2019 wird ISDN abgeklemmt. Der Modefilialist Liberty hat seine Infrastruktur frühzeitig umgestellt. Wer All-IP bisher verschlafen hat, für den wird es allerdings heikel. Denn gerade im Handel laufen viele Sonderanwendungen über das alte Telefonnetz.
„Alte Technik macht der neuen Platz“, hieß es im Jahr 1992 in einem Werbefilm über das Integrierte Sprach- und Datennetz, kurz ISDN. Und so wird es auch Ende dieses Jahres sein, wenn die Telekom das ISDN-Netz nach fast 30 Jahren endgültig abschaltet und ausschließlich auf „All-IP“ setzt.
Bye-bye, ISDN
1989 konnte sich kein Mensch unter „Integrated Services Digital Network“ etwas vorstellen. Doch im Nachhinein weiß man, dass mit ISDN die digitale Kommunikation, so wie wir sie heute kennen, begonnen hat. Denn es wuchsen Geräte zusammen, die vorher nicht miteinander kommunizieren konnten. „Alle modernen Telefone, Telefaxgeräte und Computer sprechen die gleiche digitale Sprache“, schwärmte ein Werbefilm aus dem Jahr 1992 und versprach „Computern via Datenleitung, Telefonieren und Faxen superschnell“. Es gab sogar schon ein Bildtelefon. Fortan konnte man gleichzeitig telefonieren, faxen oder auf zwei Leitungen sprechen. Das Telefonieren wurde bequem, dank einem Anrufbeantworter im Netz, Rufnummernanzeige, Anklopfen, Makeln, Weiterschalten oder Konferenzen mit bis zu drei Teilnehmern. Zudem konnte man gleichzeitig telefonieren und im Internet surfen, und das auch noch viel schneller als mit dem piepsenden Modem: Statt 14,4 oder 28,8 Kilobit pro Sekunde (kbit/s) schaffte ISDN 64 kbit/s oder dank Kanalbündelung sogar damals in den 1990ern rasant schnelle 128 Kilobit. Heute reichen die Übertragungsgeschwindigkeiten für Breitband-Internet von 2000 kbit/s bis mehr als 100.000 Kilobit.
Die Telekom stellt die bisherigen Übertragungstechniken in Telekommunikationsnetzen auf die Basis des Internet-Protokolls (IP) um. Dienste wie Telefonie, Fernsehen und Mobilfunk werden somit ab dem 1. Januar 2019 nicht mehr über die klassischen Leitungen übertragen, sondern mithilfe des in Computer-Netzen weitverbreitenden Netzwerkprotokolls bereitgestellt. Da andere Anbieter die „letzte Meile“ bei der Telekom mieten, sind alle Unternehmen in Deutschland von der ISDN-Abschaltung betroffen. Der Übergang zu All-IP ist also „alternativlos“.
Modefilialist Liberty wollte alte Telefonanlage behalten
„Wir wurden 2015 von der Deutschen Telekom darüber informiert, dass im Jahr darauf 51 unserer mehr als 100 Filialen von ISDN-Telefonanschlüssen auf IP-basierte Anschlüsse umgestellt würden“, berichtet Klaus Klostermann, IT-Leiter bei der Liberty Damenmoden GmbH mit Sitz im ostwestfälischen Lübbecke. Also setzte sich der Modefilialist intensiv mit dem Thema All-IP auseinander.
Die bestehende Telefonie-Infrastruktur aus ISDN-Telefonanlage, Fax-Gerät und analogem Telefon sollte weiter genutzt werden. „Uns wurde schnell klar, dass wir die bisherigen Router in den Filialen ersetzen mussten. Nur so konnten wir eine Kompatibilität mit den All-IP-Anschlüssen gewährleisten und gleichzeitig die bestehenden Telefonanlagen und Fax-Geräte weiter nutzen.“
Der IT-Leiter entschied sich für die VPN-Router des Netzwerkspezialisten Lancom Systems, die Betreuung des Filialisten übernahm die Sievers-Group aus Osnabrück. Im Vorfeld der All-IP-Umstellung wurden in den Filialen die neuen Router implementiert. Bis zu dem Tag, an dem der Provider die Umstellung von ISDN auf IP veranlasste, liefen die Telefonanlagen und Fax-Geräte über den bisherigen ISDN-Anschluss. „Am Tag X haben wir von der Zentrale aus die neuen Zugangsdaten für den IP-Anschluss eingepflegt. In den Filialen wurde die ISDN-Telekommunikationsanlage über den ISDN-Port des Routers angebunden“, erläutert Klostermann. „Das lief frei von Störungen ab und funktioniert bis heute einwandfrei.“
Kassen und Warenwirtschaft über den Router angebunden
Neben den ISDN-Telefonanlagen und Fax-Geräten sind – wie in vielen Handelsunternehmen – auch die Kassensysteme in den Filialen an die Router angeschlossen. Über das Netzwerk werden beispielsweise aktuelle Umsatzdaten an die Zentrale gesendet und Bestandszahlen mit dem Warenwirtschaftssystem abgeglichen. „Die Kassensysteme hatten wir schon vorher über Router angebunden. Hier konnten wir problemlos auf die neuen Modelle wechseln“, so Klostermann.
