Picnic, Farmy, Miacar und Co. Gerade beim Thema Lebensmittel online laufen zumindest medial junge, dynamische und in agilen MVP Strukturen denkende Startups mehr und mehr den großen Playern den Rang ab. Fernab der in den Medien oft zitierten Konzepten des „Milchmanns“ oder „Duttis Verkaufswagen 2.0“ erprobt die Genossenschaft Migros Aare in Bern mit einem kleinen Team ein vollkommen konträres Konzept, das nicht nur auf den ersten Blick großes Potential birgt, den Kunden das Online-Einkaufen durch echte Convenience schmackhafter zu machen.
Der Schlüssel hierzu heißt nicht nur „keine Wocheneinkäufe schleppen“, sondern „Personalisierung“: Produkte, die die Kunden regelmässig kaufen, werden in Kategorien für den Kunden nach für ihn absteigender Relevanz geordnet angezeigt. Das restliche Supermarktsortiment ist über die Suche verfügbar. Damit kommt ein neuer Faktor ins Spiel: „Convenience“ beim Bestellen. Grund genug, dieses spannende Konzept einmal genauer anzuschauen.
Die Anfänge – von der handverlesenen "Closed User Group" zum offenen Pilotprojekt
Die Idee zum heutigen myMigros reicht bis ins Jahr 2018 zurück. Ursprünglich wollte man zum Austesten neuer E-Business-Geschäftsmodelle ein Windel-Abomodell kreieren. Innerhalb der Evaluationsphase der Geschäftsidee in Interviews mit jungen Familien merkte man jedoch recht schnell, dass sich der Bedarf nicht nur auf „Bulky Products“ oder baby-nahe Kategorien konzentrierte, sondern das Bedürfnis ebenfalls Lebensmittel und sogar den gesamten Wocheneinkauf miteinschliesst.
Über den Autor
Matthias Schu ist seit 2011 im Bereich E-Commerce, Digital Business, Projektmanagement und Beratung tätig mit den Schwerpunkten Internationalisierung im Onlinehandel, Marktplätze sowie E-Food. Nach verschiedenen Positionen in E-Commerce, Logistik und Detailhandel/Einzelhandel im In- und Ausland, unter anderem bei
coop@home, Praktiker Deutschland und den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) arbeitet Schu hauptberuflich als Portfolio-Manager bei einem Schweizer Omnichannelhändler. Zudem ist er privat als Buchautor ("Online Growth Options for Retailers") und Keynote-Speaker tätig und teilt sein Wissen in diversen Fachgremien, wie der Fachgruppe Digital Commerce von GS1 Schweiz.
Webseite:
www.matthiasschu.ch
© Schu
Die Idee zu myMigros war geboren. Ziel war es jedoch nicht, noch ein weiterer Onlinesupermarkt zu sein, sondern sich klar mit einem weiteren Mehrwert für den Kunden von bestehenden Angeboten zu differenzieren. Dieser Mehrwert heißt Personalisierung; basierend auf den Supermarkt-Einkäufen der Kunden, die am Cumulus Kundenbindungsprogramm der Migros teilnehmen.
Morning Briefing
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Nach kurzer konzeptioneller Vorphase startete im August 2018 myMigros unter dem Radar mit einer Closed User Group von 200 handverlesenen Cumulus-Kunden in der Stadt Bern als Lean Startup im MVP. Über die Hälfte der Erstbesteller dieser Testgruppe nutzte den Online-Supermarkt erneut, ohne dass dem Kunden mit Marketinggeld weitergehende Anreize geboten wurden.
© myMigros
Lean Startup- Arbeit bei myMigros
Das angedachte Nutzerversprechen „Ihre Produkte, schnell & einfach bestellt, flexibel & günstig geliefert“ konnte in der Testphase in qualitativen Interviews mit Kunden bestätigt werden. Auch heute werden die Kunden mit regelmäßigen Feedbackloops in die Weiterentwicklung stark eingebunden und nach Wünschen, Meinungen und Verbesserungsmöglichkeiten vom myMigros Team befragt.
Ein Ergebnis dieser Befragung ist die bereits umgesetzte Synchronisation des Warenkorbs zwischen verschiedenen Endgeräten oder verschiedene kleinere Anpassungen bei der User Experience. Gerade die Warenkorbsynchronisation macht damit die klassischen Einkaufs- und Merklisten, wie sie bei anderen Anbietern immer noch vorherrschen, obsolet.
Etailment Expertenrat
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Damit wird vor allem auch einem geänderten Nutzerverhalten Rechnung getragen, das nicht nur auf die blosse Ansammlung von Features abzielt, sondern vor allem versucht, dem Kunden einen durchgängigen, schnellen und einfachen Einkaufsprozess zu bieten. Zudem lassen sich problemlos mehrere Lieferadressen eingeben und verwalten, falls der Kunde seine Einkäufe z.B. einmal ins Büro bestellen möchte oder für die Großeltern einkauft.
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Im September 2019 wurde dann myMigros für alle Kundinnen und Kunden in der Hauptstadt Bern und der umliegenden Agglomeration geöffnet.
