So war die gute, alte Handelszeit: Die Industrie stellte her, der Handel stellte es ins Regal - der Kunde kaufte, was er kaufen sollte. Heute kauft der Kunde das, was er will. Daher wird bald nur noch das produziert - und direkt an ihn verkauft. Klingt einfach, hat aber noch Tücken.

Jens Wasel hat im Interview mit Etailment einmal erzählt, was alles schief gelaufen ist in seiner Laufbahn als Unternehmer. Falsche Produkte angeboten, auf falsche Lieferanten hereingefallen - wie man halt danebenliegen kann, wenn man als Zweimann-Betrieb damit beginnt, über Amazon Marketplace Waren zu verkaufen.
Aber Wasel und sein Geschäftspartner Max Kronberg haben eben auch ganz am Anfang die Kunden persönlich angerufen, wenn irgendetwas nicht in Ordnung war. "Unser Ziel war, auf allen Plattformen eine hundertprozentige Kundenzufriedenheit zu erhalten. Kam einmal eine negative Bewertung, haben wir das Problem irgendwie gelöst", beschrieb Wasel die Anfangszeit.

Manches gibts halt nur durchs Internet

Kronberg und Wasel sind kw-Commerce, heute einer der erfolgreichsten Amazon-Händler, der unter anderem Elektronik-Produkte und Handy-Zubehör erfindet, in Asien produzieren lässt und via Amazon verkauft. Für Hagen Meischner ist kw-Commerce ein gutes Beispiel für den sich rasant veränderten Einzelhandel. "kw-Commerce ist ein Unternehmen, das nur durch das Internet entstehen konnte", sagt der Partner Manager Lead von Shopify, dem Cloud-Shopsystem für Onlinehändler. Meischner ist hier Ansprechpartner für Deutschland.
kw-Commerce-Gründer Wasel, Kronberg: Ohne das Internet nicht denkbar
© kw-Commerce
kw-Commerce-Gründer Wasel, Kronberg: Ohne das Internet nicht denkbar
Und das Internet wird eben klassische Handelsformate und -traditionen aufbrechen und überflüssig machen, heute schon, und morgen noch mehr. Denn der Vertriebsweg zum Kunden wird immer mehr ohne Umwege stattfinden, ohne Zwischenstopp über einen Distributor, also Händler. Warum auch nicht?

"Es wird auch in Zukunft noch Läden geben"

Dass der Branche deswegen die Totenglocken läuten, mag Meischner jedoch nicht bestätigen. "Es gibt kein Schwarz und Weiß. Denn es wird auch in Zukunft immer noch viele Leute geben, die gerne durch Läden bummeln."
Die Frage wird nur sein: Wie viele dieser Läden oder auch klassischen Online-Shops werden in ein paar Jahren noch gebraucht? Und wie wollen die Kunden überhaupt künftig einkaufen? Auf solche Fragen suchen zig Studien Antworten, auch die von GS1, die Experten für globale Technik-Standards, auch im Einzelhandel, die bis ins Jahr 2025 vorausschauen.

Wenn der Verbraucher die Welt nicht mehr versteht

"Der Shopper sieht sich 2025 einer enormen Komplexität gegenüber, nicht nur was neue Technologien und Prozesse angeht. Auch die große Produkt- und Preisvielfalt sowie die Daten- und Informationsflut verstärken das Gefühl von Unübersichtlichkeit, Orientierungslosigkeit und Intransparenz. Viele Konsumenten verstehen die Welt nicht mehr und wollen sie teilweise auch nicht mehr verstehen. Daraus resultiert ein starkes Bedürfnis nach Vertrauen und Orientierung. Wer beides bietet, hat gewonnen", heißt es.

