Jörg Reinnarth, Chef der Cintellic Consulting Group, über dumme Algorithmen, kluge Kommunikation und die Grenzen des Textminings bei meckernden Kunden.
Herr Reinnarth, meckernde Kunden zu besänftigen ist eine Königsdisziplin: Wie sollten Händler idealerweise mit Kundenbeschwerden umgehen?
Beschwerdemanagement ist ein menschliches und damit emotionales Thema und findet klassischerweise über Service- oder Verkaufsmitarbeiter statt. Dementsprechend hoch sind die Personalkosten. Kundenbeschwerden, die per Mail, Website oder Soziale Medien hereinkommen, muss und kann ein Händler nicht mehr über Menschen abwickeln, um im ersten Schritt schnell, effizient und im Idealfall beim ersten Kontakt problemlösend zu reagieren.

Wie kann dabei künstliche Intelligenz heute schon helfen?
Um der Beschwerde-Kommunikation Herr zu werden, muss man sich der Technologie bedienen, denn Menschen allein sind da überfordert. Künstliche Intelligenz, Textmining und damit entwickelte Algorithmen können dafür sorgen, dass große Mengen an Informationen automatisiert interpretiert und sortiert werden. Textmining bedeutet im wortwörtlichen Sinn ja auch, dass man der Bedeutung der Texte auf den Grund geht.
So findet ein Händler heraus, was der Kunde ihm sagen will oder aber er sieht, dass viele Kunden das gleiche Problem haben und es offenbar ein großes Thema ist, auf das er schnell und umfassend reagieren muss. Solche Themen kann der einzelne Callcenter-Mitarbeiter im Kundenservice gar nicht erkennen und einordnen. Mit Hilfe von Textmining kann der Händler sie aber zuverlässig identifizieren.
Also ist die Maschine klüger als der Mensch und kann ihn ersetzen?
Auch wenn im Prinzip fast alles automatisch geht, ist der Mensch an dieser Stelle weniger denn je ersetzbar. Denn der Algorithmus leistet nur, was man ihm beigebracht hat: Er macht Vorschläge, wie man die Texte einordnen und klassifizieren kann, und er gibt an, wie sicher er sich bei der Zuordnung ist. Auf diese Weise können sich die Berater auf diejenigen Fälle konzentrieren, die kritisch oder kompliziert sind.
"Der Mensch ist an dieser Stelle weniger denn je ersetzbar."
Dann ist auch in Zukunft die Kombination von menschlichem Know-how und Machine Learning gefragt?
Ja, nur so können die Potenziale von Textmining erst ausgeschöpft werden. In der Praxis gilt: Ein Algorithmus "von der Stange" bewältigt etwa 20 Prozent der geforderten Leistung, erst der Mensch kann ihn auf 100 Prozent Leistung bringen.
Wie bereitet ein Händler den Einsatz von Textmining konkret vor?
Mit einem sogenannten Pre-Processing, wie Programmierer es nennen. Ein Mensch, der das Unternehmen, seine Kunden, Produkte und damit die relevanten Themen kennt, gibt sein Wissen bei der Programmierung an den Algorithmus weiter. Dieser Wissenstransfer ist allerdings keine einmalige Angelegenheit, denn mit jedem neuen Angebot in der Produkt- oder Dienstleistungspalette eines Unternehmens entstehen laufend neue Themen.
Außerdem verändern sich auch die Ausdrucksweisen. Erst ein maßgeschneiderter und laufend gepflegter Algorithmus kann fehlerfrei arbeiten und zu Ergebnissen führen, die allgemeingültige Schlussfolgerungen ermöglichen und dem Händler wirklich weiterhelfen.
Wo sind die Grenzen des Textminings?
Standardisierte Lösungen können funktionieren, wenn es um einfache Aufgabenstellungen geht. Beim Textmining geht es immer darum, gehäuft auftretende Wörter miteinander in Beziehung zu setzen und daraus Schlüsse zu ziehen. Darin liegt aber auch die größte Schwäche, wenn man rein auf Technologie setzt. Denn Texte können, selbst wenn sie dieselben Wörter verwenden, unterschiedliche Bedeutungen haben. Der Mensch sieht das sofort, der Algorithmus aber nicht. Letzterer sieht nur die Wörter und ihre Anzahl, der Mensch jedoch erkennt den Sinn.
Was kann passieren, wenn man einen Algorithmus dumm lässt?
Die Themen werden falsch interpretiert, irreführend sortiert und kontraproduktiv beantwortet. Wenn ein Kunde, der sich über die falsche Rechnung beschwert hat, die gleiche falsche Rechnung nochmal bekommt, ist er zu Recht verärgert. Wenn sich ein Kunde über den Geschmack einer neuen Teesorte aufregt, ist es kontraproduktiv, ihm einen Rabattcoupon zu schicken, mit dem er noch mehr von diesem Tee kaufen kann. Wenn der Konsument sich in seinem Beschwerdemodus nicht ernst genommen fühlt, ist das das Ende der Geschäftsbeziehung. Da wäre dann keine Reaktion sogar besser gewesen als diese falsche Reaktion.