, daran zu glauben. Verlockend ist es daher, in der neuen Unübersichtlichkeit der Plattform sogar eine ausgeklügelte Strategie zu sehen: Die Amazon Marketing Services sollten sich in diesem Kuddelmuddel jedenfalls besser an den Vendor und Seller bringen lassen, die sich damit eine bessere Sichtbarkeit zurückkaufen können.
Nur: Falls das die Strategie ist, ist sie zu kurz gedacht. Die Rechnung wäre ohne den Kunden gemacht, der bei Amazon lange Zeit unangefochtener König war. Die Gefahr ist nämlich, dass der Kunde, der keine relevanten Ergebnisse mehr findet, Amazon nicht mehr als Produktsuchmaschine ansteuert. Erste Studien zeigen, dass wechselwillige, flexible Generation-Z’ler Amazon bereits den Rücken kehren, genauso wie sie es schon mit Facebook getan haben. Dieser Lesart zufolge wäre Amazon noch so ein „Monster-Network“, bei dem für viele die Relevanz verloren gegangen ist. Von den Herausforderungen einer hohen Datenqualität und relevanter Filter sind aber natürlich nicht nur Amazon, sondern auch andere Anbieter betroffen, die auf den Marktplatz-Zug aufgesprungen sind. Auch Otto, Zalando & Co. müssen es schaffen, bei wachsendem Angebot relevante Produkte für den Kunden auffindbar zu machen.
Sie sollten also neben dem ersten Gebot des Long-Tail-Ansatzes "Make everything available" auf alle Fälle auch den zweiten, häufig vernachlässigten Leitsatz berücksichtigen: 2Help me find it!"
Folgendes:
- Amazon ist trotz der Long Tail Problematik wichtig für Reichweite und Markenpräsenz. Nach wie vor: Es geht nicht ohne
- Ein wichtiger Vorteil von Amazon für Hersteller bleibt bestehen: Man kann sogar mit Monoprodukten erfolgreich sein, wenn man eine hohe Sichtbarkeit erreicht
- Man sollte seine Marke auf Amazon herausarbeiten, damit der Kunde zur markeneigenen Seite kommt, wo er unter anderem bei erklärungsbedürftigen Produkten besser abgeholt werden kann
- Qualitativ hochwertiger Content ist umso wichtiger, um sich von der Billigflut abzusetzen
- Die Nutzung von Amazon Marketing Services wird wichtiger, um den Kunden zu erreichen (und damit hat Amazon gegebenenfalls sein unterschwellige Ziel erreicht)
Allgemein sollten alle Online-Shop-Betreiber mit Marktplatz-Ambitionen folgendes beherzigen.
Make everything available
- Eine Ausweitung der angebotenen Produkte führt nicht zwangsläufig zu mehr Nachfrage
- Der Fokus sollte auf Produkten und Anbietern liegen, die eine hohe Datenqualität sicherstellen können
- Nachfrageorientierte Sortimentsgestaltung ist der Schlüssel, um nicht völlig am Markt vorbei die Auswahl aufzublähen
- Nicht zuletzt hilft der Blick auf die eigenen Kunden: Vermissen sie überhaupt eine größere Auswahl?
Help me find it
- Der Fokus muss auf die Relevanz für den Kunden gelenkt werden: Ein Mehr an Produkten sollte mit einem Weniger an Suchen einhergehen
- Dafür ist die Nutzung von neuen und geeigneten Personalisierungsansätzen ratsam, um Angebot und Nachfrage zusammenzubringen
Wer sich nun etwas tiefer mit den (technischen) Herausforderungen eines Marktplatzes auseinandersetzen möchte, dem sei dieser aktuelle Artikel von Dennis Kallerhoff von Commerce Operations empfohlen.
QUICK SUMMARY:
Bisher ist das Amazon-Mantra das folgende: Eine größere Auswahl führt zu einem besseren Kundenerlebnis, was wiederum zu mehr Wachstum führt.Doch genau hier wird Amazon zum Opfer seiner eigenen Größe. Durch zu viele qualitativ minderwertige Marketplace-Produkte, Fake-Bewertungen sowie fehlende Filter-Möglichkeiten verschlechtert sich das Kundenerlebnis.
Wenn schon der Branchen-Goliath Amazon hiermit zu kämpfen hat, sollte dies ein deutliches Warnsignal für alle (Online-)Händler sein, die den Marktplatz-Ansatz als ewigen Heilsbringer feiern. Die inflationäre Ausweitung des Angebots führt eben nicht zwangsläufig zu einer Steigerung der Kunden-Nachfrage.
Mit zwei simplen Fragen muss wieder die Relevanz für den Kunden in den Mittelpunkt gestellt werden:
- Will der Kunde überhaupt in allen Kategorien eine überbordende Ausweitung des Angebots?
- Kann eine ausreichend hohe Datenqualität aller Partner-Produkte sichergestellt werden?
Für Marken und Händler auf dem Amazon Marketplace wird es nun umso wichtiger, sich in der Flut der Produkte abzusetzen.
Um den Kunden zu erreichen werden qualitativ hochwertiger Content sowie der Einsatz von Amazon Marketing Services immer wichtiger. So gesehen lagert Amazon die Problemlösung an die Partner aus und verdient auch noch daran.