Bislang trauen sich wenige Lebensmitteleinzelhändler zu, einen Onlineshop zu starten. Erfolgreiche Konzepte? Sehr übersichtlich. Niko Tsiris, Inhaber von elf Naturgut-Geschäften in Stuttgart, hat eine rentable Lösung.

Seit knapp zwei Jahren beliefert Niko Tsiris Kunden täglich – auch mit kühlpflichtiger Frischware. Wer bis morgens 9 Uhr bestellt, wird am Nachmittag zwischen 14 und 22 Uhr beliefert – das Zeitfenster kann der Kunde eingrenzen. „Das klappt einwandfrei“, erklärt der 53-Jährige zufrieden. Dabei ist die Naturkostbranche nicht als Vorreiter in Sachen E-Commerce bekannt. „Wir sind mit Naturgut ziemlich weit vorne“, weiß Tsiris.

1999 eröffnete er seinen ersten Naturkostladen in Stuttgart-Degerloch mit einer Verkaufsfläche von 330 Quadratmetern. Seither hat er in der Schwabenmetropole zehn weitere Filialen eröffnet, sieben in Stuttgarter Stadtteilen, drei weitere in Esslingen, Waiblingen und Leinfelden-Echterdingen. Die Standorte haben eine Größe von 260 bis 600 Quadratmetern – im klassischen Einzelhandel eine aussterbende Größenordnung.

Bioladen als Nahversorger

Auch die Welt und die Kunden des Naturkosthandels haben sich in den letzten 20 Jahren seit der Gründung von Naturgut deutlich verändert. Bio-Supermärkte sind in Städten wie Stuttgart präsent, ursprünglich reine Hersteller wie Alnatura ziehen mit ihren großflächigen Supermärkten in Städte ein. Seit Bio auch bei Discountern Alltag ist, muss sich ein Naturkostladen neu definieren und präzise positionieren.
Das beobachtet Tsiris wachsam. Er ist mit seinen elf Geschäften in der Landeshauptstadt nahezu „flächendeckend“ aufgestellt. Er hat früh eine Kundenkarte eingeführt – und kennt sein Klientel.
Naturgut ist in vielen Stadtteilen Nahversorger. Nico Hoffmann kennt seine Kunden persönlich.
© Iki Kühn
Naturgut ist in vielen Stadtteilen Nahversorger. Nico Hoffmann kennt seine Kunden persönlich.
„Unsere Kunden kommen aus dem direkten Umfeld des jeweiligen Standorts – hier haben wir eine extrem hohe Konzentration. Wir sind nicht nur Bioladen für Biokunden, sondern Nahversorger im jeweiligen Stadtteil“, erklärt er.

Man kennt sich, man hat persönlichen Kontakt. Nahezu von Anfang an lieferte er aus, beispielsweise an Kindergärten – das sei traditionell gewachsen. Ein wichtiger Service, auch wenn damit nichts verdient sei. „Wenn für einen 250 Euro Auftrag zwei Leute eine dreiviertel Stunde beschäftigt sind, kann das nicht funktionieren“, rechnet Tsiris vor.

Die Lösung: Grocery Commerce Cloud

Mit der zunehmenden Digitalisierung und E-Commerce weiß auch Tsiris, dass das veränderte Kaufverhalten vor Biokunden nicht Halt macht – oder positiv ausgedrückt – neue Kundenschichten erschlossen werden können.

In jährlichen Strategiegesprächen zur Weiterentwicklung von Naturgut fiel regelmäßig das Stichwort Online-Shop, und jedes Jahr wurde das Projekt aufgeschoben. Es fehlten praktikable Umsetzungsmöglichkeiten. „Wir hatten dafür keine Struktur“, erklärt der Unternehmer.

Das änderte sich mit dem Kontakt zu Eberhardt Weber. Der Informatiker entwickelte 2012 eine Softwarelösung für Food-E-Commerce und trat mit lieferladen.de direkt den praktischen Beweis  an. Weber baute zunächst in Stuttgart, dann in Ulm einen Lieferservice für Food auf. Seit 2015 vermarktet er die Software unter dem Namen Grocery Commerce Cloud über die SAAS AG, deren Präsident des Verwaltungsrates er ist. Niko Tsiris griff zu.