Denn die Plattformen sind ja Fluch und Segen zugleich. Ein enormes Angebot, das jedoch auf den jeweiligen Konsumenten zugeschnitten werden muss. Je mehr der Kunde von Masse umgeben ist, umso mehr sehnt er sich nach Orientierung. "Es wird eine massive Verschiebung des Kaufverhaltens geben", sagt auch Hagen Meischner. "Der Kunde wird beispielsweise Kleidung suchen, die hochindividuell ist." 

Customizing überfordert den Handel

Customizing wird demnach das große Thema sein, also genau die Produktion von Waren, die der Kunde wünscht. "Und hier wird der klassische Handel nicht mehr hinterherkommen", sagt Shopify-Manager Meischner vorher. kw-Commerce macht es ja vor: Sie spüren Trends im Internet auf - und liefern die Produkte dazu. Wie wollen so etwas Karstadt, Kaufhof oder C&A schaffen? Mit Oderzyklen, bei denen Blusen bei den Herstellern ein Jahr im Voraus bestellt werden?

"Der Shopper 2025 erwartet mehr denn je, dass er genau das bekommt, was er möchte, und nicht nur das, was gerade angeboten wird. Und zwar genau dann, wenn es in sein Zeitmanagement passt. Darüber hinaus versucht er, die Balance zu halten zwischen seinen Bedürfnissen einerseits und den – auch finanziellen – Möglichkeiten andererseits", heißt es bei GS1.

Amazon ist zuständig für die Pflicht, nicht für die Kür

Daraus erwächst ein zweigleisiges Einkaufsverhalten. Es gibt die einfache, schnelle Bedarfsdecke - und dafür wird Amazon zuständig sein. Amazon ist der Funktionskönig. Man bekommt alles und auch noch zackig geliefert. GS1 erwartet zudem Abo-Dienste, bei denen eine automatisierte Grundversorgung zeitraubende Einkäufe ersetzt.

Was Amazon und Automaten nicht können: Einkaufserlebnis und Individualität schaffen. Das ist die Chance für andere Destinationen - stationär wie online. Oder für kluges Social-Media-Marketing. In den Vereinigten Staaten erfolgen mittlerweile 76 Prozent der Käufe von Markenartikeln nach dem die Konsumenten Posts in einem Sozialen Netzwerk gesehen haben, sagt Hagen Meischner.

Social Media als Kaufanreizgeber

Je mehr sich direkte Kaufmöglichkeiten bei Facebook und Instagram durchsetzen, wird sich dieser Trend auch verstärken. In Deutschland dürfte diese Lawine auch noch ins Rollen kommen - spätestens, wenn die Generation Z, also die heutigen Teenager, das konsumrelevante Alter erlangt.

Händler, die heute immer noch nicht oder nur zurückhaltend auf Facebook und vor allem Instagram unterwegs sind, sollten also handeln. Denn irgendwann sind sie nicht mehr sichtbar und von Bedeutung. Denn in der Zukunft gilt noch mehr, als heute: der Kunde ist nicht mehr treu. Immer brav in seinem Stammladen einkaufen - so ein Verhalten wird aus der Mode kommen. "Die klassische Markenloyalität gibt es nicht mehr", sagt Hagen Meischner vorher, "es muss jeden Tag aufs Neue um den Kunden gekämpft werden".

Immer, alles, sofort, bequem, preiswert. Sonst noch was?

Der Shopper 2025 hat ein dominierendes "Mindset", schreibt GS1: "Immer – alles – sofort – bequem – preiswert – State-of-the-Art! Wer diesem Anspruch nicht gerecht wird, erhält die Höchststrafe. Der Shopper wählt einen anderen Anbieter, kann er doch überall rund um die Uhr auf eine enorme Angebotsvielfalt, auf Preisvergleichsportale und international vernetzte Marktplätze zurückgreifen."

Womit wir wieder bei den Sozialen Netzwerken sind, wo dieser Kampf ausgetragen und gewonnen und verloren wird. Denn es geht um Interaktion mit den Kunden, um Austausch, um Aufnehmen von Wünschen und deren schneller Befriedigung. Wenn sich der Übermoden-Händler Sheego heute Kundinnen für Workshops in die Hanauer Zentrale holt, um zu ergründen, was im Sortiment gefällt oder künftig gewünscht wird, dann gehört so etwas allerdings auch dazu. 

