„Logistik-Prozesse müssen künftig viel mehr auf die spezifische Situation bezogen sein“, sagt der Fraunhofer-Wissenschaftler Bernd Bienzeisler. Das erfordert eine immer intelligentere Datenauswertung.


In der punktgenauen Auswertung von Mobilitätsdaten stecken noch enorme Potenziale, wie Bienzeisler unterstreicht. Das zeige sich am Beispiel eines Lkw. Wenn man auf Basis der GPS-Daten eines 7,5-Tonners die Informationen über Fahrtzeiten, Haltepunkte, Höhenprofil und Energieverbrauch erhalte, lasse sich damit die Tourenplanung optimieren. Zum Beispiel lässt sich so bestimmen, welches Fahrzeug mit welchem Antrieb am besten geeignet ist. Auch zusätzliche Mikro-Hubs und Umladepunkte an der Strecke ließen sich über die Daten einplanen, ebenso wie die Standorte und Haltezeiten an Elektro-Ladesäulen.

Denkbar wäre auch eine datengestützte Steuerung von Lade- und Lieferzonen. Schließlich sehen sich die Paketboten der Lieferdienste immer häufiger gezwungen, angesichts fehlender Parkplätze und verstopfter Städte ihre Fahrzeuge im Halteverbot abzustellen.
Besonders rasant sind die Veränderungen bei der Zustellung von Online-Bestellungen. Denn gerade im E-Commerce wird die Liefertaktung immer dichter. Um das Kundenversprechen einhalten zu können, etwa die Lieferung noch am selben Tag, seien die Logistik-Anbieter zum Umdenken gezwungen, erklärt Bienzeisler.„Im Endkundengeschäft ist die taggleiche Lieferung irrelevant.“
So würden manche Pakete sogar über Wettbewerber zugestellt, wenn die eigenen Kapazitäten nicht mehr reichen oder die Lieferung aufgrund der Sendungsstruktur unwirtschaftlich ist. Gleichzeitig bauen große Versender wie Amazon in den Ballungszentren eigene Lieferstrukturen mit eigenen Fahrzeugflotten auf. Nicht nur deshalb wird der bei Spediteuren längst um sich greifende Fahrermangel auch in der Zustellbranche für die letzte Meile immer mehr zum Thema. Auch in die Entwicklung geeigneter Lieferfahrzeuge fließt immer mehr Geld und Fantasie. Vor allem die Lastenfahrräder werden innovativer und leistungsfähiger. So sind inzwischen erste Elektro-Fahrräder nach dem Vorbild von Sattelschleppern am Markt – mit Auflieger und Anhänger.
Für Kunden ist der Wunschtermin wichtiger als die taggleiche Lieferung
Die immer schnellere Liefertaktung folgt allerdings eher dem Versprechen der Anbieter als dem Kundenwunsch. Bienzeisler: „Im Endkundengeschäft ist die taggleiche Lieferung irrelevant.“ Eine viel größere Rolle spiele der Wunschtermin oder sogar die zeitgenaue Zustellung an einen gewünschten Ort. Doch je mehr die Lieferdienste den individuellen Kundenwünschen entsprechen, desto kleinteiliger wird die Zustellung, und desto geringer ist die Chance, durch Bündelung und maximale Auslastung der Fahrzeuge Synergievorteile erzielen zu können.Ein optimales Verhältnis aus Kundennähe und Skaleneffekten muss praktisch bei jeder Tourenplanung neu gefunden werden. Allein schon deshalb kann es in der Lieferlogistik „keine große Lösung“ geben, meint Bienzeisler. Die Tendenz geht daher immer mehr hin zu Mikro-Hub-Strukturen und vielen kleinen Schritten zur Optimierung der Prozesse. So steigt absehbar die Zahl von innerstädtischen Mikro-Hubs, von denen die Boten dann die Pakete mit Sackkarren oder Lastenrädern abholen. Sicher werde es auch zu einer Herausforderung, die entstehenden Mikro-Hubs ins Stadtbild zu integrieren, und zwar möglichst anbieterneutral, meint Bienzeisler.
Überbewertet werden aus seiner Sicht die Hightech-Varianten auf der letzten Meile, etwa durch Roboter und Drohnen. Dass wirklich eines Tages nennenswerte Mengen an Paketsendungen per Drohne zugestellt werden, hält der Wissenschaftler für unwahrscheinlich. Allein schon die gesetzlichen Auflagen zur Sicherheit und dem Schutz der Privatsphäre machen den Drohneneinsatz im großen Stil unrealistisch. Bienzeisler: „Intelligente Technik ist eher in der Planung der Auslieferung erforderlich und weniger bei der Auslieferung selbst.“
Auch die Kommunikation zwischen Zustellern und Empfängern wird immer besser, etwa durch Echtzeitinfos über den Lieferstatus. Und die Zustellfahrzeuge werden immer besser an die jeweiligen Anforderungen angepasst. Lieferwagen und Fahrräder verschmelzen zu neuen, innenstadt-gerechten Vehikeln.
Solche „Mutanten“ werden künftig schon deshalb viel häufiger in den Städten zu sehen sein, weil etliche Kommunen das Autofahren in der Stadt möglichst unattraktiv machen und zahlreiche Parkplätze wegfallen. Ein gutes Beispiel dafür biete München, sagt Bienzeisler. Für Stuttgart rechnet der Wissenschaftler damit, dass der innere Ring der Stadt in spätestens fünf Jahren autofrei sein wird.
Damit werde die Zustellung zu einer noch größeren Herausforderung. Gleichzeitig entstünden damit neue und in bestehende Systeme integrierte Mobilitätsformen. Denkbar seien Paketanhänger für Linienbusse oder der Pakettransport per Straßenbahn. Der Grad der Bündelung von Zustellungen oder die Lieferung an den Wunschort zur Wunschzeit werden zwangsläufig auch Einfluss auf den Preis haben. Wer dafür am Ende bezahlt, ist offen. Unwahrscheinlich ist allerdings, dass die Konsumenten dafür allein aufkommen werden, meint Bienzeisler. „Es gibt nichts Schwierigeres als einen kostenlosen Service zu bepreisen,“ so der Wissenschaftler. Doch eine flexible und nachhaltige Zustellung wird de facto teurer. Die Lieferlogistik im E-Commerce wirft nur minimale Margen ab. Und wenn die Auslieferung nicht gleich beim ersten Mal klappt, werden schon Verluste gemacht.
Bei steigenden Anforderungen Fahrzeugauslastung optimieren
Auf jeden Fall steht die Zustellbranche vor der Herausforderung, bei steigenden Anforderungen die Touren und damit die Fahrzeugauslastung zu optimieren. Schließlich steigen sonst auch die Personalkosten, denn in erster Linie müssten die „Zusteller zustellen und nicht durch die Gegend fahren“, so der Fraunhofer-Experte. Die Unternehmen werden deshalb künftig die Arbeit so organisieren müssen, dass das Zustellpersonal flexibler und gleichzeitig produktiver eingesetzt werden kann, ohne dass die Arbeitszeitregulierung ausgehebelt wird.Und noch eine Entwicklung fordert neue Lösungen: Da nicht nur die Belieferung von Endverbrauchern zunimmt, sondern auch das Liefervolumen im B2B-Bereich, regt Bienzeisler an, das Konsumentengeschäft stärker vom B2B-Geschäft zu trennen.
Der Beitrag erschien zuerst in der Print-Ausgabe von "Der Handel".
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