Das Team von Eberhardt Weber implementierte die Softwarelösung, die die Einrichtung des E-Shop ebenso umfasst, wie die Anbindung an die Warenwirtschaft inklusive Rechnungsstellung und Auswertung. Ergänzend bucht der Naturkosthändler die Logistik samt Auslieferung mit dazu. Jetzt ist die Homepage von Naturgut gleichzeitig auch Online-Shop. Die Artikelstammdaten samt passender Fotos werden von Ecoinform, der zentralen Datenbank für Bioprodukte, übernommen und automatisch aktualisiert.
Bei Naturgut ist die Homepage gleichzeit Online-Shop.
© Naturgut
Bei Naturgut ist die Homepage gleichzeit Online-Shop.
Dem Onlinekunden steht das volle Sortiment zur Verfügung: von frischen Backwaren, über Molkereiprodukte, Trockensortiment, Wasch- und Reinigungsmittel bis zum Toilettenpapier. Wer Ware in sein elektronisches Körbchen sammelt, muss einen Mindestbestellwert von 25 Euro erreichen. Dazu kommt eine Lieferpauschale zwischen 3,90 Euro und 7,90 Euro, abhängig vom gewünschten Lieferzeitraum zwischen Minimum vier und zwei Stunden. Je flexibler der Kunde, umso günstiger die Lieferpauschale. Das werde akzeptiert.

Wer zahlt für die Lieferung?

Anders sieht das Picnic, der aktuell in Neuss und in Kürze in Mönchengladbach beliefert. Geschäftsführer Frederic Knaudt glaubt, dass in der kostenlosen Belieferung der Durchbruch zum Erfolg liegt. Man mag einwenden, dass Biokunden nicht in erster Linie Schnäppchenjäger sind und bereit sind, für Services wie Lieferung zu bezahlen. Doch die Hand dafür ins Feuer legen, möchte man nicht. Denn zu den Öko-Kunden aus Überzeugung haben sich in den letzten Jahrzehnten Lifestyle-Biokunden gesellt.
„Wir erreichen mit unserem Online-Angebot einen ganz neuen Kundenkreis“, erläutert Tsiris. Die digitale Bestellmöglichkeit und die bequeme Lieferung sprechen ganz andere Kunden an als den für seine Geschäfte typischen treuen Kunden. Er ist digital affin, hat Online-Einkäufe in seinem Alltag integriert und findet sich schnell in der Naturgut-Produktwelt zurecht.

Ein Drittel der Online-Kunden ist über 60 Jahre alt

Nein, damit sind nicht die Millenials gemeint. Nur ein Viertel der Käufer sind unter 40 Jahren. Das Gros bewegt sich zwischen 40 und 60 Jahren. Ein gutes Drittel ist jedoch älter als 60 Jahre. Diese ältere Generation ist oftmals mit einem Tablet vertraut und ordert den Wocheneinkauf nach Hause, „oder deren Kinder nutzen den Service für ihre Eltern“, ergänzt Tsiris.

Er hat auch neue Großkunden gewonnen, wie Büros oder Bürogemeinschaften, die quer durchs Sortiment einkaufen – Klassiker sind Kaffee, Früchte inklusive Toilettenpapier. Die bislang schon belieferten Kindergärten sind ihm erhalten geblieben und erzielen heute durchschnittlich einen deutlich höheren Warenkorb von rund plus 80 Prozent. Für Tsiris sehr erfreulich – der elektronische Warenkorb ist deutlich höher als im Geschäft.
Das ist die kalkulatorische Basis für Naturgut.
© Der Handel/SAAS AG
Das ist die kalkulatorische Basis für Naturgut.

Neuer Kundenkreis und höherer Warenkorb mit Online-Shop

Morgens um 9 Uhr liefert das Team von Eberhardt Weber eine sogenannte Picking-Liste. Darauf sind die Stückzahlen pro Artikel verzeichnet. Um den Picking-Prozess optimal zu gestalten, orientieren sich die Listen an der Ladengeographie und der Regalstruktur des Naturgut-Standortes in Sillenbuch. Hier werden die rund 30 bis 40 Aufträge täglich gepickt und in Transportkisten bereit gestellt.

