Inflation, Zinserhöhungen und ein Aktienmarkt, der verrückt spielt: Was bedeutet das für Geschäftsmodelle im E-Commerce? Gastautor Christian Maaß, Geschäftsführer bei Thomann Music, erklärt, was Onlinehändler krisenresistent macht, und sagt, warum Aktienkurse dabei nur bedingt als Indikator taugen.

Die EZB hat im September die größte Zinserhöhung seit der Einführung des Euros beschlossen. Die Inflationsraten befinden sich auf Rekordniveau, und der Aktienmarkt spielt bereits seit Jahresbeginn verrückt. Anders als in der jüngeren Vergangenheit trifft es nun auch Tech-Werte hart. Doch was genau bedeuten diese Entwicklungen für Handelsmodelle im E-Commerce?

Die Beantwortung dieser Frage ist grundsätzlich nicht schwer. Geschäftsmodelle im Onlinehandel sind immer dann mit hoher Wahrscheinlichkeit krisenresistent, wenn möglichst viele der folgenden Indikatoren zutreffen:

  • Skaleneffekte: Im Einkauf und der Logistik lassen sich Skalierungsvorteile realisieren.
  • Substituierbarkeit: Das Leistungs-/Serviceangebot lässt sich nicht ohne Weiteres in einem Laden um die Ecke erwerben oder online substituieren.
  • Marktstruktur: Das Unternehmen agiert in einer oligopolistischen oder gar monopolistischen Marktstruktur.
Ob ein Geschäftsmodell Stürmen und hohem Wellengang standhält, hängt von einer Reihe von Faktoren ab.
© IMAGO / Ikon Images
Ob ein Geschäftsmodell Stürmen und hohem Wellengang standhält, hängt von einer Reihe von Faktoren ab.

Beispiel Zalando

Zu welchen Einsichten gelangt man nun, wenn man diese Kriterien auf bekannte Unternehmen anwendet? Starten wir z. B. mit Zalando. Der Kurs des Unternehmens hat seit Jahresbeginn fast 70% nachgegeben, weshalb einige Stimmen bereits mit einem Abstieg aus dem DAX rechnen. Ist es wirklich so schlimm um das Unternehmen bestellt?

Starten wir mit dem Kriterium Nummer Eins, den Skaleneffekten. Alleine aufgrund des Umsatzes von 10,35 Mrd. Euro im Geschäftsjahr 2021 liegt es nahe, solche Größenvorteile zu unterstellen. Die Größe alleine ist aber keine hinreichende Bedingung. Ebenso wichtig ist die Fähigkeit, die Bereiche Einkauf und Logistik datengetrieben zu optimieren, um einen klassischen Trade-off im Distanzhandel in den Griff zu bekommen: So gilt es einerseits die Lieferfähigkeit sicherzustellen und andererseits die Lagerkosten zu reduzieren.
Im Handel ist es nicht ungewöhnlich, dass viele Unternehmen vor allem deshalb in Schieflage geraten, weil sie entweder nicht lieferfähig sind oder die falsche Ware im Lager haben. Zalando hat im Hinblick auf die datengetriebene Optimierung als eine der größten Tech-Plattformen in Europa zweifelsohne einen Vorteil, um diesen Trade-off zu optimieren und Skaleneffekte zu realisieren.

Sortimentsvielfalt ist schwer ersetzbar

Kommen wir zum Kriterium Nummer Zwei, der Substituierbarkeit. Der Markt für Fashion ist auf den ersten Blick fragmentiert. Nach wie vor gibt es den Laden "um die Ecke", bei dem man theoretisch auch Schuhe und T-Shirts erhält.

Rein praktisch können diese Anbieter jedoch nicht eine vergleichbare Sortimentsvielfalt wie eine Plattform bieten. Letztendlich ist Kleidung auch ein Ausdruck der Individualität, d. h. fast niemand von uns kauft ein T-Shirt um die Ecke, um einfach nur ein T-Shirt zu erwerben.
Zalando-Logistikzentrum: Der Modehändler profitiert in der Krise von Größenvorteilen und Skaleneffekten.
© Zalando
Zalando-Logistikzentrum: Der Modehändler profitiert in der Krise von Größenvorteilen und Skaleneffekten.
Führt man sich weiterhin vor Augen, dass in Asien bereits heute über 70% der Fashion-Umsätze online erzielt werden und auch in Deutschland mittelfristig ein Onlineanteil von 50% zu erwarten ist, dann dürfte alleine schon der Faktor Zeit dem Unternehmen in die Hände spielen. Insofern kann man durchaus eine Marktstruktur konstatieren, die Zalando zumindest keine Nachteile bereitet.