Shopify-Manager Meischner: "Die klassische Markenloyalität gibt es nicht mehr."
© Shopify
Shopify-Manager Meischner: "Die klassische Markenloyalität gibt es nicht mehr."

Auch die Marken müssen lernen, dass niemand mehr treu ist

Doch wenn es heißt, "Direct-to-consumer" hat enorme Chancen, dann schreibt sich das leicht daher. "Die Marken tun sich vielmehr noch schwer damit", weiß Hagen Meischner. Denn Produzieren ist das eine, es aber auch an den Kunden zu bringen, ist das andere. Eben weil alles flüchtig wird, müssen die Marken noch lernen, dass sie keine Vollkaskoversicherung mehr haben, damit ihnen die Kunden immer brav ihr Sortiment abkaufen.

Was passiert, wenn eine Marke das D2C-Geschäft nicht so gut beherrscht wie andere, zeigt das Beispiel Gillette. Die Rasierklinge hatte in den Vereinigten Staaten im Jahr 2010 noch einen Marktanteil von 70 Prozent. Doch als 2011 der Dollar Shave Club und 2013 Harry‘s mit ihren Rasierklingen in Konkurrenz traten, sank der Stern von Gillette: Schon 2016 lagt der Marktanteil bei nur noch 56 Prozent.

Das neue Kaufverhalten der Kunden verlangt eben von Herstellern mehr Tempo sowie neue, flache Strukturen. "Diese ersetzen zunehmend klassische Hierarchien. Sie erlauben es den Unternehmen, schneller und flexibler zu reagieren und die Stärken ihrer Mitarbeiter besser zu nutzen", erwartet GS1. Wer nicht agil ist und immer noch den alten Berichtswegen traut, wird vom Markt abgehängt. Und das kann man getrost auch auf Handelsbetriebe übertragen. 

Der Tod der vielen Flächen

Was das System "Direct-to-Consumer" noch mit sich bringen dürfte: Es macht Läden überflüssig. Jedem deutschen Konsumenten standen im Jahr 2017 durchschnittlich 1,44 Quadratmeter Einkaufsfläche zur Verfügung, wie der Handelsverband Deutschland (HDE) ermittelt hat, nur Belgien (1,67 Quadratmeter), Österreich (1,66) die Niederlande (1,59) und die Schweiz (1,50) hatten geringfügig mehr.

Dieses Überangebot wird sich rächen. Einstige Expansionsmaschinen wie der Modehändler Gerry Weber merken das jetzt schon und haben Insolvenz angemeldet, die Baumärkte werden alsbald ihre gewaltigen Verkaufshallen teilweise anderweitig nutzen müssen, für die Flächengiganten der Möbelbranche gilt das ebenso. Und die Warenhäuser Karstadt und Kaufhof werden sowieso schrumpfen. Diese Ankerhändler aus der alten Zeit werden nämlich ihrer traditionellen Funktion als Mittelsmänner zwischen Hersteller und Kunden entraubt.

Eine Marke hat alles in der Hand

"Das System 'Direct to Consumer' bietet völlig neue Möglichkeiten", lautet die Einschätzung von Hagen Meischner. Eine Marke hat es künftig in der Hand, den gesamten Prozess von Entwicklung, von Produktion über Vermarktung und Verkauf zu kontrollieren. Sie ist nicht mehr abhängig davon, welche Präsentationsflächen oder Einkaufskonditionen ihr ein Handelshaus bietet.

Im Fußball ist der direkte Weg zum Tor meist der beste. Und für den Konsum gilt dieses System ebenso. Direkt zum Verbraucher, wird es heißen. Für Händler wird es herausfordernd werden, hier mithalten zu können.

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