© Lancom Systems
Erfahrungen mit der Umstellung
Der „normale Internetverkehr“ läuft ebenfalls über den Router, die Mitarbeiter in den Filialen greifen darüber auf das Intranet und das Unternehmensnetz der Liberty Damenmoden zu. Der gesamte Datenverkehr läuft am Hauptsitz in Lübbecke zusammen; dort steht ein VPN-Gateway, ein Vermittlungsgerät für das virtuelle private Kommunikationsnetz, als Gegenstelle.
IP-Netz bringt administrative Vorteile mit sich
Durch die neuen sprachfähigen Voice-over-IP- (VoIP)-Router konnte der Mode-Filialist die Telefonanschlüsse internetfähig machen. „Die Router haben uns die zusätzlichen Kosten für neue Telefonanlagen erspart“, sagt Klostermann. „Das wäre bei rund 100 Standorten ein erheblicher Kostenfaktor geworden.“
So ein IP-Netz bringt seiner Erfahrung nach außerdem administrative Vorteile mit sich: Im Falle eines Falles kann ein Techniker in der Zentrale über den Router direkt die Funktion der Telefonanlage prüfen und Störungen eingrenzen oder beheben. „Unsere restlichen mehr als 50 Filialen haben wir ebenfalls im Laufe des Jahres umgestellt. Aufgrund der guten Erfahrungen konnten wir dem Wechsel dort gelassen entgegenblicken“, berichtet Klostermann.
„Viele Sonderanwendungen im Handel laufen über ISDN“
© Telefónica
Herr Günther, wie schlimm ist es, wenn ein Händler die ISDN-Abschaltung bisher ignoriert hat?
Das kann für den Händler eine böse Überraschung bedeuten, weil eine telefonische Erreichbarkeit wichtig ist. Gerade im Handel hängen oft viele Sonderanwendungen an der ISDN-Telefonleitung, wie etwa Warenwirtschaftssysteme, Kassen, Alarmanlagen, Brandmelder oder Aufzüge. Also viele Anwendungen, die man heute nicht mehr über die Telefonanlagen, sondern über das Internet leiten würde.
Was kann ein Händler jetzt noch machen, wenn er die Umstellung auf All-IP bisher verschlafen hat?
Es könnte durchaus schwierig und kostspielig werden, denn die meisten technischen Dienstleister sind zurzeit gut ausgebucht. Aus diesem Grund sind aktuell auch die angebotenen Preise oft höher. In Bezug auf Verfügbarkeit und Preis gilt übrigens Ähnliches für erforderliches technisches Gerät.
Also ist es hoffnungslos?
Nein, in dieser Situation raten wir Betroffenen bei der Umstellung auf All-IP zu einem Zwischenschritt unter Beibehaltung der bisherigen ISDN-Telefonanlage. Dies bedeutet: Um auch nach der Netzumstellung die vorhandene ISDN-Anlage weiter betreiben zu können, benötigen Händler einen speziellen, von Telefonanbietern oft kostenlos mitgelieferten Voice-Router, der die benötigte Zahl von ISDN-Schnittstellen bietet und als Übersetzer in das moderne Next-Generation-Network dient.
Diese Variante ermöglicht einen schrittweisen Umstieg auf IP, zu dem wir grundsätzlich raten. Händler verschaffen sich so ein bisschen Zeit und können teure Investitionen zumindest aufschieben. Aber auch in diesem Fall raten wir Händlern dringend, die Funktionsfähigkeit der erwähnten Sonderanwendungen von den jeweiligen Dienstleistern prüfen zu lassen. Nicht in jedem Fall lassen sich nämlich Umstellungen auf modernere, IP-fähige Systeme vermeiden.
Arne Günther ist Senior Product Manager B2B bei Telefónica Deutschland.
MEHR ZUM THEMA
© Der Handel/Christoph Seelbach
Telekommunikation
„Digitalisierung fängt klein an“
T-Systems-Geschäftsführer Patrick Molck-Ude über Hightech in den Läden, neue Herausforderungen für stationäre Händler und zeitgemäße Kundenansprache. Mehr lesen
© NCR
Zahlsysteme
Alte Kassen, neue Funktionen
Viele Händler wollen ihre Kassensysteme erneuern. Denn die bestehenden sind angesichts neuer Technologien sich ändernder Bezahlgewohnheiten nicht flexibel genug, zeigt die aktuelle Kassenstudie des EHI. Mehr lesen
© Siegfried Fries / pixelio.de
Technik
ERP – so bleibt Digitalisierung des Handels nicht nur ein Wort
Digitalisierung hängt auch von Software ab. Eine Sonderrolle nimmt ein System ein, mit dem Handelsunternehmen das Geschäft steuern und einfach besser planen. Mehr lesen