Beispiel Gorillas

Werfen wir nun einen Blick auf den Schnelllieferdienst Gorillas, der in einem  herausfordernden Marktumfeld agiert: In fast keinem Land ist die Supermarktdichte so hoch wie in Deutschland, und eine Milch gibt es bis Mitternacht auch beim Späti um die Ecke. Die Substituierbarkeit des Sortiments ist damit grundsätzlich hoch.

Vergleicht man den vermuteten 300-Millionen-Euro-Umsatz von Gorillas mit dem der einschlägig bekannten Supermarktriesen, dann sind auch Skalierungsvorteile im Einkauf kurzfristig nur schwer realisierbar; Edeka und Rewe erwirtschafteten 2021 einen Umsatz von 62,7 Mrd. bzw. 76,5 Mrd. Euro.

Logistik ist die große Herausforderung

Die Nuss, die es im Online-Lebensmittelhandel zu knacken gilt, ist aber im Bereich Logistik zu sehen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf das Wertversprechen des Unternehmens, innerhalb von zehn Minuten zu liefern: Ein Fahrer kann nicht einfach ein paar Minuten warten, um etwaige weitere Bestellungen mitzunehmen.

Alleine schon aus körperlichen Gründen ist es auch nicht möglich, einem Fahrradkurier die Wocheneinkäufe mehrerer Haushalte auf den Rücken zu schnallen; die Arbeitsbedingungen bei den Lieferdiensten sorgen ohnehin regelmäßig für Zündstoff.

Schlussendlich konkurrieren im Mindestlohnbereich fast alle Unternehmen um Arbeitskräfte, sogar Amazon hat hier Probleme. Summa summarum fällt die Bewertung aufgrund der herangezogenen Kriterien somit mau aus.
Gorillas-Fahrer: Wie der Schnelllieferdienst durch die Krise kommt, wird auch davon abhängen, ob es gelingt, den durchschnittlichen Bestellwert zu steigern.
© IMAGO / Michael Gstettenbauer
Gorillas-Fahrer: Wie der Schnelllieferdienst durch die Krise kommt, wird auch davon abhängen, ob es gelingt, den durchschnittlichen Bestellwert zu steigern.

Hoffnung auf Synergien und größere Warenkörbe

Diese Überlegungen müssen theoretisch auch Investoren (z. B. Delivery Hero) angestellt haben, als sie in den Schnelllieferdienst investierten. Woran muss man eigentlich glauben, damit man solche Investments tätigt? Theoretisch kann man auf Synergien hoffen, die praktisch aber in den seltensten Fällen vollumfänglich realisiert werden. An der Marktstruktur wird sich zeitnah auch nicht viel ändern.

Wenn das stimmt, dann muss man als Investor daran glauben, dass (a) das Marktpotenzial ungeachtet der Risiken ungeheuerlich groß ist - was im Bereich Lebensmittel zweifelsohne der Fall ist - und (b) dass der durchschnittliche Bestellwert von 20,50 Euro deutlich gesteigert werden kann, um eine Auslieferung mindestens kostendeckend abzuwickeln.

Gorillas selbst visiert hier eine Zielmarke von etwa 30 Euro an. Ob man dann profitabel arbeiten kann, hängt wiederum davon ab, inwieweit die einzelnen Standorte optimal ausgelastet und lieferfähig sind.

Fazit

Es ist im Grunde sehr leicht, die Robustheit von Geschäftsmodellen im E-Commerce anhand weniger Kriterien zu hinterfragen. Unternehmen wie Zalando stehen am Aktienmarkt scheinbar unter Druck. Aufgrund obiger Indikatoren sieht die Zukunft des Unternehmens jedoch besser aus, als es der Kurs auf den ersten Blick vermuten lässt.

Die gleichen Indikatoren führen zu grundlegenden Fragen bei anderen Unternehmen. Natürlich sind dies nur drei Indikatoren und wir dürfen auch nicht vergessen, dass in Zeiten der Krise Cash bekanntlich nicht nur King, sondern die gesamte Royal Family zusammen ist.

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