Wurst und Käse scheibenweise

Mit dabei sind auch Produkte aus Bedientheken, inklusive dem frisch vom Bäcker angelieferten Brot. Käse direkt vom Laib kann nicht nur am Stück, sondern scheibenweise geordert werden – nach Wahl „dünn“, „mittel“ oder „dick“. Noch wird davon nur zögernd Gebrauch gemacht. „Top 1 bis 3 sind Milch, Milch, Milch“, erklärt der Filialleiter des Standortes Sillenbuch, Nico Hoffmann, grinsend. Danach folgen Tomatenprodukte, Nudeln und das gesamte Trockensortiment. Obst und Gemüse sind bislang noch unterrepräsentiert.
Mitarbeiter von lieferladen.de holen täglich die gepickte Ware in Sillenbuch ab.
© Iki Kühn
Mitarbeiter von lieferladen.de holen täglich die gepickte Ware in Sillenbuch ab.
Nach einer Dreiviertelstunde ist alles erledigt, dann fährt der Transporter von lieferladen.de vor, der die Kisten abholt und ins Kommissionierzentrum am Großmarkt liefert. Das war's für Niko Tsiris und Nico Hoffmann. Im Großmarkt räumen Mitarbeiter von lieferladen.de die Ware nach Kommissionierlogik und Kühlbedarf direkt ein – und los geht’s. Jetzt werden parallel die Aufträge von lieferladen.de und Naturgut nach Kundenauftrag gepackt – entweder in eine kostenlose Papiertüte oder nach Wunsch in eine Kunststoffbox oder Kühlbox, für die Pfand erhoben werden.
In der Großmarkthalle in Stuttgart werden die Kundenaufträge kommissioniert.
© Iki Kühn
In der Großmarkthalle in Stuttgart werden die Kundenaufträge kommissioniert.
Nicht jedes Produkt ist immer vorrätig. Ist ein Kunde flexibel und nicht auf eine Marke speziell angewiesen, hat er die Möglichkeit, in der Bestellung Alternativen zu vermerken. Ist eine bestimmte Gebindeform nicht vorrätig, liefert Naturgut beispielsweise statt einem 500 Gramm-Joghurt auch zweimal 250 Gramm vom selben Hersteller zum Preis der großen Einheit.

In drei Jahren zum Darkstore

Sind alle Abweichungen im System vermerkt, werden die Rechnungen ausgespuckt. Dann starten die Touren. Künftig soll es möglich werden, das aktualisierte Lieferavis dem Kunden per SMS mitzuteilen. Für dieses Komplettpaket bezahlt Tsiris eine monatliche Lizenz für die Software sowie einen prozentualen Anteil am Umsatz. Jede weitere Dienstleistung wie die Auslieferung ist zudem kostenpflichtig.
Die Kunden haben die Wahl: Papiertüte oder pfandpflichtige Plastikbox. Gekühlte Ware wird in der Thermobox angeliefert.
© Iki Kühn
Die Kunden haben die Wahl: Papiertüte oder pfandpflichtige Plastikbox. Gekühlte Ware wird in der Thermobox angeliefert.
Das Modell trägt sich für den Naturkosthändler – mehr noch nicht. Tsiris ist damit sehr zufrieden, denn die Entscheidung für den Online-Shop ist für ihn vor allem strategisch wichtig. „Wir wollen langsam wachsen, es muss für uns bewältigbar bleiben“, bremst Tsiris. Ihm ist klar, dass der Kunde bei diesem Service keine Fehler duldet. Der Ablauf muss perfekt sein. „Ohne das Paket der SAAS AG könnten wir dies gar nicht anbieten“, ist er überzeugt. Aktuell steuert sein Online-Shop rund 1 Prozent zum Gesamtumsatz bei. In zwei bis drei Jahren schätzt Tsiris, dass sich der Online-Umsatz verdreifacht haben wird, „dann rentiert sich ein Darkstore, also eine Filiale nur für den Online-Shop“, erklärt er.

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