Der personalisierte Supermarkt – Convenience schon beim Bestellvorgang als Differenzierungskriterium
Das wohl stärkste Argument für die Nutzung von myMigros heißt vollständige Personalisierung der angezeigten Produkte. Die Grundlage hierfür bilden die Cumulus Daten der einkaufenden Kunden. Basierend auf den sowohl stationär- als auch online gesammelten Cumulus Daten der letzten 12 Monate werden dem Kunden in absteigender Reihenfolge die von ihm am häufigsten gekauften Produkte immer zuerst angezeigt. Diesem Vorgehen liegt die These zu Grunde, dass Kunden zu 80 % die gleichen Artikel regelmäßig beim Wocheneinkauf in den Warenkorb legen.
Das Resultat dieser Idee: Die Kunden werden befähigt, Ihre Online-Einkäufe einfacher und bedeutend schneller zu erledigen als in herkömmlichen Shops. Die Herausforderung für myMigros besteht jedoch darin, diese Value Proposition vor dem ersten Ausprobieren zum Kunden zu transportieren, da sie für Nicht-Nutzer von Angeboten des Lebensmittelonlinehandels mangels Erfahrung noch nicht sehr greifbar scheint.
© myMigros
Personalisierter Shop bei myMigros
Hier behilft sich myMigros mit weiteren Werteargumenten wie bspw. eine Fülle von einstündigen, frei wählbaren Lieferzeitfenstern, die von Montag bis Samstag über den Tag verteilt sind, oder dem grossen Supermarktsortiment von rund 20'000 Artikeln, die dem Kunden zur Verfügung stehen. Zudem sind auch regionale Produkte des Labels „Aus der Region. Für die Region.“ bestellbar. Lediglich Tiefkühlprodukte, Thekenprodukte und Bekleidung werden aktuell bei myMigros nicht angeboten.
Fulfillment – mit Filialpicking und kurzen Cutoff-Zeiten nah am Kunden
Beim Thema Fulfillment setzt myMigros im Gegensatz zu den großen Schweizer Wettbewerbern auf einen Filialpicking-Ansatz, wie ihn in den USA bspw. auch Shipt oder Instacart betreiben und der in der Schweiz eher unüblich ist. Jedoch mit dem Unterschied, dass die Filiale ebenfalls zur Migros Genossenschaft Aare gehört.
Gepickt und verpackt wird in der MMM Filiale Shoppyland Schönbühl vor den Toren Berns, die mit rund 6’150 Quadratmetern die grösste Filiale der Migros Aare darstellt.
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Kommissionierprozess bei myMigros
In Abhängigkeit des vom Kunden gewählten Lieferzeitfensters wird in 3 Zeitfenstern gepickt und zum Auslieferungs-Hub des Logistikpartners Notime, der zur Schweizerischen Post gehört, in der Stadt Bern transportiert. Die verfügbaren, einstündigen Lieferslots sind dabei vom Kunden zwischen 10 und 14 Uhr am Morgen sowie zwischen 16 und 21 Uhr am Abend frei wählbar. Zudem bietet myMigros Lieferungen am selben Tag an: Sofern die Bestellung bis um 6 Uhr morgens eingegangen ist, kann ab 10 Uhr ausgeliefert werden. Bestellungen, die bis 11 Uhr eingegangen sind, werden ab 17 Uhr ausgeliefert. Gepickt wird am Tag der Auslieferung, um größtmögliche Frische zu garantieren.
Die Auslieferung erfolgt dann mittels E-Cargo Bike oder Elektroauto des Logistikpartners Notime aus dessen Verteilhub innerhalb des Berner Stadtgebiets. Um eine reibungslose Auslieferung zu gewährleisten, reserviert myMigros bei Notime fixe Kapazitäten – zudem koordiniert ein Operation Manager bei Notime speziell die myMigros Auslieferungen. Der Kurier transportiert die Bestellung bis an die Wohnungstüre. Des Weiteren kann der Kunde seine Bestellung auf der letzten Meile zu ihm quasi „live“ verfolgen. Dazu erhält er eine SMS mit Tracking-Link. Ebenfalls hat der Kunde die Möglichkeit, dem Kurier optional Detailinfos zu hinterlassen, was mit der Bestellung passieren soll.
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Live-Tracking auf der letzten Meile
Sollte der Kunde einmal nicht zu Hause sein, wird die Lieferung vor dessen Haustüre deponiert. Als weiterer Service wird Verpackungsmaterial wieder vollumfänglich zurückgenommen.
Fazit
Mit dem Online-Supermarkt myMigros verfolgt die Genossenschaft Migros Aare einen durchaus spannenden Case, der sich fundamental von sämtlichen Mitbewerbern im DACH-Raum unterscheidet: Im Fokus stehen primär nicht nur generelle Kriterien wie ein großes Sortiment oder eine schnelle Lieferung, sondern eine klare Fokussierung auf vollumfängliche Personalisierung sowie einen einfachen und vor allem schnellen Bestellvorgang unter Berücksichtigung der kanalübergreifenden Einkaufshistorie des Kunden. Des Weiteren werden ebenfalls die Cases Citylogistik durch einen Partner sowie Filialpicking aus einem großen Store heraus mit getestet. In jedem Fall lohnt es sich, diesen neuen innovativen Ansatz von myMigros im Lebensmittelonlinehandel weiter zu verfolgen.
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