In wirtschaftlich angespannten Zeiten schlägt der Preis das Gewissen. Ein Grund, warum Shein 2023 seinen Siegeszug fortsetzen wird. Aber nicht nur chinesische Billiganbieter haben dieses Jahr gute Perspektiven – auch für den klassischen Mittelstand tun sich Chancen auf, sagt Alexander Graf. Und der CEO von Spryker ist überzeugt: Auch im E-Commerce wird generative künstliche Intelligenz zum Gamechanger.
Konsum gewinnt, Nachhaltigkeit verliert
Angeblich ein bis zwei Milliarden Euro hat der chinesische Billigfashion-Anbieter Shein im vergangenen Jahr in Deutschland umgesetzt. Schätzungen zufolge könnte der Umsatz 2023 hierzulande auf bis zu 3,5 Milliarden Euro anwachsen. Der Erfolg von Shein zeigt: Die angeblich so umweltbewussten Deutschen bestellen ohne Rücksicht auf Produktionsbedingungen, CO2-Ausstoß und Logistikaufwände extrem günstige Waren aus China.Im Zweifel schlägt der Preis das Gewissen – besonders in Zeiten von Rezession und Inflation. Weil immer mehr Leute genauer aufs Geld schauen müssen, wird sich der Trend in diesem Jahr sogar noch verstärken. E-Commerce-Player, die sich über die günstigsten Angebote definieren, werden 2023 die großen Gewinner sein.

Shein setzt den Siegeszug fort
Zalando, Zara & Co. sahen schon 2022 gegen Shein alt aus. Das wird so bleiben. Das Erfolgsrezept von Shein ist die extrem tiefe Integration mit den Produzenten und Fabriken. Shein hat kein eigenes Inventar und geht somit nicht selbst ins Warenrisiko. Stattdessen werden täglich neue Artikel in Kleinstmengen im Markt verprobt: Verkauft sich ein Teil, werden sofort größere Mengen nachproduziert.Auf Trends wird sofort reagiert: Innerhalb von wenigen Tagen schafft es ein Entwurf in den Online-Store. Shein setzt dabei auf einen Mobile-only-Ansatz (abgesehen von einigen Pop-up-Stores) und auf die Bedeutung von Social Media für die Gen Z: Bei TikTok hat der Hashtag #Shein etwa 50 Milliarden (!) Views. Ein vertikales Konzept schlägt die Marktplätze – das hätte noch vor wenigen Jahren niemand gedacht.
Der Mittelstand holt auf
2023 wird das Technologie-Jahr des Mittelstands - wenn er folgende Chance nutzt: Zahlreiche Digitalunternehmen haben zuletzt Leute entlassen: Globale Tech-Flaggschiffe wie Amazon oder Salesforce haben mehreren tausend Angestellten gekündigt, in Deutschland wurden in Unternehmen wie Gorillas, Delivery Hero oder Tier im jeweils dreistelligen Bereich Jobs gestrichen.Damit sind vom Entwickler bis zur Projektmanagerin plötzlich zahlreiche gut ausgebildete Digitalspezialisten auf dem Arbeitsmarkt verfügbar, die sich bisher nur innerhalb der Tech-Bubble bewegt haben. Das ist die Chance für finanziell stabil aufgestellte Mittelständler, diese Leute mit dem Versprechen von Sicherheit und ambitionierten Projekten für sich zu gewinnen und endlich die lange vernachlässigten Digitalkompetenzen aufzubauen.
Das Jahr des DIY
Es wird weiter konsumiert, aber preisbewusster: Do-It-Yourself (DIY) wird angesichts der angespannten wirtschaftlichen Lage das Credo vieler Menschen sein. Schon in der Pandemie entdeckten viele Menschen den Reiz des Selbermachens für sich. Im Jahr 2023 tun sie das nicht nur aus Spaß, sondern auch aus Kosten-Rationalität. Anstatt eine neue Küche zu kaufen, kauft man neue Küchen-Farbe – und streicht selbst. Handwerker-Termine kriegt man ja ohnehin nicht.Abholstation statt Paket nach Hause
Ob Versand oder Retouren – wir werden für viele Dinge, die bisher kostenlos waren, künftig Geld zahlen müssen. Denn der E-Commerce erreicht 2023 eine Phase, in der wegen sinkenden Konkurrenzdrucks erstmals ein weniger intensiver Kunden-Gewinnungswettbewerb herrscht.Damit sind Unternehmen in der Lage, ihre Fulfillment-Kosten an die Kunden durchzureichen. Und wir werden deutlich variablere Versandkosten sehen. Weil die Lieferanten für die letzte Meile fehlen, werden Kunden günstigere Optionen bekommen, wenn sie bereit sind, sich das Paket selbst von einer Station abzuholen.
Amazon Retail wird schwächer
Das bereits geschilderte Innovationsdilemma von Amazon tritt 2023 noch mehr zu Tage. Führende Retail-Manager haben das sinkende Schiff bereits verlassen und sind konzernintern zur Cloudsparte AWS gewechselt oder haben dem Unternehmen gleich komplett den Rücken gekehrt. Amazon wird im Kerngeschäft weiter schwächeln – und technisch von kleineren, agileren Playern abgehängt.
Generative AI ist das neue SEO
Der auf künstlicher Intelligenz basierende Chatbot ChatGPT ist in aller Munde. Zu recht. Denn das Disruptionspotenzial der zugrunde liegenden Technologie ist enorm, auch für den E-Commerce. Den Unternehmen, die diese KI schnell in Produkte und Use-Cases integrieren, winkt eine Pionier-Rendite.Es verhält sich ähnlich wie Anfang der 2000er beim Aufschwung von Google, als diejenigen, die als erste SEO verstanden hatten, der Konkurrenz davonziehen konnten. Bei generativer künstlicher Intelligenz werden wir dasselbe erleben. Sie ist ein Gamechanger.
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